Burkhard Bierhoff: Kritisch-Humanistische Erziehung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.06.2013
Burkhard Bierhoff: Kritisch-Humanistische Erziehung. Pädagogik nach Erich Fromm.
Centaurus Verlag & Media KG
(Freiburg) 2013.
100 Seiten.
ISBN 978-3-86226-186-4.
D: 8,80 EUR,
A: 8,80 EUR,
CH: 10,00 sFr.
Reihe: Centaurus Paper Apps XL - 25.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-658-12198-3 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Den aufrechten Gang lernen
„Wir sind die (Eine) Welt, und damit beginnt unsere Verantwortung für die (Eine) Welt“ (Daniela Michaelis, Hg., Bildung: integral, Stuttgart 2012, siehe http//www.socialnet.de/rezensionen/ ). Wie die Menschheit Wege aus ihren Miseren, Irrwegen und selbst verschuldeten Katastrophen finden kann, das nehmen sich über Jahrtausende hinweg immer wieder Menschen vor. Es sind Kassandrarufe genauso wie utopische Projektionen und reale Programme. In den Zeiten der sich immer interdependenter, entgrenzender und globalisierender entwickelnden (Einen?) Welt sind es Prognosen, die von den Berichten des Club of Rome bis hin zu den Bestandsaufnahmen zur Lage der Welt des New Yorker World Watch Institute reichen. Allen ist der Appell gemeinsam, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 in ihrem Bericht „Unsere kreative Vielfalt“ als Aufforderung zum Perspektivenwechsel formuliert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“.
In den Kulturwissenschaften hat sich eine Verbrückung von psychologischen, pädagogischen und soziologischen Aspekten vollzogen, die humanistische Bildung und Existenz in der Epoche der Globalisierung als „Selbst-Bildung“ propagiert (vgl. dazu u.a.: Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8537.php; Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10879.php; Jörn Rüsen, Hrsg., Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10385.php; Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php; Jürgen Straub, Hg., Der sich selbst verwirklichende Mensch. Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13888.php).
Autor und Entstehungshintergrund
Der an der Hochschule Lausitz in Cottbus lehrende Erziehungssoziologe Burkhard Bierhoff legt in der kleinen Reihe Centaurus Paper Apps eine Einführung in die kritisch-humanistische Erziehung vor. Mit dem Anspruch, ein „Erziehungs-Manifest“ zu verfassen, zielt der Autor mit dem Büchlein vor allem auf Studierende, Lehrerinnen, Lehrer und Eltern, die über Fragen der paideia (Aristoteles) mehr wissen wollen, als ihnen die Überlieferungen zur Bildung und Erziehung liefern. „Der von der Natur losgerissene (mit Vernunft und Vorstellungsvermögen ausgestattete) Mensch… muss sich eine Vorstellung von sich selbst formen, muss sagen und fühlen können: Ich bin ich“, so formulierte der große alte Mann der Psychoanalyse, Erich Fromm (1900 – 1980) seine Auffassung vom Menschsein: „Der Mensch ist mehr als er ist. Sein ist Werden, Stillstand ist Degeneration“. Dieser Zustand ist Anspruch an das Individuum wie an die Gesellschaft. Logischerweise hat sich daraus die Überzeugung entwickelt, dass ein „Seinsmodus“ mehr ist als eine „Habenmentalität“; und dass die Ergründung dieser Unterschiedlichkeiten eine Bildungs- und Erziehungsaufgabe darstelle. Wem wundert es also, dass Erich Fromms psychoanalytisches Gedankengut Eingang auch in die Pädagogik und Erziehungswissenschaft gefunden hat und für eine „präfigurative Sozialarbeit“ mit dem Anspruch einer gegenwartsbezogenen und zukunftsorientierten Bildungsvermittlung und Selbsterziehung interessante Aspekte liefert.
Weil Bildung und Erziehung immer den Zusammenhang von Erziehung, gesellschaftlicher Wirklichkeit und Überlieferung spiegelt (vgl. dazu: Alex Aßmann, Erziehung als Zumutung und Emanzipationsvorhaben. Eine kleine Einführung in die Pädagogik, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/13846.php), kommt der alten, aber immer wieder neuen und aktuellen Frage nach Erziehen und/oder Wachsen lassen (Theodor Litt) eine unübersehbare und nicht zu ignorierende Bedeutung zu. Wer wollte leugnen, dass die neoliberalen, kapitalistischen „Haben“- Orientierungen Menschsein reduziert auf ein egoistisches Dasein, das der Vorstellung, der anthropos sei ein vernunftbegabtes, gemeinschaftsfähiges und ein gutes Leben anstrebendes Lebewesen, widerspricht.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung, in der Burkhard Bierhoff als Ergebnisse seiner Lehrtätigkeit die Zusammenhänge von Gesellschaft, Identität und Erziehung aufzeigt, wie sie der anthropologischen Auffassung Erich Fromms entsprechen, verweist der Autor auf die aktuelle „Marketing-Orientierung“ und konsumtive Entwicklungen (vgl. auch: Moritz Gekeler, Konsumgut Nachhaltigkeit. Zur Inszensierung neuer Leitmotive in der Produktionskommunikation, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12966.php).
In dieser Bestandsaufnahme einer „Immer-Mehr-Mentalität“ fordert der Frage über die „Natur des Menschen und ihre Zerstörung im Prozess der Erziehung“ eine weitere Aufmerksamkeit: „Ziel der Erziehung ist der Mensch, der sich in seiner Besonderheit und Gesondertheit auch in den anderen erkennt und liebt, im Du spiegelt und als universaler Mensch gattungsgemäße Identität findet“ (kursiv im Original).
„Das Problem der Identität des Menschen“ innerhalb der von Menschenwürde gekennzeichneten Menschheitsfamilie besteht darin, dass Sein und Werden sich nicht (nur) instinktgemäß bestimmt, sondern sich im jeweiligen Sozialisationsprozess ereignet und ein humanes Verhältnis zu sich und zur Welt erst im Entwicklungsverlauf bilden kann (vgl. dazu auch: Frank Dammasch / Martin Teising, Hrsg., Das modernisierte Kind, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14552.php).
Mit Blick auf die Erziehungswirklichkeit spricht der Autor, unter Zuhilfenahme der Frommschen Argumentationen, von einer „Überwältigungspädagogik im Erziehungsprozess“, bei dem Anpassungsforderungen vor denen des Widerstands und des kritischen Denkens stehen (vgl. auch: Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php).
Die „Vision des Neuen Menschen“, wie sie Erich Fromm darlegt, basiert auf der Ermöglichung des „Wachstums des Selbst“, das sich Manipulation und Ausbeutung zu widersetzen vermag. Sie setzt voraus, dass „Wachstum“ als Wachsein und Befreitsein vollziehen kann (siehe dazu auch: Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php).
Der Mensch ist, wie dies in der abendländischen Philosophie definiert wird, ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen, das Kraft seines Verstandes und seines Willens fähig ist, ein gutes Leben in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu führen: „Die zentrale Grundlage für einen humanisierenden Wandel ist die bedingungslose Akzeptanz eines jeden Menschen als Mitglied dieser Gesellschaft“. Umgesetzt auf „Pädagogik und Politik der Zuwendung“ ergibt sich die sozialpolitische Forderung nach einem „bedingungslosen Grundeinkommen, das den Menschen materielle Sicherheit gibt und sie für freiwillige und sinnvolle Tätigkeit im Gemeinwesen freisetzt“ (vgl. dazu auch: Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von "Gier" und "Neid", 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10159.php).
Fazit
Das Manifest ist keine umfassende, auf Einzelheiten eingehende und argumentierende Analyse. Es kann nur ein Diskussionspapier sein, das ausgewählte Fragen und Aspekte einer kritisch-humanistischen Erziehung im Sinne von Erich Fromm andeutet und Zielgruppen für Bildungs- und Erziehungsfragen Anregungen gibt, über menschliches Werden und Sein gemeinschaftlich nachzudenken. Der einleitende Schlüsseltext aus der 12bändigen Erich-Fromm-Gesamtausgabe (1999) gibt die Zielrichtung einer kritisch-humanistischen Erziehung vor: Der Mensch „muss sich ein Identitätsgefühl (das Gefühl seiner selbst), ein Orientierungssystem und ein Objekt für seine Hingabe erst erwerben“ (siehe dazu auch: Christoph Broszies / Henning Hahn, Hrsg., Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10481.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 28.06.2013 zu:
Burkhard Bierhoff: Kritisch-Humanistische Erziehung. Pädagogik nach Erich Fromm. Centaurus Verlag & Media KG
(Freiburg) 2013.
ISBN 978-3-86226-186-4.
Reihe: Centaurus Paper Apps XL - 25.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14818.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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