Hilarion G. Petzold (Hrsg.): Die Menschenbilder in der Psychotherapie
Rezensiert von Dipl.-Psych. Gerhard Wolfrum, 18.02.2014

Hilarion G. Petzold (Hrsg.): Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen. W. Krammer Verlag (Neubau, Wien) 2012. 705 Seiten. ISBN 978-3-901811-62-3. D: 49,80 EUR, A: 49,80 EUR.
Thema
Der ca. 700 Seiten umfassende Sammelband „Die Menschenbilder in der Psychotherapie“ setzt sich mit insgesamt 25 Autoren und drei Geleitwort-Autoren aus den beiden Teilen „Menschenbilder – Interdiszisplinäre Perspektiven“ und „Menschenbilder – Die Modelle der Psychotherapeutischen Schulen“ zusammen.
Herausgeber und Autoren
Prof. Dr. mult. Hilarion G. Petzold, emeritierter Ordinarius für Psychologie (FU Amsterdam), approbierter Psycho- und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und gelernter Landwirt hat Philosophie, russisch-orthodoxe Theologie, Psychologie, Pädagogik sowie Medizin, Soziologie und Erziehungswissenschaften studiert. Er wurde 1968 zum Dr. theol., 1971 zum Dr. phil. und 1979 mit einer Dissertation unter dem Titel „Psychodramatherapie mit alten Menschen“ promoviert. Er gründete 1974 zusammen mit Kollegen das Fritz Perls Institut für Integrative Therapie, Gestalttherapie und Kreativitätsförderung und 1981 die Europäische Akademie für psychosoziale Gesundheit. Seine Arbeitsgebiete sind u.a. vergleichende Psychotherapie, Methodenintegration und Körpertherapie. Er hat die Integrative Therapie begründet und ist Begründer und Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift.
Mitautoren des Sammelbandes sind Mag. MSc. Surur Abdul-Hussain, Prof. Dr. Josef W. Egger, Prof. Dr. Jochen Fahrenberg, Dr. phil. Markus Fäh, Reinhard Fuhr, Prof. Dr. Johann Götschl, Dr. phil. Stephan Grätzel, Dr. phil. Martina Gremmler-Fuhr, Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther, Dr. Christoph Hutter, Prof. Dr. Wolfgang Jantzen, Dr. med. Josef Jenewein, Dr. phil. Jürgen Kriz, Dr. Rolf Kühn, Dr. med. Dr. phil. Alfried Längle, Dr. phil. Kurt Ludewig, Dr. theol. Roland Mahler, Dipl.-Sup., MSc. Ilse Orth, Dr. phil. Brigitte Schigl, Dr. phil. Johanna Sieper, Dr. phil. Ernst Spengler, Dr. phil. Milan Sreckovic, Dr. phil. Gerhard Stumm, Dr. jur. Dr. phil. Paul Tiedemann.
Entstehungshintergrund
„In diesem Band wird erstmalig eine interdisziplinäre und schulenübergreifende Übersicht über die Funktion von Menschenbildern in der Psychotherapie und ihren wichtigsten Referenzdisziplinen gegeben. Zehn Hauptrichtungen moderner Psychotherapie stellen ihre Menschenbildannahmen vor“ (Klappentext). Wie schwierig ein derart interdisziplinäres Projekt angesichts der Komplexität des Gegenstandes zu realisieren ist, beschreiben die Autoren des Geleitworts, führende Vertreter der Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit sowie der Universitäten Prishtina und Krems. Hilarion Petzold selbst schreibt hierzu, dass in einer internationalisierten, multidisziplinären community of sciences mit einer Vielzahl von kulturellen Hintergründen „Erkenntnisse über Hominität“ … „ohne das Wissen um Humanität und ohne die Gewährleistung menschlicher Integrität durch humanitäre Praxis nicht zu haben“ sind.
Aufbau
Neben einem Geleitwort und der Einführung vom Herausgeber mit dem Titel „Unterwegs zu handlungsleitenden Menschenbildern“ besteht der Sammelband aus den beiden Teilen:
- Menschenbilder – Interdisziplinäre Perspektiven und
- Menschenbilder – Die Modelle der psychotherapeutischen Schulen mit jeweils etwa einem Dutzend Autoren zu unterschiedlichen Aspekten und den Hauptrichtungen psychotherapeutischer Schulen.
Inhalt
Insgesamt wirkt der Sammelband mit ca. 700 Seiten überwältigend, zumal er mehr als „gespickt“ ist mit Literaturzitaten und -hinweisen.
Der Herausgeber umreißt in der Einführung im ersten Teil sein Anliegen einer „schulenübergreifenden“ Perspektive, denn diese fehle bislang weitgehend, zum anderen weißt er darauf hin, dass die Mehrzahl der Psychotherapieverfahren in der Zeit bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts konzipiert worden seien und sich nur wenig an Materialen zu neueren Entwicklungen der Menschenbildannahmen in den einzelnen Verfahren finde. Gerade angesichts der neuen Erkenntnisse aus der Hirnforschung sowie aus der evolutionsbiologischen und -psychologischen Forschung sowie den neuen Wissensbeständen aus dem entwicklungsneurobiologischen Feld, der vergleichenden Primaten-, Kleinkind- und Säuglingsforschung sowie der „lifespan development psychology“ werde klar, welche neuen Aufgaben für Sichtung, Revidierung und Weiterentwicklung bestehender Positionen entstanden seien. Er versucht anhand einer Vielzahl von Detail-Informationen eine Zuordnung der verschiedenen Psychotherapieschulen in einem integrativen Ansatz, plädiert für eine „klinische Philosophie“ und immer wieder für den Polylog – die Begegnung und Auseinandersetzung der Texte, den Diskurs und für Korrespondenz-Prozesse, in denen durch Konsens-Dissens-Prozesse Konsens gefunden werden kann. Dabei geht es Hilarion Petzold um einen Beitrag, in Psychotherapien mehr darüber nachzudenken und sich in Polylogen miteinander der Frage zu nähern, „was eigentlich mein Menschsein und Mitmenschsein ausmacht, und wie wir als Menschen für die Welt des Lebendigen und füreinander in unserer Lebenspraxis in guter Weise Sorge tragen können“.
In den weiteren Beiträgen des ersten Teils werden u.a. dargestellt
- die Perspektiven der Philosophie für die Bedeutung und Funktion von Menschenbildern (Stephan Grätzel), hier u.a. die Behandlung der Würde des Menschen in den verschiedenen Forschungsansätzen betont: „Bleibt sie als wissenschaftlicher Ungegenstand außen vor und wird höchstens als moralisch-rechtliches Anhängsel behandelt, dann ist die Entscheidung gegen den Menschen schon gefallen“.
- Wissenschaftsphilosophische Erkundungen zum dynamischen Menschenbild der Gegenwart (Johann Götschl) im Kontext evolutionär-wissenschafts-philosophischer Kategorisierungen, im Kontext der Vermehrung und Zusammenführung von Wissenschaften und auch im Kontext von Musik
- Theologische Reflexionen zum Menschen zwischen Widerspruch und Gewissheit (Roland Mahler) mit Bezügen auf Ignatius von Loyola und Viktor Frankl.
- die Forschungsaufgaben der empirischen Psychologie (Jochen Fahrenberg), welche in der Diskussion über Menschenbilder in Psychologie und Psychotherapie mehr Klarheit gewinnen könnte, wenn zwischen verschiedenen, aber z.T. eng aufeinander bezogenen Perspektiven unterschieden werden würde: Den Menschenbildern als subjektiven Theorien, Persönlichkeitstheorien als fachpsychologischen Theorien, die sich jedoch auch an unterschiedlichen philosophischen Vorannahmen bzw. absoluten Voraussetzungen, d.h. an den Menschenbildern ihrer Autoren orientieren und Zusammenhängen zwischen den typischen anthropologischen Grundüberzeugungen und der Präferenz für bestimmte Persönlichkeits- und Therapietheorien sowie der Relevanzbehauptung, dass sich individuelle bzw. typische Menschenbilder auf die Berufspraxis auswirken – was vom Autor bei Studienanfängern empirisch untersucht wurde.
- eine schulenübergreifende Perspektive auf grundlegende Aspekte psychotherapeutischer Diskurse (Jürgen Kriz) mit der Frage, was in den divergierenden Positions-Diskussionen eigentlich als wesentlich anzusehen ist und einer Diskussion über die „Mainstream-Mythen über die Welt und ihre Einflüssen auf die Vorstellungen von Psychotherapie“: Hier geht es um den Objektivitäts-, den Analyse- und Synthese-, den Homogenitäts- und Design-Mythos sowie und den Genauigkeits- und Kausalitäts-Mythos ebenso wie um das mechanistische versus systemisch-dynamische Weltbild, das Spannungsfeld von Innenwelt- und Außenwelt-Perspektive, von Natur versus Kultur und von mechanistisch-organismisch-potentiell selbstreflexiv und der oft vernachlässigten Kontext-Perspektive.
- die Konturen einer marxistischen Anthropologie (Wolgang Jantzen) mit der Aussage, dass Anerkennung nicht alles sei, aber ohne Anerkennung alles nichts ist und dass Psychotherapie Rekonstruktion des persönlichen Sinns über ihm entsprechende Bedeutungen durch Rekonstruktion des sozialen Sinns sein müsse.
- Menschenbildannahmen im feministischen Diskurs (Brigitte Schigl, Surur Abdul-Hussain) mit einem kritischen Fazit bzgl. der impliziten z.T. frauenfeindlichen Annahmen z.B. in der Freudschen Psychoanalyse, neutraleren Annahmen in den verhaltenstherapeutischen und humanistischen Verfahren und einer bereits frühen Sensibilität in Bezug auf die Gender Diskussion in der Integrativen Therapie.
- der Mensch im Menschenrechtsdiskurs (Paul Tiedemann) aus juristischer Sicht
- die Suche nach einem neurowissenschaftlich begründbaren Menschenbild (Gerald Hüther, Hilarion Petzold) mit dem Dilemma des Neurowissenschaftlers bzgl. einer fragwürdigen „Objektivität“ und dem schwierigen Weg anhand ethologischer und entwicklungspsychobiologischer Perspektiven zur menschlichen Selbsterkenntnis zu kommen: „Wir haben uns selbst zerlegt und analysiert, aber wir haben uns dadurch selbst kaum besser verstanden, geschweige denn erkannt, warum wir so sind, wie wir sind, weshalb wir so denken, fühlen, wollen und handeln, wie wir das in unserem täglichen Leben tun“ (S. 211). Breiten Raum nimmt die Diskussion ein, dass die Entwicklungen, die die Menschen genommen haben, uns immer wieder in den Bereich des Zwischenmenschlichen führen – zu den interpersonalen und intrapersonalen Prozessen in Kollektiven. Das Gehirn als Beziehungsorgan, die social neuroscience, die Theory of Mind, auch die Forschungen bei Schimpansen und zum Kommunikationsverhalten von Delphinen („Delphin-Altruismus“) werden angeführt, die Phänomene von Autopoiese und Selbstregulation, die Voraussetzungen für Kulturleistungen und eine auf Potentialentfaltung ausgerichteten „Pragmatik des Menschlichen“ anschaulich dargestellt.
- „Leiblichkeit“ als „Informierter Leib“ embodied and embedded – die Körper-Seele-Geist-Welt-Verhältnisse in der Integrativen Therapie (Hilarion G. Petzold in „Ko-respondenz“ mit Johanna Sieper). Dieses umfangreichste Kapitel enthält das in vielen Jahren entstandene Kondensat der praktischen und Forschungsarbeit des Herausgebers mit seinem therapietheoretischen Imperativ: „Erarbeite therapeutische Konzepte und Methoden so, dass sie an die Grundlagenwissenschaften (z.B. Psychologie, Neurobiologie, Medizin) und die Forschungsergebnisse der Psychotherapieforschung anschlussfähig sind und durch neuere Forschung überprüft werden können. Entwickle Beiträge so, dass sie nicht nur der eigenen Richtung dienen, sondern für das gesamte Feld der Psychotherapie und vor allem für PatientInnen von Nutzen sind. Was wirklich grundlegend wichtig ist, muss für alle Richtungen und für PatientInnen Bedeutung haben und mit ihnen partnerschaftlich umzusetzen sein“ (Petzold, 2000). Vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Literaturzitaten stellen die Autoren das schon früh entwickelte Thema der „personalen Leiblichkeit“ in seiner biopsychosozialökologischen Realität jenseits der lange propagierten Dualität von Körper und Seele und der von Mensch und Welt ausführlich dar. Sie beschreiben den Weg zu einer „collagierenden Hermeneutik“ über Intentionalität und Qualia mit der Methodik des Polylogs, so dass dann auch „starke Integrationen“ als Emergenzen möglich werden, welche neue, diskursübergreifende, transdisziplinäre Konzepte hervorbringen, ein integratives anthropologisches Modell und eine integrative Praxeologie. Sie betonen, dass die Konzepte „personaler Leiblichkeit“ des „Leib-Subjektes“ und des „Informierten Leibes“ als „Brückenkonzepte“ zu betrachten sind, mit dem sich phänomenologisch-hermeneutische Leibphilosophie (geisteswissenschaftliche Perspektive) und Neurobiologie (naturwissnschaftliche Perspektive) konnektivieren, in Näherung bringen lassen: „Die Leiblichkeit des Menschen ist ein Synergem von materiellen und transmateriellen Prozessen, in denen – in Kontext / Kontinuum unlösbar eingebunden (embedded) – sich das personale Leibsubjekt als die materiell-transmaterielle Wirklichkeit des „informierten Leibes“ im Weltbezug und in intersubjektiven Beziehungen zu bedeutsamen Anderen verkörpert hat und bis zu seinem Tode verkörpert“ (S. 321).
Der zweite Teil versucht die verschiedenen Modelle der Hauptrichtungen von Psychotherapieschulen darzustellen, mit Beiträgen
- zum Menschenbild der Systemischen Therapie (Kurt Ludewig) als Weiterentwicklungen aus den Familientherapien mit der Darstellung des Autopoiese-Konzeptes von Maturana & Varela, der konstruktivistischen Perspektive und kommunikativen Axiomen hin zu ethischen Folgerungen und einer im systemischen Prinzip formulierten Einheit der Differenz von Ich und Du als Grundmatrix menschlicher Existenz im Sinne der Angewiesenheit von Menschen aufeinander.
- zum Menschenbild der Psychoanalyse Sigmund Freuds (Markus Fäh), wo die theoretischen Grundannahmen und verschiedenen Weiterentwicklungen und drei Ideologien erläutert werden, die die Psychoanalyse im Laufe ihrer Geschichte „abgeworfen“ hat: Den Freudianismus mit dem Feiern des sexuellen Begehrens, den Kleinianismus mit der Geisselung des Todestriebes und den Kohutianismus mit der Fokussierung auf den Narzissmus. Psychoanalyse wird als Kind der Moderne mit dem Potenzial von „Weltanschauungsresistenz und -kompetenz in Zeiten der Orientierungslosigkeit“ beschieben.
- zur Rolle des Menschenbildes am Beispiel der Existenzanalyse (Alfried Längle) mit der interessanten Aussage Viktor Frankls (1982), dass jeder, „der ein System der Psychotherapie begründet hat, letzten Endes seine eigene Krankengeschichte geschrieben und darin niedergeschrieben hat“ – letztlich handele es sich also überwiegend um subjektive Lebenserfahrungen. Betont werden für eine existenzanalytische Anthropologie die beiden grundlegenden Charakteristika des Mensch-Seins: Der Einbezug des unaufhebbaren Weltbezugs und die Dynamik der Vollzugswirklichkeit der „Ganzheit Mensch“.
- zum Menschenbild er Individualpsychologie Alfred Adlers (Rolf Kühn) mit der Betonung des Gemeinschaftsgefühls gegenüber dem Minderwertigkeitsgefühl als einem Rückgriff auf eine biologischmedizinische Organtheorie des Menschen als Mängelwesen.
- zum Menschenbild der Psychotherapie von C. G. Jung (Ernst Spengler) mit der Frage nach Heilung durch Veränderung und dem Prozeß der Individuation, damit der Patient zu dem werden kann, was er eigentlich ist. Betont werden die Psyche als ein sich selbst regulierendes System, welches das Gleichgewicht zwischen Gegensätzen sucht, die Phänomene von Zufall und Synchronizität, die Wandlungen in Jungs Menschenbild und die therapeutische Wirksamkeit aufgrund grundsätzlich gleichberechtigter Positionen von Patient und Therapeut.
- zu den Menschenbildannahmen in der verhaltenstheoretischen Psychotherapie (Josef W. Egger) in der historischen Auseinandersetzung mit den zwei konträren Auffassungen über das Wesen des Menschen, der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Orientierung bis hin zu den Menschenbildannahmen der gegenwärtigen integrativen Verhaltenstherapie mit einem Menschen als einem komplexen, informationsverarbeitenden System mit dem Therapieziel größtmöglicher Selbstbestimmung und Selbstregulation. Zusammenfassend wird postuliert, dass es nicht das Menschenbild geben kann, will man der Komplexität des Phänomens gerecht werden, vielmehr müssen die unterschiedlichen Auffassungen von Wirklichkeit Berücksichtigung finden.
- zum Menschenbild der Gestalttherapie von Frederick S. Perls, Laura Perls und Paul Goodmann (Reinhard Fuhr, Milan Sreckovic und Martina Gremmler-Fuhr), wo gleich zu Anfang betont wird, dass es ein wesentliches Merkmal der Gestalttherapie sei, dass sie nicht von einem isolierten Menschenbild ausgehe, sondern eher von einer Einheit von „Menschen- und Weltbild“ zu sprechen ist, wobei die Prinzipien der Ganzheitlichkeit, relativierenden Realitätswahrnehmung, der Selbstregulation und schöpferischen Anpassung, dialogischen Prozessorientierung und Differenzierung und Integration die wesentliche Rolle spielen. Persönlichkeit, Krankheitslehre und Diagnostik stehen unter dem Zeichen des Menschenbildes und sind als ein dynamischer Entwicklungsprozess zu verstehen.
- zum Menschenbild des Psychodramas von J. L. Moreno (Christoph Hutter) mit einem mehrdimensionalen Menschen als einem verorteten, raum-zeitlichen Wesen, dass in verschiedenen Rollen als ein Begegnendes immer in Beziehung ist und sich lebenslang entwickelt. Morenos Ansatz wird dementsprechend als ein melioristischer, auf kontinuierliche Verbesserung abzielender und diese für möglich und wünschenswert erachteter Ansatz erachtet.
- zum Menschenbild der Daseinsanalyse (Josef Jenewein) mit ihrer Orientierung an Binswanger, Heideggers „Hermeneutik der Alltäglichkeit“ in der Beziehung zum anderen und den Weiterentwicklungen durch Medard Boss. Der Mensch als Dasein, als „In-der-Welt-sein“, ist in seiner Grundverfassung „Offenheit für das Vernehmen von Bedeutsamkeit“, wobei seelisches Leid eine Therapie im Umgang mit „Privationen“, Einschränkungen der Freiheit verlangt und in ein Frei-sein-für das Begegnende mündet.
- zu den Menschenbildern in der Klientenzentrierten Psychotherapie (Gesprächspsychotherapie) (Gerhard Stumm), die als Prototyp der humanistischen Psychologie bezeichnet werden kann, mit den Attributen von Holismus, Begründetheit in sozialen Beziehungen, der Fähigkeit zu Bewusstheit, Selbstbestimmung und Wahlfreiheit, Intentionalität und Wachstumsorientierung. Insgesamt überwiegt im Personenzentrierten Ansatz eine optimistische Auffassung von der Natur des Menschen und seinen individuellen Kompetenzen, von Rogers als Potenz gesehen. Die Aktualisierungstendenz bekräftigte ihn in der Überzeugung, dass leidende Menschen unter geeigneten Bedingungen in der Lage sind, aus sich selbst heraus zu Problemlösungen zu gelangen.
- und schließlich zu den Menschenbildern in der Drogentherapie als Perspektiven einer Integrativen Therapie (Hilarion G. Petzold), wo der Herausgeber und Autor sehr praxisnah die Entwicklungen der Drogentherapie und die eigenen Erfahrungen der letzten vierzig Jahre theoretisch hinterfragt und nicht nur den Normalitätsbezug und die Handlungsziele, sondern auch die Behandlungsziele und ethische Überlegungen im Zusammenhang mit der Frage nach den dahinter stehenden Menschenbildern diskutiert. Er betont neben durchaus auch vorhandenen protektiven Faktoren vor allem die auch bei Drogenabhängigen vorhandene Lernfähigkeit und Kreativität, die für Psychotherapie nutzbaren „Überlebenstechniken“ und besonders die Orientierung am Bild eines wachstumsfähigen Menschen. Hierzu gehörten auch die Dialoge und Polyloge im intersubjektiven Miteinander und vor allem ein wirklich paritätisches Miteinander mit den Betroffenen als Experten ihrer Situation.
Diskussion
Das vorliegende umfangreiche, von Hilarion G. Petzold, dem Begründer der Integrativen Psychotherapie herausgegebene Buch bewegt sich auf einem hohen wissenschaftlichen und Abstraktions-Niveau und stellt eine Fülle wertvoller Informationen zum Thema Menschenbilder in der Psychotherapie einschließlich einer Vielzahl von Literaturhinweisen zur Verfügung. Es werden interessante interdisziplinäre Perspektiven aufgezeigt und die wichtigsten Modelle der psychotherapeutischen Schulen dargestellt. Aus den meisten Beiträgen lassen sich Darstellungen oder zumindest Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Menschenbilder herauslesen und besser verstehen. Bei einigen Beiträgen hatte der Rezensent den Eindruck, dass es den Autoren mehr um eine Selbstdarstellung ihrer Schule und weniger darum ging, der nicht immer einfach zu beantwortenden Frage nach dem dahinter liegenden Menschenbild nachzugehen und dieses explizit darzustellen. Hier hätte er sich mehr Transparenz gewünscht – was einerseits vielleicht angesichts der Komplexität des Gegenstandes schwer zu bewerkstelligen ist, andererseits vielleicht aber auch geschah, um sich nicht allzu angreifbar zu machen. Vermisst wurden in diesem Grundlagenwerk Ausführungen sowohl zum Hypnosystemischen Therapiekonzept, welches sehr explizite Aussagen zum damit verbundenen Menschenbild und der daraus abgeleiteten Praxelogie macht und zu traumatherapeutischen und neurobiologischen Konzepten – obgleich sich die Autoren Petzold und Hüther im Beitrag „Auf der Suche nach einem neurowissenschaftlich begründeten Menschenbild“ hier prozeßhaft annähern. Beide genannten Konzepte integrieren im Sinne von Embodiment die Körper- und Leiblichkeit des Menschen auf ganz neue und faszinierende Weise. Beides hätte sicherlich die gewünschten Polyloge noch mehr befeuert, denn jeder therapeutische Ansatz und jede Schule sollte noch sehr viel mehr ihr implizites Menschenbild offen machen, damit vor allem die PatientInnen wissen, worauf sie sich einlassen.
Fazit
Insgesamt ein sehr umfangreiches Werk, das aufgrund seiner abstrakten Sprache nicht immer leicht zu lesen und zu verstehen ist, als Nachschlagewerk eine Menge wertvolle Erkenntnisse bringt, aber dem Anspruch, die Menschenbilder der verschiedenen Schulen explizit darzustellen, nicht in allen Beiträgen entsprechend den Erwartungen gerecht wird.
Rezension von
Dipl.-Psych. Gerhard Wolfrum
Psychologischer Psychotherapeut,
Psychoanalytiker, Fach-Psychotherapeut für Traumatherapie, München
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