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Rainer Deppe: Die Liebe wirst du los, das Virus nie (AIDS-Hilfe)

Rezensiert von Prof. Dr. Daniel Gredig, 09.01.2014

Cover Rainer Deppe: Die Liebe wirst du los, das Virus nie (AIDS-Hilfe) ISBN 978-3-95558-004-9

Rainer Deppe: Die Liebe wirst du los, das Virus nie. Als Homeworker bei der AIDS-Hilfe. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2013. 186 Seiten. ISBN 978-3-95558-004-9. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.

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Thema

Gestützt auf Gedächtnisprotokolle, die er im Stil eines Tagebuches niedergeschrieben hatte, berichtet Rainer Deppe rückblickend von seinen ersten Erfahrungen als Homeworker der Frankfurter AIDS-Hilfe. Damit gewährt er einen Einblick in seine ehrenamtliche Arbeit mit einem HIV-positiven und gleichzeitig an mehreren schweren Beeinträchtigungen leidenden schwulen Mann. Er beschreibt die Beziehung, die sich zwischen ihm und dem von ihm begleiteten Mann in dessen letzter Lebensphase entwickelte, und reflektiert diese. Zudem lässt der Bericht abschätzen, in welcher Lebenslage sich – auch heute noch – Menschen befinden, die mit HIV/Aids und weiteren, schweren Erkrankungen leben.

Autor und Entstehungshintergrund

Rainer Deppe, Diplomsoziologe, Dr. phil., war als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig. 2005, mit 65 Jahren, nahm er die ehrenamtliche Tätigkeit als Homeworker bei der Frankfurter AIDS-Hilfe auf und engagierte sich darin während sieben Jahren. Dieser „Bericht“, wie Deppe sein Buch selbst bezeichnet (S. 169), beruht auf keiner wissenschaftlichen Untersuchung. Deppe betont ganz im Gegenteil, er habe die Betreuungsarbeit, von der er erzählt, aufgenommen, weil er „von der Wissenschaft erst mal die Nase voll hatte“ (S. 168). Doch er begleitete seinen Einstieg in die Tätigkeit als Homeworker mit tagebuchartigen, aus dem Gedächtnis gespeisten Notizen über die Treffen mit dem zu betreuenden Mann. Das Schreiben sollte ihm helfen, „Unbekanntes besser zu verstehen und Erschreckendes zu bannen“ (S. 170). Diese Notizen verarbeitete er im Nachgang zu einem Bericht, den er, ermuntert vom früheren Lebenspartner und von Freunden des wohl 2006 verstorbenen Mannes (S. 185), mit einigen Jahren Abstand zum Geschehen nun der Öffentlichkeit zugänglich macht.

Aufbau und Inhalt

Der Bericht gliedert sich in 33 kurze Kapitel, wovon die ersten 27 Kapitel chronologisch geordnet von den Begegnungen mit dem mehrfachkranken schwulen Mann handeln, dem Deppe in seinem Bericht den Namen David gibt.

Rainer Deppe erzählt von der ersten Begegnung mit David, den er als Homeworker in Ergänzung zu den pflegerischen und sozialarbeiterischen Leistungen (S. 178) begleiten soll. Dem Rhythmus ihrer Treffen folgend, erzählt er von den Aktivitäten, die er mit David unternimmt, der nicht nur HIV-positiv ist und sich in antiretroviraler Therapie befindet, sondern infolge eines Aneurysmas im Hirn fast vollständig erblindet ist und zusätzlich an einer Herzschwäche leidet. Er schildert, wie er Brötchen fürs gemeinsame Frühstück bei David zu Hause mitbringt, und wie er ihm aus der Zeitung oder aus Büchern vorliest. Er beschreibt eindrücklich die für den mehrfach erkrankten Mann manchmal kaum zu bewältigenden Ausflüge in Kaffees, die kräfteraubenden Gänge zum Gemeinschaftsfrühstück der AIDS-Hilfe oder den Einkauf im Supermarkt. Und er stellt ausführlich dar, wie sich David intensiv mit der Frage auseinandersetzt, ob das Aneurysma in seinem Gehirn operativ entfernt werden könne, und wie er damit die Hoffnung auf eine Wiedererlangung seines Sehvermögens verbindet. Er hält die mehrfachen Klinikbesuche fest, die nötig sind, um die Optionen einer Operation auszuloten, um Ärzte zu konsultieren und schliesslich Spezialisten zu finden, die grundsätzlich zu einer Operation bereit wären. Er berichtet, wie er David zu diesen Terminen fährt und auf den Irrwegen durch die Kliniken begleitet. Und er erzählt, wie David in diesen Monaten nicht nur einen Herzinfarkt, sondern auch einen Schlaganfall erleidet und sich damit die Hoffnungen auf eine Operation verflüchtigen. Rainer Deppe gibt ausserdem seine Erinnerungen an Gespräche wieder, in denen sie auf Davids aktivistische Vergangenheit im Rahmen der Organisation Act-Up oder auch auf Fragen der Schwulenemanzipation zu sprechen kommen. Und nicht zuletzt lässt Rainer Deppe die Lesenden daran teilhaben, wie er Davids Beziehung zu einem Mann wahrnimmt, der früher Liebhaber und Partner war, heute noch Freund, Wohngenosse sowie seine Hauptunterstützungsperson ist. Die Erzählung endet mit dem Tod des betreuten Mannes nachdem Rainer Deppe ihn rund sechs Monate begleitet hatte.

Die letzten sechs Kapitel geben der Reflexion der Beziehung des Autors zu David sowie dem Entstehungskontext des Berichts Raum. Zum Schluss folgt eine kurze Darstellung der Aufgaben eines Homeworkers bei der Frankfurter AIDS-Hilfe und eine Skizze, wie die ehrenamtlich Tätigen auf ihre Aufgabe vorbereitet und ihrerseits begleitet werden.

Diskussion

Der Band darf für sich in Anspruch nehmen an eine Realität zu erinnern, die sich zunehmend aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verflüchtigen scheint: die Existenz von Menschen mit HIV und AIDS, deren Lebenslage und erschwerte Lebensführung. Der Bericht erinnert aber ebenso an die Existenz von Menschen, die bereit sind, auf freiwilliger Basis und ehrenamtlich Menschen in diesen herausfordernden Lebensumständen und -phasen zu begleiten und nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen.

Der teilweise sehr offene, ungeschützt verfasste Bericht gibt Einblick in die letzte Lebensphase eines mehrfach erkrankten Menschen und vermittelt, wie sehr auch diese letzten Monate Teil des Lebens sind. David gibt den Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung nicht auf und lebt entgegen alle Widerstände „sein Leben“. Rainer Deppe notiert: „Was mir gefällt, mich für ihn einnimmt, ist der anhaltende Kampf um seine Selbständigkeit unter extrem schwierigen körperlichen Zerfallsbedingungen“ (S. 59). David bricht damit mit dem kulturell vermittelten Bild des Abschiednehmens und bestätigt die Erfahrung aus den Lighthouses (Pflegeeinrichtungen, die aidskranken Menschen Palliativpflege anbieten und diese auch beim Sterben begleiten), dass aidskranke Menschen und insbesondere aidskranke schwule Männer gewissermassen bis zuletzt den Anspruch haben, ihr Leben zu leben – und dies beinhaltet auch gesellschaftlich gerne ausgeblendete Bedürfnisse wie jenes nach Liebe und Sex auszuleben. Dieses Leben ist es unter anderem dann auch, was den Homeworker zeitweise irritiert: Er erlebt mit, wie sich David für die Reize seines neuen Pflegers offen zeigt und die Anziehung, die vom jungen Mann auf ihn ausgeht, auch anspricht. Der Homeworker vermag dies nicht als Ausdruck eines anhaltenden Bedürfnisses oder als Fortsetzung eines über Jahrzehnte gepflegten Lebensstils zu verstehen, und qualifiziert den Flirt als Geplänkel in einem „Schwulenton“, der „frivol bis anzüglich, aber nicht besonders geistreich“ (S. 143) gewesen sei. Auch in anderen Kontexten wird deutlich, dass Davids Art der Beziehungsgestaltung den Homeworker immer wieder mit Unbekanntem konfrontiert, in ihm Fragen auslöst und ihn Situationen erleben lässt, die er nicht einfach einordnen kann. Das macht den Bericht interessant. Durch seine Offenheit lässt er deutlich werden, wie sehr selbst reflektierte Persönlichkeiten in ihrer Wahrnehmung und Bewertung von Beziehungen, Sex und Tod – just jenen Themen, die von HIV/AIDS zusammenführt werden – von gesellschaftlich vermittelten Vorstellungen geleitet werden, die in ihrem Kern heteronormativ sind. Zum Irritierenden gehört auch die Erfahrung, dass sich zwei Männer als Paar definieren, obwohl sie nur noch mit anderen (Gelegenheits-)Partnern Sex haben, oder „Liebespaare nach ihrer Trennung im Alltag weiterhin zusammen lebten“ (S. 124), wie dies im Fall von David und seinem Freund der Fall ist. Oder auch die Überlegung des Homeworkers, ob David wohl „der ‚männliche‘ Part in seinen Beziehungen war“ (S. 59) – was immer er damit konkret angesprochen haben mag. Weiter lassen die ungeschminkten Schilderungen von Rainer Deppe deutlich werden, wie er als Homeworker seine Beziehung zum schwerkranken Mann erlebt, wie sie sich entwickelt, und wie er merkt, dass er zwischen Gefühlen und Ansprüchen schwankt, die nicht immer angemessen sind.

Der Bericht, von dem man bis zuletzt – trotz aller klärenden Ausführungen zu deren Entstehung – nicht weiss, weshalb er nun veröffentlich wurde, gestaltet sich so als ein Dokument, das die Arbeit der Homeworker in einer ganz persönlichen Weise darstellt. Es dokumentiert die Herausforderungen aber auch die Gewinne einer solchen Arbeit. Den Professionellen im Feld bestätigt der Bericht, welche Bedeutung der Vorbereitung und Begleitung von ehrenamtlich tätigen Laien-Mitarbeitenden hinsichtlich der Gestaltung von Nähe und Distanz zu den betreuten Personen und des Umgangs mit Fremdem beizumessen ist.

Fazit

Diesen Bericht zu lesen lohnt sich – schlicht für alle, die sich für Menschen mit HIV/AIDS interessieren und auch die im öffentlichen Diskurs weniger präsenten Aspekte kennenlernen möchte. Die Lektüre ist zudem für Fachpersonen der Sozialen Arbeit, insbesondere für Verantwortliche in der Aids-Arbeit von Interesse.

Rezension von
Prof. Dr. Daniel Gredig
Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten
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Es gibt 6 Rezensionen von Daniel Gredig.

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Zitiervorschlag
Daniel Gredig. Rezension vom 09.01.2014 zu: Rainer Deppe: Die Liebe wirst du los, das Virus nie. Als Homeworker bei der AIDS-Hilfe. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2013. ISBN 978-3-95558-004-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14890.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.


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