Georg Auernheimer: Einführung in die interkulturelle Pädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Veronika Fischer, 24.09.2013
Georg Auernheimer: Einführung in die interkulturelle Pädagogik.
wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft
(Darmstadt) 2012.
7., überarb. Auflage.
178 Seiten.
ISBN 978-3-534-25721-8.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR,
CH: 26,90 sFr.
Reihe: Einführung Erziehungswissenschaft.
Thema
Mit der in siebter Auflage 2012 erschienenen „Einführung in die interkulturelle Pädagogik“ legt der Autor Georg Auernheimer eine weitgehend aktualisierte und neubearbeitete Version seines Buchs vor, die aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen - insbesondere einer neuen Migrationspolitik – und neuer theoretischer Ansätze in der Fachdiskussion nötig wurde (vgl. Vorwort zur 7. Auflage). Die verschiedenen Auflagen des Buchs spiegeln die Entwicklung eines Fachgebiets wider, das sich erst im Zuge der 1990er Jahre entwickelt hat. Als die erste Auflage im Jahr 1990 unter dem Titel „Einführung in die interkulturelle Erziehung“ erschien, konnte man noch nicht – so Auernheimer – von einem eigenständigen pädagogischen Fachgebiet sprechen. Erst in der Folgezeit wurden dessen Konturen deutlicher, hat sich die Interkulturelle Pädagogik aufgrund von Forschungen, wissenschaftlichen Diskussionen und hochschuldidaktischen Entwicklungen als Fachgebiet ausdifferenziert, sind eigene Lehrstühle und Institute in den Hochschulen und eine Kommission in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft etabliert worden. Georg Auernheimer kann als ein Pionier auf dem Gebiet der Interkulturellen Pädagogik bezeichnet werden. Er hat die Entwicklung von ihren Wurzeln bis heute verfolgt und in den verschiedenen Auflagen seines Buchs dokumentiert, analysiert und kritisch bewertet. Dass er die „Einführung in die interkulturelle Pädagogik“ in den vergangenen Jahren immer wieder überarbeitet und erweitert hat, erlaubt einen Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung eines Fachgebiets, an dem sich ebenfalls gesellschaftliche Prozesse, insbesondere solche der Migrations- und Integrationspolitik, ablesen lassen.
Autor und Entstehungshintergrund
Georg Auernheimer war von 1972 bis 1995 Professor für Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, wo er sich nach Umwidmung seiner Stelle bis 1995 schwerpunktmäßig mit Fragen der interkulturellen Sozialisationsforschung auseinandergesetzt hat. Im Oktober 1995 wechselte er an die Universität Köln, wo er eine Professur für interkulturelle Pädagogik übernimmt und später die Forschungsstelle für Interkulturelle Studien (FiSt) mitbegründet. Seit Februar 2005 ist er im Ruhestand; zahlreiche Publikationen, die er in der Folgezeit verfasst hat, spiegeln eine kontinuierliche rege wissenschaftliche Tätigkeit wider.
Wie ein roter Faden durchziehen Themen, die im Zusammenhang mit Migration als gesellschaftlicher Herausforderung für die Pädagogik zu sehen sind, seine Veröffentlichungen: u.a.
- Pädagogik in multikulturellen Gesellschaften (1996),
- Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen (2001),
- Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (2002, 3. Aufl. 2010),
- Schieflagen im Bildungssystem (2003, 3. Aufl. 2008).
Auf seiner Website schildert G. Auernheimer, wie er zur interkulturellen Pädagogik und zu seiner wissenschaftlichen Position gekommen ist. Nachdem er bereits in den 1970er Jahren mit Studierenden an der Uni Marburg außerschulische Lernhilfen für Migrantenkinder entwickelt und 1984 dann das „Handwörterbuch zur Ausländerarbeit“ herausgegeben hat, folgte in den 1990er Jahren die Beschäftigung mit Fragen der interkulturellen Programmatik. Er weist darauf hin, dass dies durchaus in kritischer Absicht geschah, „um der damaligen Tendenz zur kulturalistischen Problemdefinition entgegen zu treten, ohne aber die kulturelle Dimension völlig verkennen zu wollen“. Diese Intention wird vor allem in der Ausgabe der Zeitschrift „Erwägen Wissen Ethik“ (2010) deutlich herausgearbeitet, in der Auernheimer einen Grundsatzartikel zu seiner Position schreibt und Kritiker wie Befürworter Gelegenheit erhalten, sich dazu zu äußern.
Aufbau und Inhalte
Das Buch ist in sieben Kapitel, Literaturverzeichnis und Register unterteilt. Die Grobgliederung wurde im Wesentlichen seit der dritten Auflage (2003) beibehalten. Hinzugekommen ist das Kapitel Migrationspädagogik, das dem Aufgabenfeld der „Integrationshilfen“ gewidmet ist und auf die staatliche Migrationspolitik Bezug nimmt, die u.a. im Zuwanderungsgesetz und Nationalen Integrationsplan zum Ausdruck gekommen ist.
1. Interkulturelle Bildung und Erziehung – eine junge Idee. Hier geht Auernheimer auf die gesellschaftlichen Anlässe ein, die zur Entstehung und Weiterentwicklung des Fachs führten. Er nennt drei Herausforderungen, zum einen Migration und „Multikulturalität“ der Gesellschaft; zum anderen die europäische Vereinigung und schließlich die Herausbildung der Weltgesellschaft mit ihrer kulturellen Vielfalt (S. 9ff.). Im Anschluss daran erläutert er die Leitmotive der Interkulturellen Pädagogik, nämlich „das Eintreten für die Gleichheit aller ungeachtet der Herkunft“ und die „Haltung des Respekts für Andersheit“. Übergreifende Ziele interkultureller Bildung seien demnach die Befähigung zum interkulturellen Verstehen und die Befähigung zum interkulturellen Dialog (S. 20). Da man im Bereich der interkulturellen Bildungsarbeit stets mit dem möglichen Vorwurf einer inkorrekten Sprachverwendung konfrontiert sei, behandelt Auernheimer im Kapitel 1.3 die Auseinandersetzung um „korrekte Sprache“ und stellt u.a. den Beitrag radikaler Sprachkritikerinnen wie Deborah Cameron (1996) heraus, die erfolgreich Begriffe „politisiert“ und damit Impulse für einen reflektierteren Sprachgebrauch gegeben hätten (S. 25). Weitere Unterkapitel thematisieren „Interkulturelle Erziehung im internationalen Vergleich“ (Kap. 1.4) und förderliche sowie hinderliche Rahmenbedingungen für die Umsetzung interkultureller Pädagogik in den pädagogischen Einrichtungen. Letztere werden vor allem durch die Bildungspolitik (auch durch Innen- und Sozialpolitik) sowie die Strukturen des Bildungssystems gesetzt.
2. Interkulturelle Pädagogik. Nachdem die
Entstehungsgeschichte des relativ jungen Fachgebiets im ersten
Kapitel dargelegt worden ist, wird im zweiten Kapitel der
„Diskussionsverlauf“ seit 1970“ nachgezeichnet und auf neue
Themen seit Mitte der 1990er Jahre verwiesen wie „interkulturelle
Kompetenz als ‚Schlüsselkompetenz‘“ und „Diversity“ als
pädagogische Metaperspektive. In diesem Zusammenhang warnt
Auernheimer davor, den Diversity-Ansatz überzubewerten; er
könne nicht die Interkulturelle Pädagogik und andere Spezialgebiete
der Pädagogik, die sich mit so unterschiedlichen Differenzlinien wie
etwa Gender, Behinderung, Alter, sexuelle Orientierung beschäftigten,
ersetzen. Diversity könne im Sinne von Hormel/Scherr (2004, S. 207)
als eine Metaperspektive gesehen werden, die zu einem
„selbstreflexiven Umgang mit eigenen Identitätskonstruktionen,
sozialen und kulturellen Einbettungen sowie deren Verschränkung mit
Dominanz- und Unterordnungsstrukturen“ auffordere. Diversity
empfehle sich als Leitbild von Organisationen, sei aber als
Reflexionshilfe bei der unmittelbaren pädagogischen Interaktion
vermutlich weniger tauglich. Hier sei das Konzept der
„Intersektionalität“ zielführender (S. 45)
Nach der
Rekonstruktion des historischen Diskussionsverlaufs entlang der
Migrationsgeschichte strukturiert der Autor das theoretische Feld der
Interkulturellen Pädagogik nach vier unterscheidbaren theoretischen
Zugängen (Kap. 2.2): „1. philosophisch argumentierende Ansätze,
2. sozialkonstruktivistisch orientierte, 3. primär kulturtheoretisch
und 4. primär sprachwissenschaftlich begründete Ansätze“.
G. Auernheimer selbst ordnet seine eigene Position den
kulturtheoretisch begründeten Konzepten zu. Er hebt hervor, dass er
sich auf die frühen Cultural Studies britischer Schule und die
Psychologie Wygotskis stütze. Darüber hinaus nehme er einen
marxistischen Beobachterstandpunkt ein, der die Praxis der Menschen
durch die gesellschaftlichen Verhältnisse strukturiert sehe. Er hebt
ebenfalls die Bedeutung der kulturellen Mittel hervor, mit deren
Hilfe sich die Individuen ihre Lebenssituation erschließen und im
Alltag orientieren würden. Die Lebenspraxis sei „ebenso kulturell
artikuliert, wie sozialstrukturell determiniert“ (S. 55). Er geht
im Weiteren auf die Bedeutung der Kultur als Symbolsystem und die
gesellschaftlichen Kämpfe um „Deutungsmacht“ ein.
In
einem Fazit am Ende des zweiten Kapitels resümiert Auernheimer
die Gemeinsamkeiten, die beim Vergleich der unterschiedlichen
Konzepte zutage treten würden. Hier sei eine doppelte Thematik
feststellbar, die in der „Anerkennung von Anderssein“ und dem
„Bewusstsein der Ungleichheit“ bestünde. Er weist allerdings
auch darauf hin, dass insbesondere die sozialkonstruktivistisch
orientierten Ansätze den Schwerpunkt stärker auf die
Sensibilisierung für Dominanzverhältnisse legen würden, weil sie
Kultur primär als „Mittel machtvoller Unterscheidungen“ sähen
(S. 59).
Nachdem in den ersten beiden Kapiteln der Gegenstand des Buchs, die interkulturelle Pädagogik, in den wichtigsten Grundzügen dargestellt wurde, folgen nun drei Kapitel zu den theoretischen Grundlagen interkultureller Pädagogik, die wiederum im Kontext der zentralen Leitmotive interkultureller Pädagogik diskutiert werden.
Theoretische Grundlagen I thematisiert die Verfasstheit einer multikulturellen Gesellschaft, den Kulturbegriff und kulturelle Identität und steht somit in engem Zusammenhang mit dem Leitmotiv der Anerkennung von Alterität und Vielfalt.
Theoretische Grundlagen II behandelt vor dem Hintergrund des Gleichheitsmotivs Fragen der Diskriminierung von Minderheiten und widmet sich der psychologischen Vorurteilsforschung und sozialwissenschaftlichen Rassismustheorien.
Theoretische Grundlagen III geht auf die für die Ziele interkultureller Pädagogik relevanten Theorien interkulturellen Verstehens (bzw. der Verstehensgrenzen) und der interkulturellen Kommunikation ein und beleuchtet die für das interkulturelle Handeln der Individuen notwendigen Kompetenzen.
Das sechste Kapitel mit dem Titel „Konzepte interkultureller Bildung“ kristallisiert Schwerpunkte interkultureller Bildungsarbeit heraus, die teilweise auf die im zweiten Kapitel dargestellten theoretischen Ansätze rekurrieren. Genannt werden u.a. der Anti-Bias und Diversity-Ansatz, Umgang mit kultureller Differenz, Befähigung zum interkulturellen Dialog, multiperspektivische und mehrsprachige Bildung und antirassistische oder rassismuskritische Bildung.
Das Buch wird mit dem Kapitel “Migrationspädagogik“ abgeschlossen. Mit diesem Begriff ist das Feld der Integrationshilfen gemeint, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Sinne einer Empowermentstrategie ermöglichen sollen. Ziel der Integrationshilfen sei „Chancengleichheit durch Förderung von Handlungsfähigkeit, letztlich Emanzipation von Abhängigkeiten“ (S. 155). Es reiche allerdings nicht aus, lediglich die Individuen zu stärken, sondern es sei erforderlich, auch die Institutionen und deren Strukturen zu verändern, um Teilhabe zu gewährleisten. Dies wird unter dem Stichwort der interkulturellen Öffnung der Institutionen abgehandelt.
Diskussion
Das Buch „Einführung in die interkultureller Pädagogik“ von Georg Auernheimer bietet einen sehr guten Überblick über ein Wissensgebiet und eine Forschungslandschaft, die sich seit den 1990er Jahren immer weiter ausgedehnt und ausdifferenziert hat, was nicht gerade zur Übersichtlichkeit im Fachgebiet beigetragen hat. G. Auernheimer hat sozusagen einen roten Faden durch das vorhandene wissenschaftliche „Material“ des Fachgebiets gelegt und es u.a. mit Hilfe der doppelten Thematik der Leitmotive; „Anerkennung von Andersheit und das Bewusstsein von Ungleichheit“, systematisiert. In den theoretischen Grundlagenkapiteln eröffnet er unterschiedliche theoretische Zugänge zur interkulturellen Pädagogik, die -abseits von einer oberflächlichen kulturalisierenden Behandlung des Themas oder dessen Reduktion auf eine reine Interaktionstechnik – eine profunde Beschäftigung mit interkultureller Pädagogik ermöglichen. Dabei legt er immer wieder die eigenen wissenschaftlichen Positionen offen, mit denen er den Gegenstand erschließt. Er bezieht sich dabei auf die kulturhistorische Schule der Psychologie (Wygotski, Leontjew), die kritische Psychologie (Holzkamp), die Ideologietheorie von Haug u.a., die Cultural Studies (Stuart Hall, Phil Cohen) und die Diskurstheorie. Besonders beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen über die theoretischen Konzepte in Kapitel 2.2 (S. 46 ff), wo er eine Strukturierung in vier theoretische Zugänge vornimmt. Sie erleichtern die Orientierung im theoretischen Feld, da sie Zuordnungsmöglichkeiten anbieten.
Irritierend fand ich, dass Georg Auernheimer die „Migrationspädagogik“ von Paul Mecheril stillschweigend unter das Dach der interkulturellen Pädagogik einordnet (S. 51f), ohne darauf einzugehen, dass Mecheril „Migrationspädagogik“ in bewusster Abgrenzung von der etablierten Bezeichnung „interkulturelle“ Pädagogik wählt. Die „Bevorzugung des Kulturbegriffs“ – so Mecheril - suggeriere, „dass ‚Kultur‘ die zentrale Differenzdimension“ sei und weiter führt er aus: „Solange ‚Interkulturelle Pädagogik‘ keine Pädagogik ist, die sich mit der kulturellen Pluralität hochdifferenzierter Gesellschaften in allgemeiner Einstellung beschäftigt und im Wesentlichen eine Pädagogik ist, die sich mit Pluralisierung und Diversifizierung als Resultat von ‚Migration‘ beschäftigt, bleibt Interkulturelle Pädagogik als Bezeichnung einer erziehungswissenschaftlichen Fachrichtung unklar“ (Mecheril 2004, S. 17). Auch Franz Hamburger tut sich mit der Bezeichnung schwer, was er in seiner Veröffentlichung „Abschied von der Interkulturellen Pädagogik“ (2009) zum Ausdruck bringt.
Ich will damit nicht in Abrede stellen, dass die Behandlung der sozialkonstruktivistischen Ansätze für die Darstellung des Fachgebiets relevant ist. Im Gegenteil stellen sie eine wichtige Facette der Diskussion dar, zumal Auernheimer zu bedenken gibt, dass sie inkonsequent seien, weil die „Relevanz kulturspezifischer Orientierungen und kulturell codierter Selbstverortungen für die Subjekte nicht in Abrede gestellt wird„(S. 54). Ein Hinweis darauf, dass sie sich teilweise dezidiert von der Bezeichnung „Interkulturelle Pädagogik“ abgrenzen und eine entsprechende Begründung dieses Schritts, wären dennoch erforderlich gewesen.
Fazit
Die „Einführung in die interkulturelle Pädagogik“ ist inzwischen ein Standardwerk auf dem Fachgebiet und stellt für alle, die sich inhaltlich orientieren wollen ein profundes Grundlagenwerk dar. Es ist für die Lehre ebenso unverzichtbar wie für die theoretische Orientierung in der praktischen Bildungsarbeit. Die kontinuierliche Fortschreibung des Werks über die vergangenen Jahre hinweg im Sinne einer kritischen Verarbeitung neuer Ansätze der Fachdiskussion und der praktischen Bildungsarbeit, machen diese Einführung zu einem Fachbuch, das aus der Menge der Veröffentlichungen herausragt. Es sei allen empfohlen, die einen strukturierten Einblick in die Thematik bekommen wollen.
Zusätzliche Literatur
- Auernheimer, Georg (2003): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. 3. Auflage. Darmstadt
- Auernheimer, Georg (2010): Pro Interkulturelle Pädagogik. In: Erwägen Wissen Ethik. Forum für Erwägungskultur. Hrsg.: Frank Benseler u.a. Heft 2., S. 121 – 131
- Auernheimer, Georg: Website (www.georg-auernheimer.de) Zugriff: 07.08.2013
- Hamburger, Franz (2009): Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Weinheim und München
- Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel
Rezension von
Prof. Dr. Veronika Fischer
Dr. Veronika Fischer, Professorin (i. R.) der Erziehungswissenschaft, langjährige Berufstätigkeit in der Erwachsenenbildung, Lehr- und Forschungstätigkeit an der Hochschule Düsseldorf mit den Schwerpunkten Erwachsenen- und Familienbildung, Migrationspädagogik, Diversity und interkulturelle Öffnung
Website
Mailformular
Es gibt 5 Rezensionen von Veronika Fischer.




