Harald Goll (Hrsg.): Kinder mit Anenzephalie und ihre Familien
Rezensiert von Dr. Tobias Bernasconi, 26.03.2013

Harald Goll (Hrsg.): Kinder mit Anenzephalie und ihre Familien. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2009. 262 Seiten. ISBN 978-3-7815-1663-2. 18,90 EUR.
Thema
Die Beiträge des Herausgeberwerks nähern sich aus interdisziplinärer Perspektive dem Themenbereich ‚Kinder mit Anenzephalie‘. Dabei geht es den Herausgebern zum einen darum, das Thema Anenzephalie, was das Fehlen des Großhirns bedeutet, durch Beiträge aus der Medizin, der Philosophie, der Sonderpädagogik und auch der theologischen Ethik genauerer zu beleuchten. Zum anderen wird der Blick betroffener Eltern und Angehöriger in den Fokus gerückt.
Herausgeberteam
Die Herausgeber des Buches verdeutlichen den interdisziplinären Anspruch des Werkes:
- Prof. Dr. Harald Goll lehrt Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung an der Universität Erfurt im Fachgebiet Sonder- und Sozialpädagogik,
- Monika Jaquier ist Mutter eines mit Anenzephalie geborenen Kindes und Betreiberin eines mehrsprachigen Internet-Portals zum Thema Anenzephalie und
- Prof. Dr. Josef Römelt lehrt Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt.
Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen und Autoren des Buches sind Vertreter der Sonderpädagogik, der Medizin, der Neurowissenschaften und der Psychologie. Des Weiteren haben neben der Herausgeberin andere betroffene Mütter Beiträge über ihre persönlichen Erfahrungen mit einem Kind mit Anenzephalie geschrieben.
Entstehungshintergrund
Seit 2003 besteht an der Universität Erfurt eine Forschungskooperation zum Thema Anenzephalie zwischen dem Lehrstuhl für Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät und dem Lehrstuhl für Moraltheologie und Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät. Gemeinsam mit betroffenen Eltern wurden regionale Expertengespräche und seit 2004 jährlich stattfindende internationale Tagungen zur Situation von Kindern mit Anenzephalie und deren Familien durchgeführt.
Forschungsarbeiten zum Thema Anenzephalie liegen vorwiegend aus dem Bereich der Medizin vor. Das Buch möchte mit einem interdisziplinären Blick den akademischen Diskurs zum Phänomen Anenzephalie erweitern und dabei die aus Sicht der Herausgeber vernachlässigte Perspektive der Eltern einbinden.
Anliegen des Werkes ist somit die Vernetzung von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen sowie den Erfahrungen der Eltern die ein Kind mit Anenzephalie geboren haben.
Aufbau und Inhalt
In einem ersten thematischen Abschnitt wird das Thema ‚Kinder mit Anenzephalie‘ unter medizinischen Aspekten mit Blick auf Symptomatik, Prognose und Kompetenzen der Kinder bearbeitet.
Zunächst stellt Gerhard Neuhäuser die Teratologie und ihre Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte des Menschen dar. Nach der Darstellung der historischen Entwicklung der Disziplin kommt er zu dem Schluss, dass „Missbildungen“ vielfach als Sensation empfunden wurden, gleichzeitig jedoch auch Anlass gaben, um über ihre Ursachen nachzudenken und diese in Studien und Analysen zu beurteilen.
Im Anschluss wird vom gleichen Autor in einem weiteren Beitrag die Frage nach der Erlebnisfähigkeit von Kindern mit Anenzephalie gestellt. Dabei werden medizinische Studien zur Schädigung unter Einbezug der natürlichen Entwicklung des Gehirns im Embryonalstadium vorgestellt und mit Studienergebnissen bei Kindern mit Anenzephalie verglichen. Auch der Verhaltensbeobachtung wird ein großer Teil eingeräumt, in dem deutlich gemacht wird, dass die Kompetenzen der Kinder durchaus unterschiedlich sind und teilweise ein anderes Bild als die medizinischen Studien zeigen. Das Fazit des Autors unterstreicht, dass Kindern mit Anenzephalie nicht grundsätzlich die Fähigkeit zu Bewusstsein abgesprochen werden sollte. Mit Blick auf neuere Studienergebnisse sollte vielmehr in Betracht gezogen werden, dass auch ohne Cortex Bewusstsein bzw. emotionale Reaktionen möglich sind.
Andreas Zieger nähert sich aus beziehungsmedizinischer Sicht der Schädigung Anenzephalie, die er als menschenmögliche ‚Seinsweise‘ betitelt. Er skizziert eine Position, welche sich kritisch mit einem rein neurowissenschaftlichen Zugang zur Anenzephalie-Problematik auseinandersetzt. Im Gegensatz zu einem Verständnis, welches im Gehirn Bewusstsein, Verstand und letztendlich ‚Sein‘ des Menschen verortet (Kortikozentrismus), wird das Gehirn hier als „soziales Organ“ gesehen, welches auf Dialog angewiesen ist, um sich über sich selbst bewusst zu werden, bzw. zu empfinden. Es folgt ein Vergleich zwischen dem vor- und nachgeburtlichen Verhalten von Kindern mit und ohne Anenzephalie mit der Schlussfolgerung, dass auch Kinder mit Anenzephalie von vertrauten sozialen Signalen und Zuwendung profitieren, auch wenn es sich dabei um rein palliative Maßnahmen handelt. Die Position versteht sich als Gegenentwurf zu einem utilitaristischen Blick und Umgang mit Kindern mit Anenzephalie.
Hans von Lüpke versucht im Folgenden eine verbindende wissenschaftliche Grundlage für weitere Forschung zu entwickeln. Er zeigt auf, dass sich verschiedene Disziplinen (hier die Medizin und die Heil- und Sonderpädagogik) wechselseitig hinsichtlich der Weiterentwicklung von Theorien beeinflussen können, wenn bisherige Erkenntnisse unter Einbezug einer ‚fachfremden‘ Perspektive erneut reflektiert werden.
Im Folgendenunternehmen Dieter Grösche und Florian Nüßlein in ihren jeweiligen Beiträgen den Versuch, sich Kindern mit Anenzephalie aus erkenntnistheoretischer Sicht zu nähern.
Dabei thematisiert Dieter Grösche in seinem Beitrag zunächst Fragen hinsichtlich der Zweckrationalisierung in der Sozialethik und -politik, dem Trend in der Familienpolitik, Kinder als Humankapital zu sehen, und in Bezug auf eine biopolitische Bemächtigung des Menschen. Er folgert aus seinen Darstellungen, dass Kinder mit Anenzephalie nicht nur in der Heil- und Sonderpädagogik, sondern grundsätzlich im Sinne einer „Ethik der Anerkennung“ als Teil der menschlichen Gemeinschaft anzusehen sind.
Florian Nüßlein betrachtet das Thema Anenzephalie aus leibphänomenologischer Sicht und stellt dabei den Personenbegriff in den Mittelpunkt. Er macht deutlich, dass die Anerkennung von Kindern mit Anenzephalie als Person durch die medizinische Praxis durchaus gefährdet ist und dass dadurch eine zentrale Aufgabe – die des „Fürsprechens“ – von Heil- und Sonderpädagogik erwächst.
Der zweite Themenkomplex des Buches befasst sich mit der Sicht von Eltern mit einem Kind mit Anenzephalie. Dabei wird eine deutlich im Widerspruch zur medizinischen Sicht stehende Perspektive dargestellt, die Kinder mit Anenzephalie in das System Familie integriert. In diesem Zusammenhang werden Überlegungen skizziert, wie das kurze Leben gemeinsam und in Würde gestaltet werden kann.
Monika Jaquier macht in ihrem Beitrag durch vielfältige Zitate aus Erlebnisberichten deutlich, wie sich die Mutter-Kind-Bindung bei Babys mit Anenzephalie entwickelt und wie angehende Eltern die Zeit mit ihrem Kind planen und gestalten. Zudem rückt sie den Blick auf die vorgeburtliche Phase und zeigt, dass für Eltern von Kindern mit Anenzephalie die Gestaltung des gemeinsamen Lebens bereits in intensiver Weise in der Schwangerschaft beginnt.
Sylvia Koch präsentiert in ihrem Beitrag die Ergebnisse einer internationalen Studie zu den prä- und postnatalen Fähigkeiten von Kindern mit Anenzephalie, in der die Eltern als Experten befragt wurden. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Kinder mit Anenzephalie vielfach emotionale Reaktionen zeigen, welche man ihnen aufgrund der Schwere der Schädigung eigentlich nicht zugetraut hätte. Zudem gibt sie einen Überblick über Wünsche für die konkrete Gestaltung der Lebenszeit der Kinder aus Sicht der Eltern.
Das Buch schließt mit zwei unterschiedlichen Erfahrungsberichten. Zunächst stellt Renate Vogler ihre Geschichte mit ihrem Sohn Elias in sehr persönlicher Weise dar. Anschließend werden die Erfahrungen mit dem Befund Anenzephalie von Margot Grötte-El Fartoukh geschildert. Dabei wird das eigene Erleben verhaltenstherapeutisch gedeutet und dabei Innen- und Außensicht auf das Phänomen Anenzephalie beschrieben und verglichen.
Diskussion
Das Buch von Goll, Jaquier und Römelt kann als bedeutendes und in seiner Art einzigartiges Werk zum Thema Anenzephalie betrachtet werden. Man merkt, dass die Herausgeber sich seit mehreren Jahren intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt und so eine vielfältige und gelungene Mischung an Beiträgen in ihrem Buch verbunden haben. Der Aufbau erscheint schlüssig, indem Faktenwissen vorangestellt, dieses aus unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Denkweisen beleuchtet und schließlich durch die Erfahrungen von Eltern ‚fassbarer‘ gemacht wird.
Der nachvollziehbare interdisziplinäre Ansatz ist bereichernd für die Diskussion, weitaus wichtiger ist aber der Einbezug der betroffenen Eltern zu sehen. Diese kommen hier nicht nur ‚am Rande‘ oder als Teilnehmer von Befragungen zu Wort, sondern schildern in ihren Beiträgen eine eindringliche und persönliche Sichtweise auf Kinder mit Anenzephalie, welche für den wissenschaftlichen Diskurs durchaus eine Anreicherung sein kann. Auch mit Blick auf weitere Forschung wird deutlich, dass den Eltern eine gewichtige Rolle als Experten ihrer Kinder zukommt.
Medizinisch gesehen ist Anenzephalie die schwerste Hirnschädigung ohne Aussicht auf Heilung. Durch die Verbindung des Blickes der Eltern auf ‚ihr‘ Kind mit ethischen, medizinischen und philosophischen Überlegungen gelingt es dem Buch jedoch, Anenzephalie nicht lediglich als Syndrom darzustellen, sondern vielmehr Kinder mit Anenzephalie als Menschen in ihrem familiären Kontext zu sehen. Das dabei das wissenschaftliche und theoretische Niveau hoch ist und nicht nur ‚Beiwerk‘ der persönlichen Erfahrungsberichte ist besonders positiv anzumerken.
Fazit
‚Kinder mit Anenzephalie und ihre Familien‘ schließt und dokumentiert eine Forschungslücke, indem die schwere Hirnschädigung interdisziplinär in einem medizinischen, philosophischen, pädagogischen und persönlichen Diskurs beleuchtet wird. Dabei wird ein eindringliches und vielschichtiges Bild gezeichnet, welches medizinische Fakten und Forschungsergebnisse mit philosophischen Überlegungen und sonderpädagogischen Grundannahmen (Empowerment) aufeinander bezieht. Erfahrungsberichte von betroffenen Eltern werden mit der wissenschaftlichen Diskussion verknüpft und verdeutlichen die dargestellten Erkenntnisse und Überlegungen.
Das Buch eignet sich sowohl für Einsteiger und Interessierte in die Thematik, als auch zur tiefergehenden erkenntnistheoretischen Reflexion zum Phänomen Anenzephalie.
Rezension von
Dr. Tobias Bernasconi
Universität zu Köln
Humanwissenschaftliche Fakultät
Pädagogik und Rehabilitation bei Menschen
mit geistiger und schwerer Behinderung
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