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Markwart Herzog (Hrsg.): Memorialkultur im Fußballsport

Rezensiert von Matthias Meitzler, 11.04.2013

Cover Markwart  Herzog (Hrsg.): Memorialkultur im Fußballsport ISBN 978-3-17-022554-1

Markwart Herzog (Hrsg.): Memorialkultur im Fußballsport. Medien, Rituale und Praktiken des Erinnerns, Gedenkens und Vergessens. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2013. 447 Seiten. ISBN 978-3-17-022554-1. 29,90 EUR.
Reihe: Irseer Dialoge - Band 17.

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Thema

Tod und Fußball – wie passt das zusammen? Zugegeben, es gibt wohl, zumindest auf den ersten Blick, augenfälligere Assoziationen als jene zwischen der Sepulkralkultur (der Bündelung aller sozialen Umgangsformen mit Sterben, Tod und Trauer) und der Welt des Profisports. Dass beide Thematiken indes nicht per se unvereinbar sind, dafür gibt es einige bemerkenswerte Hinweise: Innerhalb der Fußballfankultur wird zum Beispiel von der Metapher des Todes dann Gebrauch gemacht, wenn der sich in einer schweren (sportlichen oder ökonomischen) Krise befindende Verein von seinen Anhängern symbolisch „zu Grabe getragen“ oder in einer öffentlichen Todesanzeige „betrauert“ wird.

Die westliche Sepulkralkultur befindet sich im Umbruch und bringt derzeit neuartige, alternative und mitunter recht eigensinnige Varianten des Lebensabschieds hervor, die längst auch den Fußballsport erreicht haben. Ein signifikanter Trend besteht darin, dass die Art und Weise, wie der Verstorbene bestattet, wie er verabschiedet und wie an ihn erinnert wird, zunehmend Referenzen auf seine vergangene Lebenswelt offenbart, indem Angehörige jene Dinge betonen, die ihm offenkundig besonders wichtig waren. Einstige Hobbys wie die Zugehörigkeit zu einem Fußballclub scheinen sich für postmortale Sinnzuschreibungen besonders gut zu eignen: Das Vereinsemblem in der Traueranzeige oder auf dem Grabstein, das Lieblingstrikot als „Leichenhemd“, der Sarg bzw. die Urne in Vereinscouleur, die Stadionhymne während der Beisetzung oder der „Meisterrasen“, mit dem das Grab bepflanzt wird, sind nur ein paar von vielen Beispielen, die zeigen, wie ideenreich Fans ihrem Verein nicht nur zu Lebzeiten die Treue halten.

Wie sehr das vermeintliche „Tagesgeschäft“ Fußball mit der modernen Memorialkultur verzahnt ist, unterstreicht nicht zuletzt der 2008 eröffnete „Fanfriedhof“ des Hamburger Sportvereins – ein Novum in Deutschland, dem jüngst auch der FC Schalke 04 gefolgt ist. Während das Personal der Profimannschaften von einer Spielzeit zur nächsten mehr oder minder stark fluktuiert, bietet der Verein als „Wahlfamilie“ ein intergenerationales Identifikationspotential. Jeder Club hat seine eigene Geschichte, die in Chroniken, Jahrbüchern, Mannschaftsfotos etc. festgeschrieben ist; und diese Geschichte existiert nicht einfach, sondern sie muss von Menschen (re-)konstruiert werden. Ob nun individuell oder kollektiv generiert, Erinnerung ist immerzu ein soziales Geschehen, das sich darüber hinaus selektiv vollzieht. Erinnerungssteuerung erfolgt bald mehr, bald weniger bewusst intendiert, indem manche Ereignisse besonders betont, andere dagegen eher vernachlässigt bzw. absichtlich ausgeblendet werden. Was das konkret für die Schnittstelle von Fußballsport und Memorialkultur bedeutet, wird im vorliegenden Band anhand unterschiedlicher Erscheinungsformen untersucht.

Herausgeber

Der 1958 in Heilbronn geborene Markwart Herzog ist Direktor der Schwabenakademie Irsee, einer Einrichtung zur Förderung von Bildung, Kunst und Wissenschaft. Herzog hat Philosophie, Theologie und Kommunikationswissenschaften in München studiert und in Religionsphilosophie promoviert. Als passionierter Anhänger des 1. FC Kaiserslautern interessiert sich Herzog schon seit längerer Zeit für sportbezogene und sepulkrale Phänomene. Hierzu hat er bereits mehrere Publikationen vorgelegt.

Entstehungshintergrund

Es handelt sich um den 17. Band der Schriftenreihe „Irseer Dialoge“, die sich unter interdisziplinärem Fokus diversen kulturwissenschaftlichen Themenfeldern widmet – wobei die Schwerpunkte (Fußball-)Sport, Sterben, Tod und Trauerkultur dominieren. Ausgangspunkt für die Entstehung des Buches ist die zehnte Tagung der von der Schwabenakademie Irsee veranstalteten Reihe „Sterben, Tod und Jenseitsglaube“. Die Tagung wurde von der Kulturstiftung des Deutschen Fußballbundes gefördert und vom Institut für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unterstützt.

Aufbau

Insgesamt umfasst der Sammelband 19 verschiedene Beiträge, die sich über mehr als 400 Seiten erstrecken und unterschiedlichen Themenblöcken zugeordnet sind. Auf zwei einleitende Texte folgen die Bereiche:

  • Vereine und Verbände
  • Fankulturen
  • „Soccer Topophilia“: Stadion und Museum
  • Politische Vereinnahmung und „memoria damnata“

Einige der Beiträge (Anne Eyre, John M. Williams, Dave Russel, Nicholas Piercay) wurden in englischer Sprache verfasst.

Inhalt

Bei aller Forschungsvielfalt, die sich heute konstatieren lässt, ist die Memorialisierung im (Fußball-)Vereinssport, abgesehen von einigen spärlichen Ansätzen, bisher ein eher unentdecktes Thema. Auf diesen Umstand macht der eröffnende Text des Herausgebers Markwart Herzog aufmerksam. Anschaulich liefert der Autor einen weiten Überblick über diverse Formen des sportbezogenen Erinnerns, Gedenkens und Vergessens und bettet diese in historische, politische und soziale Kontexte ein. Zur Sprache kommen unter anderem das Gefallenengedenken, Trauertrikots, Fanfriedhöfe, Choreografien sowie die Schweigeminute, die über eine lange Tradition verfügt und dem vergleichsweise neuartig daher kommenden Stadionphänomen des „minute's applause“ gegenüber gestellt wird. Weil Erinnerung ein von unterschiedlichen Mechanismen gelenkter, selektiver Prozess ist, steht sie immer auch für das Vergessen: „Man muss Geschehenes auslassen, um Geschichte erzählen, man muss vergessen, um erinnern zu können“ (44). Die gezielte Erinnerungsunterbindung, auch unter dem Begriff der „damnatio memoriae“ bekannt, erhält besondere Aufmerksamkeit. Als politisches Instrument im Sinne einer postmortalen Strafjustiz ist sie bereits seit der Antike bekannt. Beispiele sind die Streichung der Namen aus den Annalen, Chroniken, Inschriften und Urkunden oder das Vernichten der Bildnisse „verachteter“ Personen, was deren Exklusion aus dem öffentlichen, kollektiven Gedächtnis bewirken sollte. Wie einige andere Autoren des Sammelbandes befasst sich Herzog vor allem mit der auf jüdische Spieler zur Zeit des Nationalsozialismus (und weit darüber hinaus) angewandten „damnatio memoria“. Auch das Vergessen von Sportlern unter dem SED-Regime wird thematisiert. Nicht immer erzielt eine negative Erinnerungspolitik die intendierte Wirkung, sondern löst mitunter sogar einen gegenteiligen Effekt aus. Sven Güldenpfennig beschäftigt sich in seinem Beitrag kritisch mit dem Verhältnis von Tod und Sport im Allgemeinen und dem Umgang mit toten Sportlern im Besonderen.

Mit je unterschiedlichem Schwerpunkt werden weiterhin Praktiken und Manifestationen der Trauer- und Erinnerungskultur anhand einiger ausgewählter Vereine veranschaulicht: Eintracht Frankfurt (zwei Beiträge dazu von Matthias Thoma), Arminia Bielefeld (Insa Schlumbohm fokussiert den Umgang mit jüdischen Mitgliedern), FC Barcelona (über dessen „Gründervater“ berichtet Christian Eberle), die beiden Glasgower Vereine Celtic und Rangers (hierzu ein weiterer Beitrag von Markwart Herzog, der sich mit den so genannten „commemorative bricks“ und den „memorial walls“ in den Stadien auseinandersetzt) und FC Liverpool (ein Text von Anne Eyre und ein weiterer von John M. Williams). Das Erinnerungsmanagement der Internationalen Föderation des Verbandsfußballs (FIFA) wird anhand ihrer Jubiläumsschriften von Christian Koller analysiert.

Mit der (historischen und modernen) Fußball- und Memorialkultur in England, bekanntlich das „Mutterland“ des Fußballs, befasst sich Dave Russell. Ein besonderes Ereignis der jüngeren Vergangenheit, bei dem der Konnex von Fußballsport und Sepulkralkultur auf besonders eindringliche Weise in Erscheinung tritt, dürfte der Suizid des Hannoveraner Torhüters Robert Enke im November 2009 gewesen sein. Genauere Hintergründe, die Reaktionen von Verein und Fans, die mediale Verarbeitung und die heutige Bedeutung für den Umgang mit Depressionen, diesseits und abseits des Profisports, werden von Hermann Queckenstedt detailliert berichtet.

Einen Blick in die Niederlande wirft Nicholas Piercey, indem er die Stadionkultur in Amsterdam und Rotterdam im Zeitraum von 1910 bis 1920 betrachtet. Das so genannte „Foro Italico“ – ein monumentaler Sportstättenkomplex in Rom – ist Gegenstand des Beitrags von Claudio Miozzari, der sich vor allem mit seiner (Entstehungs-)Geschichte und seiner ideologischen Botschaft beschäftigt. Um die Bronzestatue eines Fußballspielers, die vom italienischen Bildhauer Mario Moschi angefertigt wurde und seit über 75 Jahren im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg steht, dreht sich der Aufsatz von Markus Jager.

Die Geschichte des elsässischen Fußballs und dessen Erinnerungskultur (mit dem Schwerpunkt in den Jahren 1945-1950) untersucht der Text von Bernd Reichelt, während sich Stefan Zwicker mit den böhmischen Ländern, der Tschechoslowakei und der Tschechischen Republik befasst. Thomas Oellermann nimmt mit dem Arbeiterfußball im Sudetenland „ein Phänomen, das aus dem kulturellen Gedächtnis weitgehend verschwunden ist“ (418) unter die Lupe. Und dem bislang noch recht unerforschten Feld des DDR-Fußballs widmen sich Jutta Braun und Michael Barsuhn. Trotz ihres informellen „Marktwertes“ waren „ostdeutsche Fußballsportler im politischen Ernstfall den Eingriffen des Staates ebenso schonungslos ausgeliefert […] wie jeder andere DDR-Bürger“ (421). Dazu gehörte neben Bespitzelung und politischem Dirigismus auch die bereits erwähnte „damnatia memoriae“.

Diskussion

Gibt ein derart originelles Thema überhaupt genügend Material für einen umfangreichen Sammelband her? Nach Lektüre des Buches kann diese Frage durchaus bejaht werden. Auch wenn einige Schwerpunkte in den Beiträgen wiederholt auftreten und damit eine gewisse (vielleicht unvermeidbare?) Redundanz erzeugen, liefert der Band bemerkenswerte Einblicke in bisher wenig erforschte Bereiche. Mit hoher Präzision wurden zahlreiche, oft in Vergessenheit geratene Daten, Fakten und Geschichten zusammen getragen, was dem Buch auch als Nachschlagewerk einen besonderen Wert verleiht. Seine unterschiedlichen Aufsätze machen einmal mehr deutlich, dass sich die Entwicklung des Profifußballs und die vereinstypischen Besonderheiten nicht losgelöst von einer allumfassenden sozialen, politischen und historischen Rahmung betrachten lassen. Und so erfährt der Leser nicht nur von den verfeinerten Techniken des Erinnerns und Vergessens innerhalb des Sportgeschehens, sondern auch von den jeweiligen Hintergründen, vor denen sie sich abspiel(t)en und mit deren Hilfe sich ihr Wirken besser verstehen lässt. Fundiert demonstriert der Band anhand seiner zahlreichen Einzelthemen die enge Verbundenheit von Sport und Memorialkultur. Nicht zuletzt sind die vielen (aktuellen, aber auch beinahe hundert Jahre alten) Fotografien, die das Geschilderte veranschaulichen, der Erwähnung wert.

Bei allem Lob, welches der Akribie der Recherchen zugesprochen werden muss, könnte andererseits gerade hierdurch die Gefahr entstehen, dass sich ein mit der Fußballwelt weniger vertrauter Leser das eine oder andere Mal in der Fülle der Jahreszahlen, Vereins- und Spielernamen verliert und über teilweise langatmig anmutende Textpassagen stolpert. Manche Beiträge, die vor allem eine deskriptive Faktendarlegung bieten, hätten durch noch intensivere, kritische Reflexionen an Format gewinnen können. Zudem hätte man gerne mehr über die Autoren und deren Fachgebiete erfahren, denn das wäre einer besseren Einordnung und Nachvollziehbarkeit ihrer Argumentationen dienlich gewesen. – Das Verzeichnis im Anhang fällt leider erstaunlich knapp aus.

Fazit

Kenntnisreich bietet der Sammelband eine beeindruckende, präzise recherchierte Fülle von Fakten, Ereignissen und Hintergründen im Kontext des Fußballsports und der sozialen Mechanismen des Erinnerns und Vergessens. Ein durchaus empfehlenswertes Buch – nicht nur für Freunde des runden Leders.

Rezension von
Matthias Meitzler
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Es gibt 14 Rezensionen von Matthias Meitzler.

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ISSN 2190-9245