Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Peter Bünder, Annegret Sirringhaus-Bünder et al.: Lehrbuch der Marte-Meo-Methode

Rezensiert von Dipl. Päd. Andrew F. Kmiec, 04.09.2013

Cover Peter Bünder, Annegret Sirringhaus-Bünder et al.: Lehrbuch der Marte-Meo-Methode ISBN 978-3-525-40212-2

Peter Bünder, Annegret Sirringhaus-Bünder, Angela Helfer: Lehrbuch der Marte-Meo-Methode. Entwicklungsförderung mit Videounterstützung ; mit 17 Tabellen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2013. 3. Auflage. 419 Seiten. ISBN 978-3-525-40212-2. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 56,90 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-525-40468-3 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

„Das Lehrbuch versucht, einen umfassenden Zugang zur Marte Meo Methode zu schaffen. Gleichzeitig sollen Studierende, die sich in Marte Meo weiterbilden, in dem Buch Hilfe zur raschen Orientierung bei der Aneignung der Methode finden.“ (S.14).

Autor und Autorinnen

Dr. Peter Bünder ist Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozialarbeiter, Familientherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Marte Meo Licensed Supervisor und Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Düsseldorf.

Annegret Sirringhaus-Bünder, Diplom-Sozialarbeiterin, Familientherapeutin, Lehrtherapeutin, Supervisorin, NLP-Trainerin, Marte Meo Licensed Supervisor, ist in freier Praxis in Köln tätig.

Angela Helfer, Diplom-Sozialpädagogin, Familientherapeutin, Marte Meo Supervisor, ist pädagogisch-therapeutische Mitarbeiterin in einer Beratungsstelle in Köln;

Entstehungshintergrund

Das Verfahren wurde in den 1970er Jahren in Holland als „Orion“ – Hometraining entwickelt, woraus neben SPIN-Orion und Video Home Training VHT das Marte Meo Konzept entstand.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in sieben Teile von A bis G gegliedert.

Teil A: Geschichte und Theorie.

Hier werden die Entstehung des Verfahrens und die Verbindungslinien zu den eklektisch zusammengestellten Theorien dargestellt. Es wird auf Bindungstheorie, Ergebnisse der Säuglingsforschung, verschiedene lerntheoretische Ansätze, und die Theorie der symbolvermittelten Interaktion Bezug genommen, um das Verfahren zu erläutern und zu begründen. Allgemeiner wird auf Kommunikationstheorien, Systemtheoretische Ansätze und Neurowissenschaften Bezug genommen.

Teil B. Die Methode und ihre Wirkfaktoren.

Die AutorInnen formulieren zwei grundlegende Prämissen:

  1. kindliche Verhaltensprobleme werden als Entwicklungsaufgabe gesehen.
  2. Eltern bzw. andere Erwachsene, können das Kind in dieser Entwicklung unterstützend begleiten.

Zielpersonen sind Eltern mit entsprechenden Unterstützungsbedarfen.

Es wird als Modell förderlicher Kommunikation beschrieben, das individuell an die Lebenswelt der Adressaten angepasst werden kann und soll.

Elemente der Kommunikation sind unter den Überschriften Wahrnehmen, Bestätigen, Benennen, Sich abwechseln, Lenken und Leiten ausdifferenziert. Als übergeordnete Elemente werden angemessener Ton und konstruktive Dialogtechnik aufgeführt.

Die ethischen Grundsätze werden unter die Schlagworte Freiwilligkeit, Schweigepflicht und Vertraulichkeit, Wahrung der persönlichen Grenzen der zu Beratenden sowie Respekt vor deren Lebensstil subsumiert. Das Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle wird perspektivisch entfaltet.

Positiv indiziert ist die Bereitschaft zur engagierten Mitarbeit seitens der Klientel. Als Kontraindikation benennen die Autoren mono- oder multikausale Mitwirkungsbereitschaft/-fähigkeit (z.B. stark eingeschränkte geistige Fähigkeit oder schwere Erkrankung). Es sei kein Instrument zur Krisenintervention z.B. bei akuter Kindeswohlgefährdung.

Das Modell als Beratungsprozess ist in Handlungseinheiten gegliedert. Im Einzelnen sind das

  • Beginn: Info und Aufklärung, Vertragsgestaltung.
  • erste Videoaufzeichnung: 2 Aufnahmen, wobei jeweils eine aufgaben- oder regelorientierte und eine spaßorientierte Situation gefilmt wird.
  • Videointeraktionsanalyse: Anhand eines vorstrukturierten Protokolls werden diagnostische Kriterien erfasst und der aktuelle Entwicklungsstand wie auch die Bedarfe der Kinder einerseits und andererseits das Verhalten der Eltern in Stand und Bedarf unterteilt festgestellt.
    Daraus wird der Fokus der Beratungssequenzen extrahiert, wobei in vier Modelle differenziert und entschieden wird, ob nach dem Kooperations- und Austauschmodell, das Aktionsmodell, das Problemlösungsmodell oder das Konfliktlösungsmodell verfahren wird.
  • Review (Beratungsgespräch): Das Gespräch wird meist mit den Eltern geführt. Es werden auch Ansätze mit Beteiligung anderer Personen vorgestellt. Der Fokus liegt auf erkennbaren Stärken und Kompetenzen. Es wird nur ein Arbeitsthema behandelt, indem dazu Informationen gegeben werden, auch können so genannte Hausaufgaben gegeben werden.
    Auf der operationalen Ebene gilt, dass keine Erklärung ohne dazu passende Videobilder gegeben wird und das Video angehalten ist, so lange gesprochen wird. Die Dauer ist auf 45 bis 60 Minuten festgelegt, der Videoanteil liegt bei 10 – 15 Minuten.
  • Erneute Videoaufzeichnung, Videointeraktionsanalyse, Review in erforderlicher/vereinbarter Anzahl und zeitlichen Abständen.
  • Abschluß der Beratung.

Teil C: Beratung von Familien mit Kindern und Jugendlichen

In diesem Teil wird das Verfahren an Fallbeispielen dargestellt. Er ist unterteilt nach Familienstruktur und nach spezifischen Störungen des Kindes.

Fokussiert wird auf Kinder mit sozial unauffälliger Symptomatik, (ängstlich, anstrengungsvermeidend), mit sozial auffälliger Symptomatik (Regulationsstörungen, ADHS, isolierte oder randständige Kinder, oppositionelle und aggressive Kinder) und Kinder mit Behinderungen (schwerst-mehrfach behindert, autistisch).

Teil D: Marte Meo in Einrichtungen und Institutionen

Hier werden Rahmenbedingungen mit Fokus auf Finanzierungsgrundlagen der verschiedenen Bereiche erläutert, für die Marte Meo in Frage kommt. Auch hier werden Fallbeispiele aus ambulanter und stationärer Jugendhilfe, ambulanter Gesundheitshilfe, stationären Feldern der Gesundheitshilfe sowie aus Alten- und Pflegeheimen angeführt.

Teil E: Marte Meo in Ausbildung, Weiterbildung und Supervision

Das Verfahren wird als Mittel zur beruflichen Qualifikation und Weiterbildungsinstrument in unterschiedlichen Kontexten dargestellt.

Teil F: Marte Meo in wissenschaftlichen Kontexten

Hier wird die niedrige Einbindungsquote in die universitäre Lehre beklagt, dem folgen Beispiele von Evaluationsstudien aus Indien, Dänemark, Schweden und Deutschland.

Teil G: Marte Meo und Videotechnik

Dieser Teil ist der Frage des Umgangs mit Videotechnik im Rahmen dieses Verfahrens gewidmet.

Im Anhang finden sich Literaturverzeichnis, ein kurzes Webseitenverzeichnis, eine Marte-Meo-Adressenliste, ein Musterkontrakt über Schweigepflicht, ein Stichwortregister und das Inhaltsverzeichnis der beiliegenden DVD. Diese wiederum enthält Zusatzmaterialien wie Kopiervorlagen und Filmbeispiele.

Diskussion

Das Buch liest sich eingangs flüssig und weckt Neugier. Die formale Gestaltung erscheint gelungen und einem Lehrbuch angemessen.

Teil A erscheint zunächst in sich konsistent und plausibel. Die Argumentation zur Adaption der Ergebnisse aus der Säuglingsforschung erscheint plausibel. Bei näherer Betrachtung stellt der kundige Leser jedoch fest, dass das Theoriegebäude in der Tiefe deutliche statische Verwerfungen aufweist. Daraus ergeben sich eine ganze Reihe berechtigter Fragen. Dafür seien zwei Beispiele angeführt, die das Risiko eklektizistischer Verfahrensbegründung verdeutlichen.

Auf Seite 39 f. schreiben die Autoren in Bezug auf die Selbstwirksamkeitstheorie nach Bandura: „…dass die Eltern ein Gefühl ´persönlicher Wirksamkeit´ entwickeln, wenn sie wahrnehmen, dass ihre eigene Kommunikation mit dem Kind (zumindest teilweise) erfolgreich funktioniert und die gewünschte Wirkung zeigt. […] Selbstwirksamkeit bezieht sich also auf das Bewusstsein eigener Ressourcen (…) und umschreibt einen Zustand, in dem Menschen ihre eigenen Kompetenzen wahrnehmen und dadurch daran glauben können, etwas zu bewirken.“

Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass die Theorie explizit das Scheitern von Bemühungen mit einbezieht, weil Lern- und Entwicklungsprozesse nie linear und fehlerfrei verlaufen. Hier wäre eine differenziertere Durchdringung der Bezugstheorie angezeigt, denn ihr Fehlen bedingt Inkonsistenzen, die von der abstrakten Theorieebene auf die operative Handlungsebene durchschlagen

Dann schreiben die Autoren auf Seite 42 „Dies soll sicherstellen, dass von den Eltern keine Bevormundung empfunden wird, welche zu einer inneren Haltung führen könnte, die als „psychologische Reaktanz“ bezeichnet wird. […] Die Grundhaltung der Marte-Meo-Methode soll sicherstellen, dass diese Probleme nicht auftreten.“

Der damit verbundene Verweis auf Brehms Reaktanztheorie aus dem Jahr 1972 erscheint zwar zutreffend, dabei wird jedoch nur auf einen der vielfältigen Aspekte dieser Theorie verwiesen. Bereits bei Brehm wie auch in jüngeren Veröffentlichungen anderer AutorInnen wird sowohl auf Verhaltenseffekte wie auch subjektive, intrapersonale Effekte wie etwa kognitive Umstrukturierungen eingegangen. Dabei wird auch festgestellt, dass solche Reaktanzen weder prognostizierbar noch von Außenstehenden kontrollierbar sind. Für das Marte Meo Verfahren formulieren die Autoren also einen unerfüllbaren Anspruch an die Fachkräfte.

Ganz ähnlich wird bei den Themen Systemtheorie, Kommunikationstheorie und Neurowissenschaften verfahren: Aus der Fülle der Erkenntnisse dieser Bezugsdisziplinen wird das herausgepickt, was passend erscheint. Auf ein präzises Durchdeklinieren des Verfahrens vor der Matrix einer Kommunikationstheorie oder einer Systemtheorie wird verzichtet und so bleiben die Begründungslinien oberflächlich und im fachlichen Diskurs berechtigterweise im originären Sinne des Wortes „fragwürdig“. Schmerzlich vermisst werden zudem Rekurse auf die bislang in der Fachdiskussion geübte Kritik an den Orion-Ansätzen, zu denen ja auch Marte Meo zählt.

Der operative Teil des Verfahrens wird in Teil B (Methode) sehr ausführlich und auch für solche Leserinnen und Leser sehr verständlich dargestellt, die es noch nicht kennen.

Teil D enthält zum Teil unzulässige Verkürzungen. Beispielsweise wird auf Seite 255 gesagt: „Die Mitarbeiter/-innen der SPFH haben daher die Aufgabe, diese Familien in allen notwendigen Bereichen zu unterstützen, um nach Möglichkeit eine kostenintensive Fremdplatzierung von Kindern zu vermeiden oder aber wieder rückgängig zu machen“. Wer so argumentiert, ist weder mit der aktuellen Fachdiskussion noch der empirischen Forschung dieses Feldes Sozialer Arbeit vertraut oder aber suspendiert, aus welchen Gründen auch immer, ganz bewusst wesentliche Teile davon (vgl. hierzu die Expertise der Sachverständigenkommission zu Aufsuchenden Hilfen für Familien im Rahmen des 14. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung).

Bei den Studien in Teil F handelt es sich i.d.R. um ex post Studien. Die deutsche Studie ist in der Anlage um ex-ante – und Verlaufsaspekte ergänzt. Gemessen wird in allen Studien die Zufriedenheit ehemaliger Klienten. In der deutschen Studie wird zusätzlich die Anwendung der Lernelemente der Klienten gemessen. Von diesen Ergebnissen wird leider ohne weitere Untersuchungsschritte direkt auf „Wirkung“ des Verfahrens geschlossen.

Fazit

Wer den großen Wurf erwartet hat, wird sicher enttäuscht sein. Das Verfahren an sich ist fraglos interessant für den Einsatz in Kontexten Sozialer Arbeit.

Ein als „Lehrbuch“ konzipierter Titel lässt eine präzise Darstellung von Theorie, Methode und aktueller Fachdiskussion erwarten. Das wird auch so versprochen und dem wird die differenzierte Darstellung des Verfahrens in Teil B weitgehend gerecht. Insofern ist das erste Ziel der Autoren, „Hilfe zur raschen Orientierung bei der Aneignung der Methode finden“, durchaus erreicht.

Der Theorieteil A dagegen weist deutliche Unschärfen auf, die einer gründlichen Revision hinsichtlich der Adaption der Bezugstheorien wie auch der daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen wünschenswert erscheinen lassen. Schließlich werden daraus sowohl Legitimation als auch Methodik abgeleitet. Gleiches gilt für Teile D und F.

Die Studien in Teil F belegen nicht die Wirkung des Verfahrens, sondern liefern im besten Fall begründete Hypothesen für mögliche Zusammenhänge zwischen Verfahren und Aussagen der Befragten.

Die zweite Zielsetzung der Autoren, einen umfassenden Zugang zur Marte Meo Methode zu schaffen, gelingt demnach nur unzureichend. Bis eine entsprechend überarbeitete Neuauflage vorliegt, sollte diese Ausgabe als Lehrbuch also nur in Verbindung mit fundierten Kontextinformationen eingesetzt werden.

Rezension von
Dipl. Päd. Andrew F. Kmiec
M.A., Freie Pädagogische Praxis; Lehrkraft für besondere Aufgaben im Ruhestand, Frankfurt University of Applied Sciences
Mailformular

Es gibt 8 Rezensionen von Andrew F. Kmiec.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Lesen Sie weitere Rezensionen zu neueren Auflagen des gleichen Titels: Rezension 20284


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245