Andreas Witzel, Herwig Reiter: The Problem-centred Interview
Rezensiert von Dr. Emanuela Chiapparini, 28.03.2013
Andreas Witzel, Herwig Reiter: The Problem-centred Interview.
SAGE Publications, Ltd
(London) 2012.
206 Seiten.
ISBN 978-1-84920-099-8.
Preis: 120.00 Dollar (Listenpreis)
Preis: 75.00 Pound (Listenpreis) .
Thema
Das Buch führt in die Methodologie, Technik und Anwendung der Interviewmethode des problemzentrierten Interviewführung (PCI) ein. Besonderen Wert legen die Autoren auf die detaillierte Darlegung der Technik und der forschungspraktischen Umsetzung der Erhebungsmethode, die durchgehend anhand von Materialbeispielen aus drei ausgewählten Studien veranschaulicht werden.
Entstehungshintergrund
Den englischsprachigen Forschenden sind in den letzten Jahren zahlreiche Methodenansätze zu qualitativer Sozialforschung aus deutschsprachigen Forschungstraditionen zugänglich gemacht worden. In diesen Trend reiht sich das Methodenbuch „The problem-centred interview. Principles and practice“ von Witzel und Reiters ein.
Neben einem englischsprachigen Artikel (Witzel 2000) liegt hiermit eine erste englischsprachige Buchveröffentlichung zur problemzentrierten Interviewführung (PCI) vor. In der zusammenhängenden, systematischen und anwendungsfreundlichen Darstellung der, nach 30jähriger Entwicklung, im deutschen Sprachraum etablierten Erhebungsmethode (Witzel 1982, 1985) liegt eine der Stärken des Buches. Vor dem Hintergrund, dass das PCI bereits in unterschiedlichen Kontexten, Sprachräumen und Wissenschaftsdisziplinen eingesetzt wird und, insbesondere im Zusammenhang der computergestützen Hilfsprogramme, einen grossen Aufschwung erfuhr, kommt vorliegender Veröffentlichung eine zentrale Bedeutung zu.
Aufbau und Inhalt
Methodologische und erkenntnistheoretische Grundlagen des PCIs
Nach einer Einleitung beschäftigt sich das zweite Kapitel mit den methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen des PCI. Trotz einer gestiegenen Relevanz von methodologischer Reflexion in den qualitativen Forschungsmethoden kommt dieser Aspekt in Methodenbüchern oft immer noch zu kurz. Um die epistemologische Einbettung des PCI zu veranschaulichen, knüpfen die Autoren an die Metapher Brinkmanns (2008) an, die auf ein zweifaches Verständnis des Interviewers bzw. auf zwei Typen von Interviewmethoden verweist. Zum einen sei der Interviewer mit einem Minenarbeiter zu vergleichen, der gezielt nach vordefinierten wertvollen Steinen sucht. Zum anderen kann er auch als ein Reisender verstanden werden, der unvoreingenommen neue Länder bereist und entdeckt. Bei ersterem handelt es sich um einen Interviewer, der mit theoriegeleiteten und vorstrukturierten Fragen das Forschungsfeld erkundet. Beim zweiten Typ von Interviewer ist der Zugang zum Forschungsfeld offen und von theoretischem Grundlagenwissen möglichst unvoreingenommen. Diesen zwei Vorstellungen von Interviewführung fügen die Autoren eine dritte hinzu, die die Haltung des Interviewers beim PCI beschreibt. Bei diesem Typ handelt es sich um einen gutinformierten Reisenden, einen Interviewer, der sein Vorwissen offen legt, seine Interviewpartner direkt auf Problemstellungen anspricht und an deren Erfahrungsberichten interessiert ist. Aus diesen Prämissen formulieren die Autoren die Definition des PCI: „Das PCI ist eine qualitative, diskursiv-dialogische Methode, die Wissensbestände über relevante Probleme rekonstruiert“ (S. 4, Gefälligkeitsübersetzung von ECH).
Begriffsdefinition des PCIs
Die Autoren liefern im Weiteren eine nützliche Präzisierung der Bezeichnung PCI insbesondere für das englische Verständnis insofern, als sich die Begriffsbedeutung von „Problem“ missverständlich auf „problematische“ Forschungsgegenstände beziehen könnte, anstelle grundsätzlich auf die Problemstellung eines Forschungsvorhabens. Insofern käme der Formulierung der Forschungsfrage ein wichtiger Stellenwert zu, die auf ein praktisches Wissen zu beziehen und aus der Perspektive der zu Interviewenden zu erkunden sei. An unterschiedlichen Stellen im Buch findet sich der Verweis, wie ausschlaggebend die Ausrichtung der Forschungsfrage für forschungspraktische Entscheide im Verlauf eines Projektes sei, wie beispielsweise bei der Wahl der Auswertungsmethode. Weiter kennzeichnet das Attribut „zentriert“ keine Eingrenzung, sondern meint eine fokussiert-aktive Beteiligung der Befragten mittels Erzählungen und Erfahrungsberichten.
Entstehungsgeschichte und zentrale Prinzipien des PCIs
Die Autoren führen die Entstehung und Entwicklung dieser Interviewmethode in den 1970er und 1980er Jahren auf zentrale Kritikpunkte an der deutschen forschungstheoretischen Tradition zurück, auf die das PCI Antworten zu geben versprach. Erstens, so die Autoren, sei zu berücksichtigen, dass der Mensch, entgegen der damals vorherrschenden Auffassung, nicht als eine Maschine zu betrachten sei, sondern dieser in einer Forschungssituation sein Verhalten ändere. Zweitens würden im Rahmen des narrativen Interviews hohe Anforderungen an den zu Interviewenden gestellt, indem dieser frei und ohne Intervention bzw. selbstlaufend zu berichten habe. Alternativ hierzu bietet das PCI für den Interviewer die Rolle des aktiven Zuhörers und des aktiven Verstehens an, so dass der zu Interviewende in die Antwortfindungen involviert ist und Nachfragen nötig werden. Gerade in Interviewsituationen, die durch eine grosse verbale Zurückhaltung seitens der Interviewpartner gekennzeichnet sind, stellt das PCI eine nützliche Interviewmethode dar, was ich anhand meiner eigenen Forschung zu Ehrlichkeitspraxen bei Jugendlichen der Zürcher Volksschule bestätigen kann (Chiapparini, 2012).
In den beiden nächsten Abschnitten werden die Prinzipien des PCI (Problemzentrierung, Gegenstandsorientierung und Prozessorientierung) übersichtlich erklärt und Reflexionen zu vergleichbaren Interviewtechniken vorgenommen. Insbesondere für Studierende ist damit eine nützliche methodologische Verortung des PCIs gegeben.
Zentrale Forschungsschritte des PCIs
Der Vorbereitung des PCI ist das dritte Kapitel gewidmet, in dem die zentralen Forschungsschritte für Studierende skizziert werden. Da das PCI insbesondere darum bemüht ist, das Vorwissen eines Forschungsinteresses systematisch darzustellen und aufzudecken, erscheint dessen Unterscheidung in Alltagswissen, Kontextwissen und Fachwissen im Hinblick auf die Reflexion der Interviewsituation und anschliessend auf die Interpretation der Aussagen der Interviewpartnern sehr hilfreich.
Das vierte Kapitel fokussiert auf die detaillierte Durchführung des Interviews selbst und erklärt die Funktion und Bedeutung der einzelnen Elemente des Interviewgesprächs, wie Aufwärmfrage oder den Kurzfragebogen. Aufgrund der Veranschaulichung der Gesprächsschritte an Interviewbeispielen ist dieses Kapitel sehr lernfreundlich gestaltet.
Die der Interviewführung folgenden Forschungsschritte werden im nächsten Kapitel vorgestellt: Welche Bedeutung ein Postskriptum hat, wie ausführlich die Audioaufnahmen zu transkribieren sind, welche der vielen Auswertungsmethoden gewählt werden soll und wie mit den zeitlichen und finanziellen Ressourcen umzugehen ist. Die Ausführungen zu den forschungspraktischen Schritten eignen sich jedoch eher für erfahrene Forschende der qualitativen Methoden. Umso zentraler ist für alle anderen das sechste Kapitel, in dem ein vertiefter Einblick in Durchführungsmöglichkeiten des PCI und in dessen Forschungsprozess anhand von zwei Forschungsprojekten gegeben wird.
Fehler und „Fallen“ bei der Anwendung und Durchführung von PCIs
Das letzte Kapitel, als ein originelles Fazit, folgt dem pädagogischen Prinzip „aus Fehlern lernen“. Die Autoren heben die die zentralen Prinzipien des PCI nochmals hervor, indem sie auf mögliche Fehler in dessen Anwendung und Durchführung hinweisen und diese besprechen. Diese Ausführungen berühren gleichzeitig zentrale Aspekte der qualitativen Sozialforschung: das Prinzip der Offenheit gegenüber des Forschungsgegenstandes wird genannt, was sich in offenen Fragestellung ausdrückt; Reflexion des Interviewers auf den zu Interviewenden; intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Auswertung ausgehend von Teamarbeit; der zu Interviewenden ist das Subjekt und der „Experte“, demgegenüber nimmt der Interviewer die Rolle des Lernenden ein; das Interview ist auf der Deutungsebene zu verorten und zu interpretieren.
Diskussion
Die Ausführungen im Buch gehen über die Einführung in das PCI hinaus, weil zentrale Elemente qualitativer Forschung diskutiert werden, die für die Arbeit mit anderen qualitativen Erhebungsmethoden ebenfalls gelten. Zudem behandelt es Interviewtraditionen, die sich im deutschsprachigen Raum etabliert haben und die in internationalen Methodenbüchern noch zu wenig Beachtung finden. Den Entscheid der Autoren speziellere Debatten zur Methodologie, die für die PCI weniger relevant sind, nicht aufzuführen, finde ich nachvollziehbar; hingegen finde ich es schade, dass an das PCI anschlussfähige Auswertungsmethoden nur angedeutet, aber nicht weiter besprochen werden. Dieser Forschungsschritt ist, meiner Auffassung nach, im Zusammenhang des PCI noch zu wenig reflektiert, was die Gefahr mit sich bringt, dass, trotz des auswertungsmethodischen Hinweises zur Kategorienbildung basierend auf der Grounded Theory, sich Einsteiger in die qualitative Forschung bei der Auswertung der Daten allzu schnell auf die empfohlenen, computerbasierten Auswertungsprogramme orientieren und weniger nach fundierten methodologischen und methodischen Reflexionen der Auswertungsmethode und deren Passung zur Forschungsfrage suchen. Darüber hinaus bleibt offen, aufgrund der Sprachgebundenheit der qualitativen Textanalysen, die über die kommunikative Sinnebene hinausgehen und damit ebenso die implizite Deutungsebene zu differenzieren vermögen, inwiefern Übersetzungen von Daten und Tiefeninterpretationen in anderen kulturellen Sprachrahmungen möglich sind und/oder inwiefern allein eine Umbenennung vorliegt.
Fazit
Das Buch ist lesefreundlich, informativ und kompakt strukturiert und gibt einen umfassenden Einblick in die Grundlagen, Anwendungs- und Umsetzungsmöglichkeiten des PCIs. Sowohl Einsteiger als auch erfahrende Forschende der qualitativen Sozialforschung finden darin nützliche Anhaltspunkte und neue Anregungen für vertiefte Benützung des PCIs.
Das Buch liefert einen wichtigen Beitrag zur bestehenden deutschen Literatur zur qualitativen und interdisziplinären Interviewführung und zur derselben im angelsächsischen Raum. Die besondere Stärke des Buches liegt in der anwendungsfreundlichen Forschungsanleitung für PCI und in der methodologischen und epistemologischen Reflexion.
Daher empfehle ich das Buch einer breiten Anwendung.
Literatur
- Brinkmann, S. (2008): lnterviewing. In: Given, L. (Hrsg.): The SAGE Encyclopedia of Qualitative Research Methods. Thousand Oaks, CA.
- Chiapparini, E. (2012): Ehrliche Unehrlichkeit. Eine qualitative Untersuchung zur Tugend Ehrlichkeit bei Jugendlichen an der Zürcher Volksschule. Leverkusen-Opladen.
- Witzel, A. (2000): The problem-centered interview [26 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(1), Art. 22. http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0001228 (7.1.2012).
- Witzel, A. (1985): Das problemzentrierte Interview. In: Jüttemann, G. (Hrsg.): Qualitative Forschung in der Psychologie. Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder. Weinheim, S. 227-255.
- Witzel, A. (1982): Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Überblick und Alternativen. Frankfurt Main.
Rezension von
Dr. Emanuela Chiapparini
Dozentin Master an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, Departement Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Emanuela Chiapparini. Rezension vom 28.03.2013 zu:
Andreas Witzel, Herwig Reiter: The Problem-centred Interview. SAGE Publications, Ltd
(London) 2012.
ISBN 978-1-84920-099-8.
Preis: 120.00 Dollar (Listenpreis)
Preis: 75.00 Pound (Listenpreis) .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14768.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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