Undine Lang: Innovative Psychiatrie mit offenen Türen
Rezensiert von Ilja Ruhl, 16.05.2013

Undine Lang: Innovative Psychiatrie mit offenen Türen. Deeskalation und Partizipation in der Akutpsychiatrie. Springer (Berlin) 2013. 14 Seiten. ISBN 978-3-642-32029-3. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.
Autorin
Prof. Dr. Undine Lang, 1974 in Innsbruck geboren, war vier Jahre als Oberärztin an der Charité Campus Mitte in Berlin tätig. In Dresden arbeitete sie rund zwei Jahre lang, ebenfalls als Oberärztin, auf einer Akutstation. Sie wurde 2005 habilitiert.
Entstehungshintergrund
Psychiatrische Akutstationen mit offenen Türen bilden in Deutschland eher die Ausnahme als die Regel. Das bisherige Festhalten an dieser Praxis, für das auch immer gute Gründe angeführt werden, kann letztlich nur durch Vorreiter und erfolgreiche Gegenbeispiele unterbrochen werden. Lang stellt ihre Erfahrungen und Expertise für ein solches Beispiel in ihrem Buch „Innovative Psychiatrie mit offenen Türen vor“.
Aufbau und Inhalt
Geleitworte. Den eigentlichen Buchkapiteln sind zwei Geleitworte vorangestellt, von denen das eine aus der Feder des Klinikdirektors der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité und das andere von einer Betroffenen und einer Angehörigen stammt. Damit setzt Undine Lang bereits eine trialogische Klammer um ihren Text, der die Bedeutung einer Einbeziehung aller Beteiligten in der Psychiatrie unterstreicht. Das Geleitwort des Klinikleiters enthält einen mahnenden Text, der vor einem Verlust von Humanität und Fachlichkeit vor dem Hintergrund einer zunehmenden Ökonomisierung der Medizin warnt. Von ihren persönlichen Eindrücken einer Akutbehandlung vor 20 Jahren berichtet eine Psychoseerfahrene und macht damit die Wichtigkeit eines Buches über die Öffnung psychiatrischer Akutstationen deutlich.
1. Sicherheit und Therapie: Das Dilemma der Akutstation. Im ersten Kapitel erläutert die Autorin die Problematik des Doppelmandats der Psychiatrie – therapeutisch helfender Anspruch und Schutz der Gesellschaft. Sie plädiert dafür, den Schwerpunkt der Arbeit auf die therapeutische Aspekte zu legen, was wiederum positive Auswirkungen auf die Sicherheit habe. Tatsächliche Sicherheit für und vor Patienten ist aus Langs Perspektive kein Ergebnis von Restriktionen, sondern Ergebnis eines wertschätzendes und bedürfnisorientierten Umgangs mit den Patienten. Ihre Perspektive belegt sie mit einer Vielzahl von empirischen Studien. Außerdem zeigt die Autorin in diesem Kapitel mithilfe einer Patienten-Typisierung etablierte aber problematische Prozedere sowie die jeweils alternativen Vorgehensweisen auf.
2. Therapeutische Skills zur Veränderung der Rahmenbedingungen. Lang stellt im zweiten Kapitel verschiedene therapeutische Skills zur Veränderung von Rahmenbedingungen auf Akutstationen vor. Zu diesen Skills gehören z.B. das Erkennen eigener Grenzen, die Schaffung von Angeboten im Gegensatz zum Aufstellen von Verboten oder die Akzeptanz von Symptomen. Eine Studienübersicht zeigt die Auswirkungen unterschiedlicher Interventionen auf die Aggressivität von Patienten sowie auf die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen. Außerdem geht Lang im Text auf die jeweiligen Studien ausführlich ein und erläutert detailliert die einzelnen Interventionen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der LeserInnen immer wieder auf Aspekte, die vordergründig selbstverständlich erscheinen, in der Praxis aber übersehen werden. Hierzu gehört z.B. die Erkenntnis, dass bei einer Zwangsbehandlung mit einem stärkeren Nozeboeffekt zu rechnen ist als bei freiwilligen therapeutischen Interventionen. Zudem beleuchtet die Autorin die Thematik von Zwangsmaßnahmen aus verschiedenen Perspektiven und konstatiert z.B., dass deren Art eher durch krankenhausspezifische Traditionen geprägt sind und weniger von wissenschaftlicher Evidenz. Ausführlich wird auch darauf eingegangen, wie die Patienten Zwangsmaßnahmen erleben und im Rückblick bewerten. Lang plädiert außerdem für die Implementierung von Psychotherapie auf Akutstationen.
3. Spezielle therapeutische Herausforderungen zur Verbesserung der Behandlungsqualität auf Akutstationen. Das dritte Kapitel widmet sich den therapeutischen Herausforderungen unterschiedlicher Patientengruppen auf Akutstationen. Das Kapitel wird nicht ausschließlich durch Diagnosen strukturiert, vielmehr werden auch diagnoseübergreifende Einzelaspekte (Suizidalität, Intoxikation) ausführlich beleuchtet. Die Autorin geht in den einzelnen Unterabschnitten ausführlich auf die jeweilige evidenzbasierte psychopharmakologische Behandlung ein. Dort, wo eine hohe Evidenz der psychotherapeutischen Verfahren belegt ist, werden diese benannt. Mit der häufig unspezifischen Verabreichung von Psychopharmaka bei demenzerkrankten PatientInnen geht Lang besonders kritisch ins Gericht. Ausführlich befasst sich die Autorin in diesem Kapitel mit den Herausforderungen aufgrund suizidaler PatientInnen auf offenen Stationen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Menschen mit einer (möglichen) Eigengefährdung auf Akutstationen große Verunsicherung im Zusammenhang mit der Öffnung von Stationstüren hervorrufen. Neben einer Übersicht von Forschungsarbeiten zu Suiziden im klinischen Behandlungssetting finden sich in diesem Abschnitt Hinweise zur Einschätzung des Suizidrisikos, sowie Methoden der Intervention bei Suizidalität.
4. Fragen der Personalführung. Das letzte Kapitel stellt verschiedene Aspekte und Methoden der Personalführung vor, die notwendig sind, um in einem akut-psychiatrischen Stationsteam einerseits eine Grundhaltung zu wecken, die die Öffnung der Türen ermöglicht, andererseits aber auch daraus resultierende Belastungen für die MitarbeiterInnen zu verringern. Zu Beginn wird ausführlich auf die Rahmenbedingungen einer guten Teamsupervision eingegangen. Die Autorin weist auf die hohe Bedeutung eines mit der Akutpsychiatrie vertrauten Supervisors hin. Die nächsten Abschnitte befassen sich ausführlich mit dem Thema Burn-Out-Prävention. Der Burn-Out-Problematik schließt sich eine Übersicht mit Skills an, die als Grundvoraussetzung zur Realisierung offener Türen sowie zur „Reduktion von Gewalt“ und zur „Erhöhung der Patientenzufriedenheit“ in der Akutpsychiatrie zu verstehen sind. Das Kapitel endet mit einem Ausblick, der die Behandlungsmechanismen vor und nach einer Türöffnung tabellarisch gegenüberstellt und den Paradigmenwechsel von der traditionellen zur partnerschaftlichen Psychiatrie erörtert.
Diskussion
Im Vergleich mit vielen westeuropäischen Ländern nimmt Deutschland bei den gerichtlichen Zwangseinweisungen eine unrühmliche Spitzenposition ein. Die meisten zwangseingewiesenen Patienten werden in der Regel zunächst auf einer geschlossenen Akutstation untergebracht. Dass die geschlossenen Türen in der Akutpsychiatrie keine Selbstverständlichkeit darstellen und vieles für eine Öffnung spricht, macht Undine Lang zum Thema ihres Buches. Und die Autorin trägt Erstaunliches zusammen: Immerhin 20 Prozent der Entweichungen geschehen aus der Station bei geschlossenen Türen, d.h. es handelt es sich nicht um das Fernbleiben nach einem Ausgang. Eine Studie von Lang selbst zeigt, dass im geöffneten Zeitraum von einer Station weniger PatientInnen entweichen oder sich selbst gegen ärztlichen Rat entlassen, als dies in geschlossenen Phasen geschieht. PatientInnen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, verlassen die Station fast nie, wenn sie wissen, dass ihnen dies jederzeit möglich ist.
Als Konsequenz aus Langs persönlichen Erfahrungen und der Studienlage erscheint die Öffnung der Türen in der Akutpsychiatrie nur logisch. Die Autorin scheut deshalb bei der Bewertung der heute gängigen Praxis auch keine klaren Worte. So schreibt sie z.B. an einer Stelle – wenn auch in Anführungszeichen – von Akutstationen als Minigefängnisse. An anderer Stelle geht sie kritisch auf die zunehmende Biologisierung der Psychiatrie ein. Der Großteil des Buches behandelt die Frage, wie sich das Konzept der offenen Türen praktisch umsetzen lässt. Lang geht zunächst ausführlich und detailliert auf die notwendigen therapeutischen Skills ein, wobei sie hier auch schon mal vom Konkreten abweicht und strukturelle Veränderungen anmahnt, wie die Schaffung von ambulanten Krisenteams. In Zeiten um die Diskussionen über berufliche Belastungen und das Ausbrennen von MitarbeiterInnen ist es beruhigend, dass dem Schutz und den Belangen der MitarbeiterInnen im Text immer wieder Rechnung getragen wird. Lang stellt hierzu eine Vielzahl von Strategien zur Steigerung der Teamzufriedenheit vor.
Mithilfe vieler Fallbeispiele untermauert die Autorin ihre Thesen und illustriert, wie Veränderungen des Stationsklimas konkret auf die PatientInnen wirken können. Von ihr vorgeschlagene Neuerungen, die das Potential haben, liebgewonnene Ansichten und Gewohnheiten zu gefährden, führt sie ausreichend aus. So beschreibt sie z.B. detailliert, warum und vor allem wie suizidale Menschen in einem offenen akutpsychiatrischen Setting behandelt werden können. Auch wenn der Schwerpunkt des Buches auf den Rahmenbedingungen und auf den Skills vor allem der pflegenden MitarbeiterInnen liegt, werden im Kapitel zu speziellen Patientengruppen auch psychopharmakologische Aspekte beleuchtet, wobei die Orientierung an evidenzbasierten Studien stringent beibehalten wird.
Es ist erfrischend zu lesen, mit welch positiver Selbstverständlichkeit Lang alternative Konzepte, wie z.B. das Weglaufhaus in Berlin, nennt und anerkennt. Die Texte werden immer wieder durch übersichtliche Grafiken und nachvollziehbare Tabellen aufgelockert. Im Anschluss an das letzte Kapitel findet sich neben der Literaturübersicht auch ein umfangreiches Stichwortverzeichnis.
Kritisch ist lediglich anzumerken, dass einen immer wieder das Gefühl beschleicht, das gerade Gelesene an anderer Stelle im Buch bereits kennengelernt zu haben. Dies ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass die Autorin ähnliche Aspekte aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Fazit
Was
Lang
in ihrem Buch an Fakten und Handlungsempfehlungen zur Öffnung der
Türen in der Akutpsychiatrie zusammenträgt, ist bemerkenswert.
Trotz mancher Redundanzen innerhalb des Textes findet sich eine Fülle
von Ideen und Vorschlägen, die sowohl für LeserInnen aus der
Ärzteschaft als auch aus den pflegerischen und sozialarbeiterischen
Berufen eine hohe Praxisrelevanz besitzen. Die Autorin unterschlägt
dabei nicht die Bedürfnisse der psychiatrischen MitarbeiterInnen in
einem solchen Veränderungsprozess.
Dem Buch (und den
PatientInnen in der Akutpsychiatrie) ist eine breite LeserInnenschaft
zu wünschen, die sich nicht davor scheut, das Gelesene –
sicherlich mancherorts auch gegen Widerstände – in die Tat
umzusetzen.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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