Wolf Ritscher: Bildungsarbeit an den Orten nationalsozialistischen Terrors
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Jochen Fuchs, 27.06.2014

Wolf Ritscher: Bildungsarbeit an den Orten nationalsozialistischen Terrors - „Erziehung nach, in und über Auschwitz hinaus“. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2013. 474 Seiten. ISBN 978-3-7799-2884-3. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 66,90 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7799-3700-5 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Wolf Ritscher hat – ausweislich seiner einführenden Worte – den „Versuch einer Gesamtdarstellung historisch-politischer Bildungsarbeit in Gedenkstätten des NS-Terrors mit einem speziellen Blick auf die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau“ (S. 16) vorgelegt.
Autor
Bei dem Autor handelt es sich um einen inzwischen emeritierten Professor für Psychologie der Hochschule Esslingen, wo er bis 2011 an der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege lehrte. Hatte Ritscher während seiner aktiven Zeit in Esslingen vor allem zu Themen der Sozialen Arbeit mit einem gewissen Schwerpunkt auf die Systemische Therapie publiziert, so nutzte er seine ‚Versetzung in den (Un-)Ruhestand‘ dazu, sich der „Erziehung nach, in und über Auschwitz hinaus“ – wie der Untertitel seines Buches lautet – in umfassender Weise zu widmen.
Entstehungshintergrund
Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass ein dem systemischen Ansatz nahestehender Psychologe sich ‚plötzlich‘ mit einem Thema beschäftigt, welches traditionell eher in die Domäne von Erziehungswissenschaftlern, Pädagogen oder auch Historikern fällt. Für Ritscher stellt ‚Auschwitz‘ gleichwohl kein völlig neues Thema dar. Er hat sich nicht nur bereits seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts u.a. mit den (sozial-)psychologischen und familiendynamischen Folgen des Faschismus im Rahmen seiner Publikationstätigkeit beschäftigt, sondern auch das 1983 an der damaligen „Hochschule für Sozialwesen“ von Kurt Senne gegründete Projekt „Erziehung nach Auschwitz“, welches Dozenten und Studenten der Sozialen Arbeit zusammen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen seither betreiben, (S. 343) mit geleitet. Ferner betätigte er sich als Mitglied des Stiftungsrates der in Oświęcim von ASF ( „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“) 1986 aufgebauten Internationalen Jugendbegegnungsstätte IJBS, so dass er auf nicht gerade geringe praktische Erfahrungen mit der Bildungsarbeit ‚vor Ort‘ zurückblicken kann.
Aufbau
Das 474 Seiten umfassende Werk gliedert sich in insgesamt drei Teilen, wobei die Teile I und II aus jeweils vier und Teil III aus zwei Kapiteln bestehen.
Während Ritscher im 1. Teil in modifizierender Anlehnung an die von Raul Hilberg entwickelte Klassifizierung der Menschen im Herrschaftsbereich der deutschen Faschisten in Täter, Opfer und Zuschauer einen Überblick über die bislang vorliegenden Erkenntnisse zu „TäterInnen, Verfolgte, Ermordete, Überlebende (Opfer), Menschen im Widerstand, ZuschauerInnen“ (S. 18) gibt, widmet er sich im II. Teil den „Gedenkstätten und der Bildungsarbeit am historischen Ort: Kontexte, Konzepte, Perspektiven“ im Allgemeinen.
In Teil III erfolgt dann nach einer Darstellung der Geschichte des faschistischen Lagersystems unter besonderer Berücksichtigung von Auschwitz (Kap. 9, S. 296 ff.) die Schilderung des Projekts „Erziehung nach Auschwitz“ und seiner Bildungsarbeit in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau als ein konkretes Beispiel für das von Ritscher unter Berufung auf Johann Heinrich Pestalozzi geforderte ‚Lernen mit Kopf, Herz und Hand‘ in der Gedenkstättenpädagogik (Kap. 10, S. 343 ff.).
‚Eingerahmt‘ wird der Hauptteil des Buches durch eine kurze Einführung, in welcher neben den üblichen Danksagungen eine Abklärung und Diskussion zentraler Begriffe (z.B. „Endlösung der Judenfrage“, „Shoah“ und „Holocaust“ S.13 f.) erfolgt sowie Ritscher sein mit diesem Buch verfolgtes Anliegen kurz skizziert (S. 15 f.) und einen zweiseitigen, mit „Zweifel und Hoffnung“ untertitelter Epilog (S. 446 f.), der mit dem folgenden, die engagierte aber gleichzeitig auch abgeklärte Haltung des Autors zum Ausdruck bringenden Hannah-Arendt-Zitat endet: „Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, daß es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzuwarten, was sich daraus ergibt.“
Inhalt
Im Kap. 1 wird im ‚Aufgalopp‘ problematisiert, wer denn nun alles als Täter zu gelten habe. In Abgrenzung zur ‚herrschenden Meinung‘ vor allem in der Frühzeit der BRD, wonach grundsätzlich nur die Spitzen der faschistischen Bewegung dazu gezählt wurden, während die Mehrzahl der Volksgenossen wahlweise als durch Täuschung verführte oder unter Gewaltandrohung gezwungene Mitläufer eingestuft wurden, wirft Ritscher die Frage auf, ob dieser Kreis nicht viel weiter zu ziehen sei und bspw. auch Lokomotivführer von Deportationszügen, an der Asozialenregistrierung beteiligte Fürsorgerinnen oder selbst Eltern, die rassistische Vorurteile an ihre Kinder vermittelten, zu ihnen zu zählen sind. [1] In diesem Zusammenhang gut gelungen ist ihm das differenzierende Bild der Wehrmachtsangehörigen, die sich jenseits des von Tucholsky benannten Umstands, dass sie ja schon qua Soldatenstatus als Mörder eingestuft werden können, „unterschiedliche Schuldhaftigkeiten“ (S. 25) vorzuweisen haben – je nachdem, ob sie etwa wie Keitel für die Durchsetzung des Kommissar-Befehls Sorge trugen, ‚nur‘ im Rahmen von Kampfhandlungen ein sowjetisches Dorf dem Erdboden gleich machten, im Einzelfall wie etwa Max Liedke Menschen retteten oder wenigstens desertierten. Ritscher begnügt sich allerdings nicht damit, seine eigene Sichtweise darzustellen, sondern referiert in hervorragender Weise sowohl den von Hilberg entwickelten Ansatz („historisch-soziologisch-phänomenologische Perspektive“, S. 25 ff.) wie auch den von Browning und Welzer („psychologische Perspektive“, S. 32 ff.) – einschließlich der Experimente von Milgram und Zimbardo (S. 39 ff.). In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass Ritscher sich dabei insbesondere insoweit verdient macht, dass er in seiner Darstellungen nicht abstrakt bleibt, sondern sie jeweils durch gut ausgewählte konkrete Beispiele auf breiter Basis illustriert. [2]
Kap. 1 wird abgeschlossen durch eine Abhandlung, in deren Zentrum familiendynamisch-transgenerationale Fragen stehen (S. 55 ff.) und die – bezogen auf das Thema des Kapitels – eher den Charakter eines Exkurses hat, dessen Relevanz sich für den nicht systemisch geschulten Rezensenten nicht auf den ersten Blick ergibt.
Im 2. Kapitel stehen die Opfer des Faschismus im Mittelpunkt. Ritscher beschränkt sich dabei nicht nur auf die aus rassistisch-biologistischen Vorurteilen verfolgte Menschen, also Juden, Sinti und Roma (S. 69 ff), sondern bezieht die „Unangepassten und dem Normalitätsdiktat entgegenstehende Menschen“ (S. 92 ff), also Wohnungslose, Bettler, Landfahrer, Prostituierte, Alkoholiker, Arbeitslose, Homosexuelle, Zwangssterilisierte und meist in Anstalten oder Heimen wie in Hadamar oder im Kalmenhof bzw. in Kinderfachabteilungen wie in Brandenburg-Görden Ermordete mit ein. Generell wird sich dabei in lobenswerter Weise um Differenzierung bemüht, wobei auch ansonsten gern tabuisierte Themen wie etwa das der privilegierten Judenräte bzw. -älteste und deren Polizeikräfte nicht ausgespart werden. In diesem Zusammenhang auch lesenswert ist die regional unterschiedlich „streng“ gehandhabte Homosexuellenverfolgung (S. 105). Insgesamt beschränkt sich der Autor nicht auf die Zeit zwischen 1933 und 1945, sondern widmet sich auch dem historischen Background der Verfolgung und der Fortwirkung negativer Stereotypie über den 8. Mai 1945 hinaus bis in die Gegenwart hinein (vgl. bspw. zum Antizyganismus S. 84 ff.).
Im folgenden Kapitel geht es dann um die ‚Kämpfer gegen den Faschismus‘, also die Menschen im Widerstand, wobei sich das Spektrum vom parteipolitischen (vor allem KPD und sozialistische bzw. sozialdemokratische Gruppen) über den militärischen und religiösen Widerstand bis hin zu den „Frauen von der Rosenstraße“ (S. 130 f.) erstreckt. Ritscher legt dabei insbesondere Wert darauf, bislang eher vergessene bzw. von den Historikern der BRD stiefmütterlich behandelte bzw. sogar nachträglich verleumdete Kämpfer ausführlicher zu würdigen, während er den ‚üblichen Verdächtigten‘ wie etwa den Attentätern des 20. Julis 1944 nur wenige Zeilen widmet. Insofern verdankt man ihm eine relativ detaillierte Darstellung der der „Roten Kapelle“ zugeordneten Gruppen, der Zeugen Jehovas und der im Stadtguerillastil in Krakow und Umgebung aktiven Organisationen Iskra und Akiba. Was den polnischen Widerstand insgesamt anbelangt, so gibt er einen kurzen Überblick und verschweigt dabei auch nicht die partielle bzw. prinzipielle antisemitische Ausrichtung der Kampforganisationen des bürgerlich/nationalistischen Lagers (AK oder „Heimatarmee“ bzw. NZS oder „Nationale Streitkräfte“). In der kapitelbeschließenden „psychologische(n) Skizze“ (S. 159 f.), die etwas sehr skizzenhaft ausgefallen ist – und insofern auch entbehrlich gewesen wäre, wird dieser Aspekt ebenfalls noch einmal aufgegriffen.
Unter Zugrundelegung von Hilbergs Klassifizierungen der sieben Typen von „Zuschauer“ (S. 161 ff.), also all derjenigen, die weder Täter noch Opfer der Shoah waren - und nicht ohne eine Hinterfragung dieses Konzepts unter Verweis auf ‚im Graubereich‘ angesiedelte Einzelfälle (S. 162) – sucht Ritscher u.a. eine Erklärung für die in den von den Faschisten besetzten Ländern sehr unterschiedliche Deportationsquote, fragt nach den großen und kleinen Arisierungsgewinnlern – im Reich und auch in den besetzten Gebieten, diskutiert die Frage an, warum die Alliierten während des Krieges nur so verhalten auf die Shoah reagierten und beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Strömungen in den christlichen Kirchen im Verhältnis zum Faschismus. Letzteren Abschnitt beschließt – im Bemühen „zu zeigen, dass die Realität zumeist facettenreicher ist als es ihre Beschreibungen wiedergeben“ (S. 173) – der ‚Fall‘ des Metropoliten der oströmischen Kirche in der Region Lwow Andrej Septyckyi: „Er begrüßte zunächst den Einmarsch der Deutschen im Sommer 1941, da er hoffte, dass durch die Niederlage der stalinistischen Sowjetunion ein selbstständiger ukrainischer Nationalstaat mit christlichem Hintergrund entstehen könnte. Wegen der schnell einsetzenden Verfolgung der Juden ging er aber bald auf Distanz zu den Besatzern, und machte dies in Hirtenbriefen auch öffentlich, die von der Besatzungsbehörde beschlagnahmt worden waren. Er schrieb deshalb im Sommer 1942 einen – natürlich erfolglosen – Brief an Himmler und Ende August 1942 wandte er sich direkt an Papst Pius XII. Dessen Antwort war ausweichend – wie seine ganze Politik; er riet ihm »das Widrige mit ruhiger Geduld zu ertragen« (Hilberg 1992, S. 292).“ (S. 173).
Im Auftaktkapitel des II. Teils geht es unter dem Aspekt der Vorbedingungen des Werdens der aktuellen ‚Gedenkstättenlandschaft‘ um die „Auseinandersetzungen“ mit der faschistischen Zeit nach 1945 unter den Stichworten „Unfähigkeit zu trauern“, „Verweigerung von Erinnerung und Verantwortung“ ( S. 179), „Wiedergutmachung“ (S. 180 ff.) einerseits und um die „Formen einer verantwortungsbereiten Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld“ (S. 188 ff.) andererseits.
Nach Ritschers Auffassung scheint es neben dem ‚antifaschistischem Grundauftrag‘ des GG, dem Wirken antifaschistisch gesinnter Überlebender bzw. Emigranten wie etwa Kogon, Langbein, Mannheimer und Haffner sowie einer Reihe historischer Ereignisse wie etwa der Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle, dem Eichmann- und dem Auschwitz-Prozess, Reden Bendas und v. Weizsäckers, der Ausstrahlung von „Holocaust“ etc. zu verdanken sein, dass trotz anfänglich erheblicher Widerstände eine letztlich überwiegend erfolgreich zu bewertende „Integration des »Dritten Reiches« in das kommunikative und kollektive Gedächtnis“ (S. 193) hatte stattfinden können und die „Verantwortungsübernahme“ inzwischen nicht nur „mehrheitsfähig ist“, sondern auch „Eingang in die offizielle Regierungspolitik“ gefunden hat.
(Weitaus weniger gnädig geht der Autor dagegen mit der DDR um: Er gesteht zwar zu, dass man östlich der Elbe bereits Jahrzehnte vor der BRD über drei große und viele kleinere Gedenkstätten verfügte, scheint aber gleichwohl der Auffassung zu sein, dass dort kein ‚richtiges‘ Gedenken stattgefunden hätte. Jedenfalls beschließt er den kurzen und sehr oberflächlich gehaltenen Abschnitt, der den Titel „Erinnerung und Gedenkstätten in der DDR“ hat, mit der Feststellung: „Man kann in diesem Sinne von einer Funktionalisierung des Gedenkens und der Erinnerung durch Staat und Einheitspartei sprechen.“ (S. 194).)
Um seine den ersten Teil des Kapitels in Beschlag nehmenden oft eher abstrakten Ausführungen zu konkretisieren, wird nun die Entwicklung der KZ-Gedenkstätte Dachau einschließlich ihrer Vorgeschichte als Internierungslager für SS-Mitglieder, mögliches ‚Lager für Asoziale‘, Lager für Umsiedler und Militärgelände der US-Army zur ‚Bebilderung‘ herangezogen. Besonders lesenswert sind dabei der Abschnitt über den ‚Kampf‘ der Religionen um eine „architektonische Sakralisierung des Gedenkens“ (S. 200 ff.) einerseits und die Schilderungen der ‚Abwehrmaßnahmen‘ der Stadt Dachau gegen einen Ausbau der Gedenkstätte (S. 204 ff.) andererseits, nicht zu vergessen die Präsentation der Einsatzmöglichkeiten von CS-Gas gegen Demonstranten durch die Bereitschaftspolizei auf dem von ihr vereinnahmten ehemaligen Lagergelände (S. 206). Das Kapitel endet mit einer Diskussion zur möglicherweise drohenden Historisierung und zur politisch-historischen Bildung in Gedenkstätten, in welcher der Autor abschließend folgende Forderung aufstellt: „Die Auseinandersetzung mit Auschwitz muss über Auschwitz hinausführen, indem es auch um die Frage von Ethik und Moral in der heutigen Politik und Gesellschaft geht, aber: Auschwitz darf nicht dafür funktionalisiert werden.“ In diesem Zusammenhang führt Ritscher als ein Negativbeispiel die Instrumentalisierung von Auschwitz in den „aktuellen Debatten zur israelischen Besatzungs-, Enteignungs- und Embargopolitik in den palästinensischen Gebieten“ an und beklagt, dass „politische Kritik an der offiziellen israelischen Politik (…) von ihren Verteidigern fast schon reflexhaft als »Antisemitismus« und damit als moralische Unanständigkeit klassifiziert“ (S. 222) wird.
Im Kap. 6 setzt sich der Autor dann mit Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ in Bezug auf die Gedenkstättenarbeit auseinander, wobei er zu dem Schluss kommt, dass es basierend auf der Forderung „dass Auschwitz nicht sich wiederhole“ wünschenswert wäre, „dass der Besuch einer Gedenkstätte zu politischem Handeln und Engagement anregt“ (S. 228). Gleichwohl wendet er sich strikt gegen den Einsatz von „Druck, Angst, vorgefertigten Schablonen und festgelegten Arbeitszielen“ (S. 228) durch die Pädagogen ebenso wie er dafür plädiert, auch „Entscheidungen von Jugendlichen und Erwachsenen gegen Erinnern und Gedenken“ zu respektieren, da eine „Gedenkstättenfahrt als pädagogische Zwangsaufklärung, Gedenken ohne innere Beteiligung und Präsenz, Auschwitz als abfragbares Prüfungsthema (…) im Sinne einer »Erziehung zur Mündigkeit« kontraproduktiv“ (S. 229) sind.
In den beiden Teil II des Buches abschließenden Kapiteln beschäftigt sich Ritscher mit der Bildungsarbeit in Gedenkstätten unter ebendiesem Aspekt. In Kap. 7 wird die letztlich mit einem „ja“ beantwortete Frage gestellt, ob denn auch weiterhin noch erinnert werden muss, wobei in diesem Zusammenhang begrüßenswerterweise u.a. auch die Positionen von Walser und Finkelstein vorgestellt werden. Anschließend geht es um das „Wie“ des Gedenkens, wobei eine Lanze für eine ritualisierte Form desselben gebrochen wird. Als Umsetzungsbeispiel wird dann der Ablauf eines solchen Rituals am Mahnmal im Abschnitt B II e (ehemaliges Zigeunerlager) entwickelt (S. 236 f.). Eingehend auf den Funktionswandel der Gedenkstätten wird ausgeführt, dass die Orte, die ursprünglich primär dem Mahnen und Gedenken verpflichtet waren, nunmehr nicht mehr nur als Gedenkorte, sondern auch als historische Orte, Lernorte und mitunter auch als Begegnungsorte fungieren (S. 241 f.). Insofern wird an ihnen nicht nur historisches Wissen vermittelt, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung der Besucher steht im Blickfeld der Gedenkstättenpädagogik. Diese steht allerdings vor dem Problem, dass die Besuchergruppen nicht nur aus sehr unterschiedlichen Lebensbereichen kommen, sondern auch vom Stand ihres Vorwissens, ihrer Vorbereitung und der vorgesehenen Dauer ihres Aufenthalts her recht heterogen sind. Insofern müssen die ortsbezogenen Themen der jeweiligen Gedenkstätten (z. B. Medizinexperimente in einigen Lagern) je nach der Lebenswelt, den Interessen und den Motiven der Besucher in ihrer Behandlung variiert bzw. um allgemeine Themen wie etwa Menschenrechtsbildung ergänzt und Faktoren wie etwa eine multikulturelle Zusammensetzung der Gruppe berücksichtigt werden.
Auch die Zeitzeugenproblematik wird von Ritscher ausführlich erörtert (S. 261 ff. sowie S. 285) – sowohl hinsichtlich der Vorbehalte gegenüber der Oral History als einer wegen ihrer Subjektivität und Variabilität nicht verlässlichen Quelle, als auch unter dem Stichwort des ‚Verlustes der Zeitzeugen‘. Die von ihm erörterten Lösungsansätze angesichts des Verlustes der Zeitzeugen diskutieren aber leider nicht die Möglichkeiten, die sich durch die Nutzung ausgefeilter Angebote wie etwa „Zwangsarbeit 1939 – 1945“ (vgl. www.zwangsarbeit-archiv.de) oder „Zeugen der Shoah“ (vgl. www.zeugendershoah.de) ergeben.
Im 8. Kap. werden diverse einschlägige Methoden und Konzepte für die Praxis der Gedenkstättenarbeit vorgestellt und erörtert (S. 273 ff.): Gruppenarbeit/Workshop, selbstentdeckende/geführte Rundgänge, Archiv- und Bibliotheksarbeit, Ausstellungsrundgänge (geführt/individuell), Zeitzeugen-/Expertengespräche sowie Arbeiten im Bereich Erhaltung/Kunst. Es wird auch nicht vergessen, die insbesondere bei längeren Gedenkstättenfahrten hohe Relevanz des Faktors „Freizeit“ (S. 294) zu betonen.
Der aus Kap. 9 und 10 gebildete Teil III des Buches ist primär eine beispielhafte Darstellung der vom Autor im Rahmen des Projekts „Erziehung nach Auschwitz“ geleisteten Bildungsarbeit. Hier wird die Umsetzung der in den vorangegangenen Kapiteln theoretisch entwickelten und begründeten Methoden und Konzepte in partiell protokollartiger Form dargestellt. Da die Gedenkstättenfahrten dieses Projekts Auschwitz zum Ziel hatten, nimmt Ritscher dies zum Anlass, im einleitenden Kapitel die Geschichte des Lagers auf dem Hintergrund der Entwicklung des Systems der Konzentrationslager zu skizzieren. Der für den selbstgeleiteten Rundgang der Teilnehmer entwickelte Leitfaden erfasst mit seinen auf historischen Quellen/Zeitzeugenaussagen basierenden Beschreibungen lückenlos die zentralen ‚Punkte‘ [3] sowohl des Stammlagers (Auschwitz I) wie auch Birkenaus (Auschwitz II).
Auf S. 410 ff. wird ferner die bürokratische Struktur des Lagers sowie die von den einzelnen Abteilungen produzierten und sich im Archiv befindlichen Dokumente vorgestellt, wobei man sich auch hier einmal mehr um eine ‚Illustration‘ bemüht hat, indem einzelne Dokumente beispielgebend abgedruckt werden.
Beispiele für mögliche Projekte zu einschlägigen Themen, zu Erhaltungs- und Kunstprojekten bilden den Abschluss. Leider verabsäumt der Verfasser analog zu seinem ‚Leitfaden‘ durch das Lager auch einen ‚Leitfaden‘ durch die Stadt Oświęcim zu präsentieren – der von ihm entwickelte ‚Quiz‘ (S. 444 f.) ist dafür nur ein wenig befriedigender Ersatz.
Diskussion
Grundsätzlich ist festzustellen, dass es Ritscher gelungen ist, ein sehr lesenswertes Buch, das aus drei Teilen besteht, vorzulegen. Meiner Auffassung nach wäre es allerdings besser gewesen, er hätte die einzelnen Teile separat publiziert und sie mit einem Titel versehen, der den jeweiligen Schwerpunkt klar zum Ausdruck bringt. Nachdem man das Buch gelesen hat, kann man feststellen, dass der Inhalt sich unter dem Titel „Bildungsarbeit an den Orten nationalsozialistischen Terrors – »Erziehung nach, in und über Auschwitz hinaus«“ subsumieren lässt. Liest man jedoch nur den Titel, so fällt es schwer zu erahnen, was einen in dem Buch (pardon: den Büchern) eigentlich erwartet. Diese Aufteilung in drei einzelne Bände wäre auch deshalb anzuraten, weil die einzelnen Teile unterschiedliche Zielgruppen haben.
Fangen wir mit dem 3. Teil an: Hier hat der Autor ein überaus nützliches ‚Manual‘ für all diejenigen geschrieben, die mit Gruppen Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz unternehmen und dabei mehrere Tage in Oświęcim zu logieren gedenken. Für die Vorbereitung einer Gedenkstättenfahrt dorthin hat es einen unschätzbaren Wert. Man wird nicht nur detailliert darüber informiert, was einen dort erwartet, sondern erhält auch noch Vorschläge, welche Projekte möglich bzw. welche Methoden einsetzbar sind, unschätzbar ist dies nicht nur für absolute ‚Neulinge‘, sondern durchaus auch für diejenigen, die zwar schon mehrfach eine Gedenkstättenfahrt dorthin unternommen haben, allerdings nicht alle Möglichkeiten, die das Staatliche Museum Auschwitz und der Ort zu bieten haben, entdecken konnten. Als Beispiel sei hier etwa auf die „Alte Judenrampe“ (S. 409) verwiesen, die wohl nicht zuletzt aufgrund der medialen Hegemonie der ‚aus Film und Fernsehen‘ bekannten Rampe hinter dem Tor von Birkenau praktisch ‚vergessen‘ ist und zudem kaum ‚geführt‘ wird – ungeachtet des Umstands, dass sie rein quantitativ gesehen eine größere Bedeutung als ‚DIE‘ Rampe hatte. Für alle diejenigen, die Bildungsarbeit an ANDEREN Orten als Auschwitz machen, ist dieser Teil des Buches allerdings absolut nutzlos. Wer nicht nach Oświęcim kommt, der kann auch die Information über den Archivbestand (S. 410 ff.) des Staatlichen Museums Auschwitz nicht verwerten, da Archivalien grundsätzlich am Ort verbleiben und nicht einmal im Wege der Fernleihe in die Hand zu bekommen sind.
Ganz anders dagegen sieht es grundsätzlich für den 1. Teil des Buches i.V.m. dem im 2. Teil enthaltenen Kapitel 5 aus. Hier hat der Autor eine ‚Steilvorlage‘ für all diejenigen, die überhaupt antifaschistische Bildungsarbeit betreiben, geliefert. Nicht nur die, die eine Gedenkstättenfahrt unternehmen, sondern alle, die sich in der Bildungsarbeit mit dem Faschismus beschäftigen, können von der zwar komprimierten, gleichwohl aber die meisten wesentlichen Themen und aktuelle Diskussionen berücksichtigende Darstellung profitieren. Zwar werden die ökonomischen Hintergründe eher etwas stiefmütterlich behandelt, was Anhänger des Diktums „Wer von Auschwitz reden will, der darf vom Kapitalismus nicht schweigen.“ sicher nicht goutieren dürften, und nicht jeder mag die Auffassung teilen, dass es „ein basales Gefühl für Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit“ (Stierlin 1971), das sich aus dem »Ur-Vertrauen« entwickelt (Erikson 1973) und »sichere Bindung« (Grossmann u. Grossmann 2004) hervorbringt“ (S. 23) sind, die ein probates Hindernis auf dem Weg eines Menschen zum ‚Täter-Sein‘ darstellen, doch sind dies in den Augen des Rezensenten eher ‚lässliche Sünden‘.
In den Kap. 6 bis 8 (S. 223 – 294) des II. Teils seines Werkes beschäftigt sich Ritscher grundsätzlich mit der Frage, wie der „Auftrag Adornos an die Erziehung“ (S. 223) – also die „Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“ – im Bereich der Gedenkstättenpädagogik – insbesondere bei der Bildungsarbeit in den Gedenkstätten erfüllt werden kann.
Dieser Teil dürfte für den ‚Praktiker‘ eher weniger hilfreich sein, da hier theoretische Erörterungen im Vordergrund stehen. Gleichwohl sind einige Gedanken und Erörterungen durchaus auch für diesen lesens- und beachtenswert. So kommt der Autor etwa auf S. 229 zu einem Schluss, den insbesondere Veranstalter von Gedenkstättenfahrten in ‚geschlossenen Zwangsverbänden‘, also etwa Lehrer, die mit ihrer gesamten Schulklasse eine Gedenkstätte besuchen, beherzigen sollten: „Eine Gedenkstättenfahrt als pädagogische Zwangsaufklärung, Gedenken ohne innere Beteiligung und Präsenz, Auschwitz als abfragbares Prüfungsthema sind im Sinne einer »Erziehung zur Mündigkeit« kontraproduktiv. Eine solche Pädagogik verstärkt Widerstände, wo es sie doch gerade abzubauen gilt.“ Dies gilt ferner auch für die Behandlung des Komplexes Oral History/Zeitzeugengespräche (S. 262 ff. und S. 284 ff.). Das von ihm gelieferte Beispiel verdeutlicht in hervorragender Weise die zu beachtende Problematik dieser Quelle – ohne sie, wie dies doch einige Historiker tendenziell tun, in toto zu ‚verdammen‘: Demnach berichten ehemalige Häftlinge übereinstimmend von einer relativen Verbesserung ihrer Situation in Dachau ab September 1942. Da zu diesem Zeitpunkt Martin Weiß neuer Kommandant dieses Konzentrationslagers wurde, stellen sie in der Regel einen Kausalzusammenhang mit dieser Personalie her, so dass Weiß aus subjektiver Sicht dieser Zeitzeugen ein ‚gutes Zeugnis‘ ausgestellt bekommt. Die ‚wahre‘ – für die Häftlinge allerdings nicht erkennbare – Ursache für diese Änderung des Lagerregimes stellte allerdings nicht der Kommandantenwechsel dar, sondern eine Order des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, wonach die Häftlinge zur Bewahrung ihrer Arbeitskraft in einer sie ‚schonenderen‘ Weise eingesetzt werden sollten. Diese Anweisung basierte allerdings nicht etwa auf einer plötzlichen ‚Infektion‘ der SS-Führung mit einem Virus von ‚Humanitätsduselei‘, sondern auf den Erfolgen der Roten Armee, welche die Faschisten dazu zwang, eine noch größere Zahl von „Volksgenossen“ zum Kriegsdienst einzu- und von ihren Arbeitsplätzen abzuberufen, so dass man die dadurch entstandene Lücke durch den Einsatz von Sklavenarbeitern u.a. aus den Lagern zu schließen gedachte (vgl. S. 285).
Was die formale Seite anbelangt, so treten hierbei erhebliche Schwächen zutage. Dem Werk hätte ein Stichwortverzeichnis gutgetan. Jenseits dieser wünschenswerten Verbesserung zur Erhöhung der Nutzerfreundlichkeit, deren Unterlassung aber noch zu den ‚lässlichen Sünden‘ zu zählen ist, stellt die Schludrigkeit des Beltz Juventa Verlags was der nahezu gänzliche Verzicht auf ein ordentliches Lektorat angeht eine wahre Todsünde dar. So präsentiert der Verlag, der sich ja eigentlich wahrlich eines gewissen Renommees erfreuen kann, dem Leser ein Buch, welches fast 50 EUR kostet, in welchem diesem u.a. von „Muzeums“ (S. 265), „Journalsitin“ (S. 133), „Lokalahistoriker“ (S. 125) sowie „dem Ende des »Dritten Deutschen Reiches«“ (S. 90) und dem „Zuchthaus Hale“ (S. 136) gekündet wird. Ferner mutieren Pakete zu „Pakte“ (S. 40), aus gescheitert wird „gescheiter“ (S. 75), aus seien „seinen“ (S. 85) und aus kleine Kinder stehlen „kleine Kinderstehlen“ (S. 85). Nicht Christopher R. Brownings Buch über das Polizeireserve-Bataillon 101 macht Furore, sondern ein Buch eines dem Rezensenten bislang unbekannt gebliebenen Autors „Browing“ (S. 32). Anstelle eines dort bestehenden Arbeitshauses taucht wenige Seiten später ein „bestehende n Arbeitshauses“ (S. 102) auf. Das Grundgesetz verfügt zwar noch im Text über Artikel, nicht aber mehr in der Fußnote 53: auf unerklärliche Weise wird plötzlich ein Paragraph „zunehmend beschnitten“ (S. 189) – und dies, obwohl das Grundgesetz im Bereich des Asylrechts nur eine einschneidende Änderung erfahren hat. Auf S. 88 wird das Grundgesetz in einer ganz anderen Weise malträtiert: Trotz Art. 79 II i.V.m. Art. 20 GG kommt es 1971 gar zur Ausrufung eines Deutschen Kaiserreiches und den Sinti und Roma gelingt das Kunststück, durch die Besetzung Österreichs und des Sudetenlandes ihre Zahl von „ca. 15 000 bis 30 000“ auf „ca. 30 000“ (S. 88) zu steigern.
Manche Wörter sind zwar nicht falsch geschrieben, sie fehlen ‚dafür‘ ganz – so etwa auf S. 163 oder S. 125. Auch Zeichen- und Grammatikfehler sind keine Ausnahme (z.B. S. 172, 85, 93, 75 bzw. S. 91, 85, 105, 125). Im Verhältnis dazu sind Fehler, die eher dem Autor allein anzulasten sind (siehe etwa S. 77: 1 Milliarde Reichsmark des Jahres 1938 entsprach sicherlich nicht nur einer Kaufkraft von 10 Millionen Euro, sondern mindestens 3, wenn nicht gar 5 Milliarden Euro oder die Einstufung der Menschenversuche im Auftrag des Militärs auf S. 247 als „pseudomedizinische Experimente“ [4]), eher selten. Ärgerlich ist allerdings zum einen die uneinheitliche Zitierweise, welcher sich der Autor befleißigt (vgl. bspw. S. 60 f. oder S. 90), und zum anderen die Angewohnheit, selbst relativ gut verfügbare Titel nicht direkt zu zitieren, sondern sich mit einem „zit. nach“ zu begnügen (vgl. bspw. S. 92 und S. 185).
Fazit
Trotz der hier monierten Mängel, die zukünftig abzustellen der Verlag sich unbedingt entschließen sollte, überwiegen die Vorzüge des Werkes bei weitem. Schön wäre es insbesondere, wenn sich die eine oder andere Landeszentrale für politische Bildung und/oder die Bundeszentrale für politische Bildung dazu durchringen könnten, ‚Auskoppelungen‘ des Buches als Sonderauflage herauszubringen. Insbesondere (zukünftige) Leitungsteams von Gedenkstättenfahrten würden es ihnen sicher zu danken wissen.
[1] Leider verzichtet er darauf, in seine Überlegungen diejenigen Kapitalisten, die die Faschisten maßgeblich finanziert haben, mit einzubeziehen.
[2] Vgl. dazu etwa S. 40 ff. zur „Kameraderie“.
[3] Dieser umfasst auch das in nicht wenigen Darstellungen des Lagers unterschlagene Bordell im Block 24.
[4] Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die USA im Rahmen der „Aktion Paperclip“ Ärzte, die an pseudowissenschaftlichen Experimenten beteiligt waren, ihrer Strafe entzogen hätten. Vielmehr waren die US-Amerikaner an den wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert, die jene Ärzte mit Hilfe ihrer in Konzentrationslagern wie Dachau durchgeführten Menschenversuchen gewonnen hatten.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Jochen Fuchs
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