Axel Honneth, Ophelia Lindemann et al. (Hrsg.): Strukturwandel der Anerkennung
Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Evers, 17.09.2013
Axel Honneth, Ophelia Lindemann, Stephan Voswinkel (Hrsg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart.
Campus Verlag
(Frankfurt) 2013.
303 Seiten.
ISBN 978-3-593-39513-5.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 35,90 sFr.
Reihe: Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie - Band 18.
Thema
Die Herausgeber versammeln zum „Schlüsselbegriff“ Anerkennung Beiträge, die sich drei Grundannahmen verpflichtet sehen:
- Anerkennung ist ein fundamentales psychisches Bedürfnis; die Erfüllung dieses Bedürfnisses ist eine notwendige Bedingung für die Ausbildung personaler Identität.
- Anerkennung vermittelt zwischen individuellem sozialen Handeln und den normativen Mustern und Ordnungen der Gesellschaft.
- Weil aber die normative Grundlegung der Anerkennungsverhältnisse im Prozess der Modernisierung an Geltungskraft verliert, ist ein grundlegender Strukturwandel festzustellen.
Entstehungshintergrund und HerausgeberInnen
Die Beiträge sind in einem Projektverbund mit dem Thema „Strukturwandel der Anerkennung“ entstanden. Sie repräsentieren die interdisziplinäre Anlage dieses Verbunds, in dem sie das Ringen um Anerkennung wie den Strukturwandel für zentrale „Bereiche der Anerkennungsordnung“ erfassen: Arbeitswelt, Konsum, Recht, Medien, Paarbeziehungen.
Die Grundannahmen wie die Anlage des Gesamtprojekts sind insbesondere den Arbeiten von Axel Honneth verpflichtet, der den Sammelband zusammen mit Stephan Voswinkel und Ophelia Lindemann als Band 18 der „Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie“ herausgegeben hat. Honneths eigene Beiträge rahmen auch den Band. Während der Eröffnungsaufsatz in Anknüpfung an an einen „inoffiziellen Strang“ in den Arbeiten von Talcott Parsons anknüpft und die „Verwildung des sozialen Konflikts“ darstellt, betrachtet der Schlußaufsatz – verfasst in Zusammenarbeit mit Titus Stahl – noch einmal den Wandel der Anerkennung, in diesem Fall aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive.
Inhalt
Beide Texte führen nicht nur die grundlegenden Annahmen des Bandes vor. Sie zeigen auch, wie Honneth seine bekannten anerkennungstheoretischen Positionen in Auseinandersetzung mit anderen Theoriesträngen und Konstrukten wie dem Denken Parsons oder Aspekten des Gerechtigkeitsdiskurses kritisch zur Diskussion stellt und fortschreibt. Beide Texte sind lesenswert; spannend aber ist die direkte Auseinandersetzung mit anders gelagerten Positionen. Mit dem Beitrag von Thomas Welskopp wird auch ein anders gelagerter Blick auf die aktuellen Anerkennungsverhältnisse vorgestellt.
Honneths idealistischer Grundannahme, derzufolge Anerkennungsordnungen ein Gesellschaftsgefüge repräsentieren sollte, in der Subjekte durch die Erfahrungen gelingender Anerkennung Identität aufbauen, setzt Welskopp die Zumutungen der sich funktional differenzierenden Moderne entgegen. Beide Autoren sehen die Veränderungen des Anerkennungsregimes, die Desintergration und Instabilität oder „Verwilderung“ bewirkt. Während Honneth und ihm folgenden die anderen Beiträge im Sammelband nach Kompensationen suchen, die soziale Anerkennung auf neue Weise begründen, ist Welskopp pessimistischer. Die aktuelle Krise der Anerkennung sei – für einen Historiker – nichts Neues, allenfalls flächendeckender oder tiefergehend (vgl. 67f.). Entscheidend sei vielmehr, dass der Gesamtprozess irreversibel sei und sich keine institutionelle Ordnung abzeichne, die Anerkennung auf Dauer sichere.
Die angedeutete Auseinandersetzung wird in den folgenden Beiträgen nicht verfolgt. Stattdessen werden die aktuellen Anerkennungs(kompensations)leistungen in Bereichen wie betrieblicher Organisation (Voswinkel; Gabriele Wagner), Konsum (Voswinkel)oder Paarbeziehungen (Kai-Olaf Maiwald) skizziert.
Anders die Aufsätze von Klaus Günther und Ophelia Lindemann, die beide „Opfern“ gelten. Günther diskutiert als Jurist die wachsende Aufmerksamkeit für Opfer in der öffentlichen Debatte. Der durchaus begründbaren „Neutralisierung des Opfers“ im öffentlichen und juristischen Diskurs trete gegenwärtig eine Um- und Aufwertung des Opferstatus entgegen, die sich im „reinen Opfer“ verdichtet. Die Anerkennung als Rechtssubjekt sei nicht länger ausreichend; „öffentliche Aufmerksamkeit für die individuelle Biografie wird zu einem knappen und umkämpften Gut“ (240). Lindemanns Blick auf die Opfer geht demgegenüber von den Bedingungen aus, die für das Erzählen dieser eigenen Biografie als Opfergeschichte bestehen.
Fazit
Die Buchbeiträge finden im abschließenden Aufsatz von Axel Honneth und Titus Stahl noch einmal eine theoretische Fokussierung, die sich mit den Stichworten Gerechtigkeit und Freiheit verbindet. Die Teilüberschrift „Soziale Freiheit als Inklusion und Individualisierung“ verweist auf Honneths eigenen „Grundriß demokratischer Sittlichkeit“, den er 2011 unter dem Titel „Das Recht auf Freiheit“ vorgelegt hat. Im Strukturwandel entstehende neue Formen der Anerkennung müssten, so das Fazit, dahingehend befragt werden, ob sie für alle Mitglieder einer Gesellschaft zugänglich und motivierend seien. Solange die Anerkennungsfiguren nicht – und so ist es gegenwärtig zu beobachten – in Normen wechselseitiger gesellschaftlicher Achtung münden, kann der im Sammelband beschriebene Strukturwandel nicht als gerecht betrachtet werden. Eben darüber bleibt zu sprechen.
Rezension von
Prof. Dr. Ralf Evers
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Zitiervorschlag
Ralf Evers. Rezension vom 17.09.2013 zu:
Axel Honneth, Ophelia Lindemann, Stephan Voswinkel (Hrsg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart. Campus Verlag
(Frankfurt) 2013.
ISBN 978-3-593-39513-5.
Reihe: Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie - Band 18.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14884.php, Datum des Zugriffs 05.11.2024.
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