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Emanuela Chiapparini: Ehrliche Unehrlichkeit

Rezensiert von Dr. Mechthild Herberhold, 01.07.2013

Cover Emanuela Chiapparini: Ehrliche Unehrlichkeit ISBN 978-3-86388-006-4

Emanuela Chiapparini: Ehrliche Unehrlichkeit. Eine qualitative Untersuchung der Tugend Ehrlichkeit bei Jugendlichen an der Zürcher Volksschule. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2012. 272 Seiten. ISBN 978-3-86388-006-4. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 41,90 sFr.

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Thema und Entstehungshintergrund

Kann ein Verhalten tatsächlich gleichzeitig ehrlich und unehrlich sein? Solange man beide Begriffe als Antonyme versteht, ruft der Titel des Buches Erstaunen hervor. Für ihre Dissertation hat Emanuela Chiapparini Schülerinnen und Schüler (SuS) aus Abschlussklassen an Zürcher Volksschulen befragt, um sich der (im Schulalltag durchaus relevanten) Tugend Ehrlichkeit aus Sicht der Jugendlichen zu nähern. „Das Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, die Deutung der Tugend Ehrlichkeit aus der Sicht der SuS und ihre gedeuteten Praxen empirisch zu erkunden. Dabei sollen detaillierte Aussagen zu Deutungen von ehrlichen Verhaltensweisen und zu Ehrlichkeitsregeln im Schulalltag und in realen Dilemmasituationen des Schulalltags aus der Sicht von 14- bis 15-jährigen SuS gemacht werden“ (81). Die Autorin verortet die Arbeit in der Schülerforschung; entsprechend lässt sie die SchülerInnen zu Wort kommen und nimmt sie als handelnde Subjekte ernst. Die InterviewpartnerInnen selbst honorieren das Vorhaben der Forscherin, die – anders, als bei Erwachsenen üblich – wissen will, wie die Jugendlichen Situationen sehen (148).

Autorin

Emanuela Chiapparini hat in Zürich Erziehungswissenschaften, Philosophie und Religionswissenschaften studiert. Seit 2010 ist sie als wissenschaftliche Assistentin im Bereich Jugendforschung am soziologischen Institut der Universität Zürich tätig. Sie arbeitet vorwiegend mit qualitativen Methoden, ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Erziehungsphilosophie, Jugend- und Schülerforschung.

Aufbau und Inhalt

Das Werk gliedert sich nach der Einleitung (Kapitel 1) in drei große Hauptteile:

  • „Grundlagen“ (I.),
  • „Ergebnisse“ (II.) und
  • „Diskussion und Ausblick“ (III.),

von denen jeder mehrere Kapitel umfasst.

Das Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis des Datenmaterials sowie ein Anhang zum Aufbau der Interviews und den Transkriptionsregeln schließen die Arbeit ab.

Im I. Hauptteil (33-119) befasst sich Chiapparini zunächst mit dem „Ehrlichkeitsbegriff“ (Kapitel 2). Sie ordnet ihren Forschungsgegenstand ein (Kapitel 3), klärt „Forschungsfrage und Forschungsziel“ (Kapitel 4) und stellt ausführlich die „Methodik der qualitativen Untersuchung“ (Kapitel 5) dar.

Der Begriff Ehrlichkeit ist facettenreich und wird in unterschiedlichen Zusammenhängen bzw. Fachdisziplinen unterschiedlich gefüllt. Die Autorin steckt für ihre Arbeit einen „losen theoretischen Rahmen“ (55) ab. Dabei bezieht sie sich v.a. auf Patricia White, die sich mit Einzeltugenden im schulischen Kontext befasst und Ehrlichkeit als Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Offenheit ausdifferenziert. Weiterhin versteht Chiapparini im Rückgriff auf Robert Spaemann Sekundärtugenden als zunächst indifferent und orientiert sich an Roland Reichenbachs Verständnis von Tugend als moralischer Verhaltensweise.

Chiapparinis „Forschungsinteresse zielt […] darauf ab, subjektive Deutungen von expliziten und impliziten Ehrlichkeitsregeln nachzuzeichnen, an denen sich die Verhaltensweisen der SuS im schulischen Erziehungsalltag orientieren. Ziel ist dabei, die Sicht der Heranwachsenden zu beleuchten, um deren Bedeutung von Ehrlichkeit auf eine vielschichtige Weise aufzuzeigen. Anders ausgedrückt: Es geht darum, wiederzugeben, wie SuS die Tugend Ehrlichkeit im schulischen Erziehungskontext deuten und damit umgehen“ (79f). Dafür hat die Erziehungswissenschaftlerin von März 2008 bis Dezember 2009 in drei Forschungsphasen insgesamt 31 problemzentrierte Interviews und sechs Gruppendiskussionen durchgeführt. Die Ergebnisse der dritten Phase analysiert sie in ihrer Dissertation mit der dokumentarischen Methode.

Im II. Hauptteil (121-225) stellt die Autorin ihre Ergebnisse vor. Ehrlichkeitspraxen zeigen sich fast so vielfältig wie die SchülerInnen, mit denen Chiapparini gesprochen hat. Die Jugendlichen selbst verwenden den Begriff Ehrlichkeit von sich aus nicht und Ehrlichkeit zu umschreiben, fällt ihnen nicht leicht. Anknüpfend an Patricia White formuliert die Forscherin in Kapitel 6 mehrere Ehrlichkeitskategorien: Die SchülerInnen fassen Ehrlichkeit z.T. als „selbstsprechendes Selbstverständnis“ (126) auf, aber auch als Wahrhaftigkeit, als Aufrichtigkeit gegenüber MitschülerInnen, gegenüber LehrerInnen oder in Schultests und schließlich als Offenheit.

Chiapparini identifiziert im Rahmen ihrer Forschungen konventionelle und unkonventionelle Ehrlichkeitsregeln. Die SchülerInnen kennen die konventionellen Ehrlichkeitsregeln, die in der Schule gelten – etwa, in Tests keine unlauteren Hilfsmittel zu verwenden, ungelöste Hausaufgaben nicht zu verheimlichen oder die Unterschrift der Eltern nicht zu fälschen. Wie weit sie diese Ehrlichkeitsregeln als für sich verbindlich akzeptieren bzw. darauf mit eigenen Ehrlichkeitsregeln reagieren (Kapitel 7), hängt allerdings von der Persönlichkeit der LehrerInnen und dem Schulfach ab. Beispielsweise lautet eine Ehrlichkeitsregel „Wenn die Lehrperson nicht kontrolliert, darf geschummelt werden“ (149).

Die unkonventionellen Ehrlichkeitsregeln (Kapitel 8) sind vielschichtig. „Im Spannungsfeld zwischen der Kontrolle der Lehrpersonen und individueller sowie kollegialer Freiheit entwickeln die SuS unterschiedliche Regeln, die sie sowohl explizit als auch implizit beschreiben“ (151). Unter gewissen Bedingungen ziehen die SchülerInnen individuelle Ehrlichkeitsregeln den konventionellen vor. Beispielsweise stufen sie Spickenlassen als Hilfsbereitschaft ein oder sie sehen sich zu einer aufrichtigen Aussage nicht von vornherein, sondern erst durch die Frage der Lehrperson veranlasst. Bei den kollegialen Ehrlichkeitsregeln spielt eine zentrale Rolle, andere nicht zu verpetzen. „Dabei bezieht sich Ehrlichkeit auf Beziehungen zu den Mitschülerinnen und -schülern, die zu schützen sind und denen eine größere Wichtigkeit zukommt als die Ehrlichkeit gegenüber Lehrpersonen“ (180). Unehrlichkeit gegenüber LehrerInnen gilt ebenfalls als zulässig, wenn ein Schüler sich zu einer Tat bekennt, die er gar nicht begangen hat, um die MitschülerInnen vor eine Kollektivstrafe zu bewahren. Manche Ehrlichkeitsregeln geben auch Anlass zur Freude, etwa wenn ein Unterschleif unentdeckt bleibt oder die Lehrperson die Hausaufgaben nicht kontrolliert.

Dass Ehrlichkeitsregeln aus verschiedenen Kontexten miteinander in Konflikt geraten, liegt auf der Hand. Anhand von realen Dilemmasituationen aus dem Schulalltag zeigt Chiapparini auf, wie die befragten SchülerInnen in komplexen Entscheidungsprozessen bestimmte situationsrelevante Ehrlichkeitsregeln auswählen (Kapitel 9). Dabei wird eine starke Beziehungsorientierung deutlich: Im Zentrum der Ehrlichkeitsregeln stehen die beteiligten MitschülerInnen, LehrerInnen, Eltern oder andere Personen.

Kapitel 10 fasst die Ergebnisse des II. Hauptteils zusammen. Im III. Hauptteil diskutiert Chiapparini parallel zum Aufbau der Analyse ihre empirischen Ergebnisse (Kapitel 11) und hält „zentrale Ergebnisse der Arbeit“ (Kapitel 12) fest. Die beiden abschließenden Kapitel nehmen mögliche Folgen und Forschungsdesiderate für die Schüler- und Jugendforschung (Kapitel 13) sowie „Erziehungsanforderungen und theoretisch fundierte sowie praxisorientierte Tugenddebatten“ (Kapitel 14) in den Blick.

Diskussion

Emanuela Chiapparini ermöglicht den LeserInnen einen Einblick in das facettenreiche Ehrlichkeitsverständnis der SchülerInnen und ihre Entscheidungsprozesse. Ehrlichkeit ist für die Jugendlichen durchaus relevant, wenn auch nicht stets mit der gleichen Bedeutung konnotiert und auch nicht in jeder Situation angebracht. So kann eine „unehrliche Verhaltensweise gegenüber dem Lehrer […] gegenüber den Mitschülerinnen und -schülern 'ehrlich' gemeint und damit zulässig“ (13) sein.

Ihr Forschungsvorhaben, die Methode und die Ergebnisse beschreibt Chiapparini detailgenau, belegreich und verständlich. Durch häufige Ich-Formulierungen ist sie durchgehend als Autorin erkennbar. Die zahlreichen Einführungen und Zusammenfassungen der Ergebnisse sind für eilige LeserInnen hilfreich; für diejenigen, die am ganzen Buch interessiert sind, erscheinen sie allerdings redundant.

Originalzitate machen die Perspektive der Jugendlichen anschaulich. LeserInnen, die des Schweizerdeutschen nicht mächtig sind, brauchen etwas Übung, um die Texte zu verstehen. Dieser Umstand sollte jedoch niemanden von der Lektüre abhalten, denn die Forschungsergebnisse sind unabhängig davon spannend zu lesen, und relevante Begriffe aus den Interviews erklärt Chiapparini in ihren Analysen.

Fazit

Zum einen sind Chiapparinis Ausführungen für alle, die mit Jugendlichen arbeiten bzw. leben, ausgesprochen hilfreich. Ihre (im Text durchgehend spürbare) Wertschätzung den SchülerInnen gegenüber und das Vertrauen, das die SchülerInnen der Forscherin entgegenbringen, lassen die Kompetenzen und die Entscheidungsprozesse der Jugendlichen deutlich werden. Mit der Differenzierung zwischen Ehrlichkeitspraxen, Ehrlichkeitskategorien und Ehrlichkeitsregeln unterschiedlicher Zusammenhänge ermutigt die Forscherin, genauer hinzuschauen und Verhalten, das aus Erwachsenensicht unehrlich wirkt, nicht vorschnell oder ausschließlich zu kritisieren.

Zum anderen nehmen die Ergebnisse zwischen den Zeilen die Erwachsenen auch für ihr eigenes Ehrlichkeitsverständnis in die Pflicht. Sie machen deutlich, dass Erwachsene den Kontext der Jugendlichen zu häufig abwerten und deshalb deren subjektive Wirklichkeit nicht verstehen können. Und sie regen an, auch die eigenen Ehrlichkeitspraxen und Ehrlichkeitsregeln jenseits dualistischer Engführungen differenzierter zu betrachten.

Empfohlen sei das Buch allen, die mit Jugendlichen zu tun haben und/oder die sich mit Werten befassen - insbesondere LehrerInnen, (Sozial-)PädagogInnen, EthikerInnen, ErziehungswissenschaftlerInnen und Eltern.

Rezension von
Dr. Mechthild Herberhold
Ethik konkret, Altena (Westf.).
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Es gibt 16 Rezensionen von Mechthild Herberhold.

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ISSN 2190-9245