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Norbert Ricken, Nicole Balzer (Hrsg.): Judith Butler. Pädagogische Lektüren

Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Evers, 29.07.2013

Cover Norbert Ricken, Nicole  Balzer (Hrsg.): Judith Butler. Pädagogische Lektüren ISBN 978-3-531-16613-1

Norbert Ricken, Nicole Balzer (Hrsg.): Judith Butler. Pädagogische Lektüren. Springer VS (Wiesbaden) 2012. 413 Seiten. ISBN 978-3-531-16613-1. 39,95 EUR.

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Thema

Das Anliegen des Bandes ist es nicht, aus pädagogischer Sicht in Texte von Judith Butler einzuführen. Die pädagogische Lektüre Butlers dient vielmehr dem Ziel, die systematische Selbstverständigung der Pädagogik voranzubringen. Die HerausgeberInnen, Norbert Ricken und Judith Balzer, wollen mit den gängigen individualtheoretischen Konstruktionen des „pädagogischen Verhältnisses“ brechen und „den Gedanken der Subjektivation in Verknüpfung mit intersubjektivitäts- und anerkennungstheoretischen sowie performativitäts- und praxistheoretischen Einsichten … (er)fassen“ (11). Die von Butler vorgetragenen „kategorialen Verschiebungen“ bieten dazu eine gute Grundlage.

Entstehungshintergrund; und HerausgeberInnen

Bereits 2004 veröffentlichte Ricken gemeinsam mit Markus Rieger-Ladich pädagogische Lektüren von Michel Foucault; im Sommer 2013 soll ein Band zu Texten von Pierre Bourdieu folgen. Der vorliegende Band ist also Teil der umfassenden Bemühung, sozialphilosophische Diskurse auf erziehungswissenschaftliche Fragestellungen zu beziehen und den systematischen Diskurs der Pädagogik voranzutreiben.

Foucaults Fragen danach, wie Menschen zu Subjekten gemacht werden (assujettissement), ist auch für Judith Butler bedeutsam. Die Infragestellung des autonomen Subjekts, die Foucault und Butler verbindet, bildet den Ausgangspunkt. Wichtiger aber als der Zusammenhang von Macht und Subjekt ist den HerausgeberInnen eine kategoriale Problematik: „die Arbeit an der Überwindung begrifflicher und kategorialer Dichotomien, die – exemplarisch in der Entgegensetzung von Autonomie und Heteronomie, von Selbstständigkeit und Fremdabhängigkeit sowie von Freiheit und Macht – das … Ineinander von Selbst- und Anderenbezüglichkeit nicht angemessen zu erfassen vermögen“ (11).

Aufbau und Inhalt

Den pädagogischen Lektüren sind Texte von Butler – Gender and Education – und Kerstin Jergus vorangestellt. Jergus Beitrag – Politiken der Identität und der Differenz – bietet weit mehr als eine umfassende Skizze der erziehungswissenschaftlichen Rezeptionslinien. Vielmehr verhelfen die Klarheit und Systematik ihrer Darstellungen und Erwägungen den LeserInnen zu einer gründlichen Orientierung im Blick auf den Ertrag der pädagogischen Auseinandersetzung wie des Gesamtbands.

Judith Butlers eigener Beitrag führt ebenfalls in den Gesamtzusammenhang ein; die Relevanz des Textes erschließt sich insbesondere nach der Lektüre der folgenden Beiträge. Die Frage nach der Konstitution des Subjekts wird, fokussiert durch die Genderperspektive, in ihrer Bedeutsamkeit wie in ihrer politischen und praktischen Brisanz in den Mittelpunkt gestellt. Das Subjekt ist nicht unabhängig von Bildung. Das realisierte Geschlecht schafft die Möglichkeiten des eigenen Lebens: „It is not only that we need to live in order to act, but that we have to act, and act politically, in order to secure the conditions of existence.“ (27)

Die den einleitenden Beiträgen folgenden Texte werden von den HerausgeberInnen in drei Abschnitte geordnet. Auf die Auseinandersetzung mit zentralen Kategorien („grundbegriffliche Lektüren. Einsichten“) folgt der Blick von der pädagogischen Praxis her („empirische Lektüren: Ansichten“). Der Schlussteil („interdiskursive Lektüren. Aussichten“) versammelt Texte, die den systematischen Ertrag der Auseinandersetzung für die Pädagogik erschließen.

Einsichten: MarkusRieger-Ladich: bietet eine instruktive und präzise Beschreibung dessen, was Butler unter Subjektivierung versteht und wie sich der Begriff in ihrem Denken entfaltet. Wie in den meisten der folgenden Texte werden Hinweise auf die sozialphilosophische und erziehungswissenschaftliche Fortführung ihres Denkens gegeben. In intensiver Auseinandersetzung mit den Texten skizzieren Nicole Balzer/Katharina Ludewig Handlungsfähigkeit und Widerstand als Butlers „Quellen des Subjekts“. Kritisch gewendet führen diese Begriffe von der Frage, was Menschen zu Subjekten macht, hin zur Erörterung dessen, was Menschen zu Menschen macht. Die Klärung der Grundbegriffe wird durch Texte vervollständigt, die Interpellation, Diskurs und Performativität (Nadine Rose/Hans-Christoph Koller), dem Identitätsbegriff (Paul Mecheril/Melanie Plößer) und der gendertheoretischen Herausforderung, die Butlers Denken bedeutet (Jutta Hartmann), gelten. Vor allem der letztgenannte Text löst sich von der nachvollziehenden Lektüre und führt unmittelbar in die pädagogische Auseinandersetzung um eine Erweiterung des Bildungsbegriffs.

Ansichten: Bettina Fritzsche löst sich von der intensiven Lektüre von Butlertexten und versucht zu zeigen, inwiefern Butler mit ihrem Konzept von Subjektkonstitution an (ethnografisch basierte) erziehungswissenschaftliche Studien anknüpft. Kerstin Jergus/Ira Schumann/Christiane Thompson skizzieren eine Perspektivverschiebung von der Autorität hin zur Autorisierung im Sinne der Hervorbringung eines Autoritätsverhältnisses. Angestoßen durch Butlers Blick auf Heterogentität und die „Produktivität autorisierenden Sprechens“ analysieren sie Selbstdarstellungen im elementarpädagogischen Bereich. Butlers Verständnis von Normativität führen Sabine Reh/Kerstin Rabenstein zum Blick auf die Selbständigkeit als pädagogischer, in Praxis verschiebbarer Norm im Schulunterricht; Nicole Balzer/Dominic Bergner analysieren ausgehend von Sprechakten Subjektpositionen im Unterricht. Butlers Beispiele für adressierende und Normen iterierende Sprechakte werden empirisch rekonstruiert.
Diese Wendung zur Empirie und pädagogischen Praxis ist allen Beiträgen im zweiten Buchteil ebenso gemeinsam wie die Verknüpfung mit theoretischer und systematischer Selbstverständigung der Pädagogik. Beides trägt erheblich dazu bei, die Beiträge ausgesprochen interessant und ertragreich zu machen.

Aussichten: Die „interdiskursiven Lektüren“ forcieren die kritische Auseinandersetzung mit Judith Butler. Jessica Benjamin, die als Psychoanalytikerin argumentiert und keine dezidiert pädagogische Position vertritt, führt ihr Konzept von „thirdness“ ein, dass gleichermaßen für eine Theorie der Anerkennung wie für die Genderdebatte bedeutsam sei. Burkhard Liebschs Beitrag „Grenzen der Lebbarkeit eines sozialen Lebens“ stellt die Thesen, dass Leben erst durch Anerkennung zu einem menschlichen werde und das Begehren von Anerkennung zentrales Motiv des Menschseins seien, in Frage.
Höhepunkte des Bandes sind die Beiträge von Norbert Ricken und Alfred Schäfer. Ricken erweitert Herbarts Verständnis der „Bildsamkeit des Zöglings“ um eine kulturanthropologische und – mit Butler - eine relationale Dimension: Bildsamkeit ist in einem sozialen Geschehen zu verorten; Entwicklung des Selbst wird unter der konstitutiven Bedeutung der anderen gedacht; ‚Verletzbarkeit‘ und ‚Macht‘ werden bedeutsam und brechen mit dem Primat des souveränen Subjekts. Schäfer führt seine eigenen erziehungsphilosophischen Positionen fort und zielt auf einen pädagogischen Raum, in dem sich das Begehrten nach Anerkennung und antihegemoniale Gesten – „Gesten der Entunterwerfung, der kritischen Haltung, Möglichkeiten des Wahr-Sprechens“ (371) – vermitteln lassen. Beide Beiträge wurzeln wie die folgenden von Hans-Uwe Rösner zu einer kulturwissenschaftlich orientierten Heilpädagogik und von Carsten Bünger/Felix Trautmann zu einer politischen Bildung der Empfänglichkeit in der „systematische(n) Entfaltung und empirische(n) Erprobung einer anerkennungstheoretischen Perspektive auf pädagogische Praktiken und Subjektivationsprozesse“ (13).

Diskussion und Fazit

Bildung, die zu Widerstand befähigt, steht im Mittelpunkt des Sammelbandes. Dieser Grundimpuls einer kritischen Pädagogik wird aber nicht nur vorgestellt, sondern praktisch durchgeführt. Vorbildlich ist, wie sich die Beiträge klar auf einen, gemeinsamen Zusammenhang beziehen und wie der kritische Nachvollzug des Denkens Butlers in Gedankengänge aufgehoben wird, die für die Theorie wie die Empirie der Pädagogik weiterführend sind. Die Impulse, die sich durch die Stichworte Anerkennung und widerstand bündeln ließen, sind inhaltlich bedeutsam. Fast noch wichtiger sind aber auch der Ausgangspunkt der Beiträge, die Texte Judith Butlers, und vor allem die Form des Zugriffs, die pädagogische Lektüre. Beides trägt zur Qualität des Bandes bei. Einleitend stellten Norbert Ricken und Nicole Balzer fest, dass es um die erziehungswissenschaftliche Rezeptionskultur einigermaßen gut bestellt zu sein scheint. Recht haben sie.

Rezension von
Prof. Dr. Ralf Evers
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Es gibt 17 Rezensionen von Ralf Evers.

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Zitiervorschlag
Ralf Evers. Rezension vom 29.07.2013 zu: Norbert Ricken, Nicole Balzer (Hrsg.): Judith Butler. Pädagogische Lektüren. Springer VS (Wiesbaden) 2012. ISBN 978-3-531-16613-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14885.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.


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