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Markus Leibenath, Stefan Heiland u.a. (Hrsg.): Wie werden Landschaften gemacht?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.05.2013

Cover Markus Leibenath, Stefan Heiland u.a. (Hrsg.): Wie werden Landschaften gemacht? ISBN 978-3-8376-1994-2

Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hrsg.): Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften. transcript (Bielefeld) 2012. 280 Seiten. ISBN 978-3-8376-1994-2. 29,80 EUR.
Reihe: Kultur- und Medientheorie.

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Das Raumparadigma in der Landschaftsforschung

Die Klage, dass die „Raumexperten“, wie sie sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften darstellen, zu kurz kommen angesichts der Metadiskussion, die sich im Steinbruch der wissenschaftlichen kulturtheoretischen Wenden vollziehen (vgl. dazu: Jörg Döring / Tristan Thielmann, Hrsg.,: Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6606.php Christian Berndt / Robert Pütz, Hrsg., Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/6651.php), wird seit einigen Jahren insbesondere von der konstruktivistischen Forschung aufgenommen. Sie gründet auf der Überzeugung, dass „grundsätzlich … Kulturlandschaften sozial konstituiert sind“ und fragt danach, wer von Kulturlandschaft spricht, wie Kulturlandschaft kommuniziert wird und wer die Akteure in diesem Kommunikationsprozess sind. Die konstruktivistische, interpretative Landschaftsforschung will dabei sowohl Grundlagen für den Erkenntnisprozess von Landschaft legen, als auch Instrumentarien und Methoden bereitstellen, um eine kritische Auseinandersetzung zum menschlichen Umgang mit Raum und Landschaft theoretisch und praktisch leisten zu können.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

In der Berliner „Leibniz-Gemeinschaft“ haben sich 86 wissenschaftliche Forschungseinrichtungen zusammengeschlossen, die in den verschiedenen Bereichen der Natur-, Ingenieur-, Umwelt-, Wirtschafts-, Raum-, Sozial- und Geisteswissenschaften tätig sind und als Leibniz-Institute selbständig arbeiten. Sie erheben den Anspruch, grundlegende gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Fragestellungen in den Diskurs zu bringen, erkenntnis- und anwendungsorientierte Grundlagenforschung zu betreiben und die Rahmenbedingungen für den gesellschaftlichen Diskurs aufzuzeigen. Im Projektverbund „Konstituierung von Kulturlandschaften“ haben von 2008 bis 2012 mehrere Leibniz-Institute zusammen gearbeitet. Die Ergebnisse werden im Sammelband „Wie werden Landschaften gemacht?“ vorgelegt. Der gemeinsame Nenner der Forschungskooperation lässt sich im Statement verdeutlichen: „Wenn jegliche soziale Wirklichkeit sozial konstruiert ist und wenn das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, stets von der Perspektive des konstruierenden Beobachters abhängig ist, kann es keine beobachtungsunabhängige Erfahrung und Erkenntnis der Wirklichkeit geben“ (vgl. dazu auch: Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php).

Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung der Technischen Universität Dresden, Markus Leibenath, der Geschäftsführende Direktor des Instituts für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung an der Technischen Universität Berlin, Stefan Heiland, die Direktorin des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner, Heiderose Kilper und die Leiterin der Abteilung „Deutsche Landeskunde“ am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, Sabine Tzschaschel, geben den Sammelband heraus. Einig sind sich HerausgeberInnen und AutorInnen vor allem darin, dass konstruktivistische, interpretative Landschaftsforschung nicht Rezepte und Handlungsanweisungen für den individuellen, gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Landschaft und Raum liefern kann, sondern „Reflexionen befördern…, aber keine Antworten auf drängende Fragen wie beispielsweise die nach den Zusammenhängen zwischen Landnutzung und biologischer Vielfalt oder nach der Resilienz unterschiedlicher Ökosysteme gegenüber Klimaveränderungen geben kann“; vielmehr orientiert sich das Verständnis der konstruktivistisch-interpretativen ForscherInnen daran, „mit Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen in Interaktion zu treten und sie dazu zu bringen, ihre Werte zu hinterfragen und zu überprüfen“.

Aufbau und Inhalt

Neben dem einführenden Beitrag von Markus Leibenath reflektiert der Hamburger Literatur- und Medienwissenschaftler Ludwig Fischer in seinem Beitrag „Kulturlandschaft und Arbeit“ die (selbstverständlichen) Zusammenhänge, wie sie sich durch die Einwirkung menschlicher Tätigkeit ab der „Natur“ ergeben: „Landschaft ist, als eine bestimmte Formation lebensweltlicher Umgebung, nach unserem neuzeitlich-abendländischen Verständnis… in uns erzeugte, leiblich von uns ‚gemachte‘ und zugleich gesellschaftlich, historisch geprägte Vorstellung und gegenständliches Ensemble unserer Umgebung“. Der sich daraus ergebende Wechselvollzug von Natur und Arbeit zeigt sich im „Doppelgesicht von zweckbestimmter Planung, Materialbearbeitung, Gestaltung einerseits und Erzeugung nicht intendierter Effekte andererseits“.

Die Leiterin der vom BMBF geförderten Forschungsnachwuchsgruppe „PoNa- Politiken der Naturgestaltung. Ländliche Entwicklung und Agro-Gentechnik zwischen Kritik und Vision“ an der Lüneburger Leuphana-Universität, Tanja Mölders, diskutiert am Beispiel des Biosphärenreservats Mittelelbe Phänomene von „Natur- und Kulturlandschaften zwischen Einheit und Differenz“. Die thematisiert die problematische Unterscheidung von Natur- und Kulturlandschaft und zeigt auf, dass diese unterschiedlichen Betrachtungs- und Zugangsweisen sich nicht nur in der Natur- und Kulturpolitik ablagern, sondern auch im individuellen und gesellschaftlichen Denken und Handeln darstellten „Eine visionäre Perspektive für eine Naturpolitik, die Landschaft als Natur-Kultur-Hybrid begreift und als Ausdruck gesellschaftlicher Naturverhältnisse herrschaftsfrei zu gestalten sucht, bietet der Entwurf einer konstruktivistischen Landschaftstheorie“.

Die Geografin am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, Monika Micheel, berichtet in ihrem Beitrag „Subjektive Konstruktion von (Kultur-)Landschaft in der Alltagspraxis“ über Forschungsergebnisse zu Vorstellungen zur Bedeutung und Funktion, die einer (Kultur-)Landschaft von Individuen in ihrem alltagsweltlichen Denken und Handeln zugeschrieben werden. Dabei wird, am Beispiel von ausgewählten Landschaften, die alltagssprachlichen Benennungen analysiert. Es zeigt sich, dass die Menschen überwiegend Landschaft eher unbewusst und als selbstverständlichen Lebensraum wahrnehmen, als „Wohlfühlraum“ verstehen und einfordern: „Landschaft wird in der Regel als konkreter Ort gedacht, der vorrangig mit einer Freizeit- oder Erholungsfunktion verknüpft wird“; unschwer ergibt sich daraus, dass diese alltagsweltlichen Selbstverständlichkeiten in der gesellschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung einer intensiven Aufmerksamkeit bedarf, soll im Bewusstsein der Menschen Landschaft mehr sein als „nur“ ein (passiver) „Bereitstellungsraum“.

Im Fachgebiet Landschaftsplanung und Landschaftsentwicklung der TU Berlin ist die Geografin Wera Wojtklewicz tätig. Sie und Stefan Heiland fragen sie in ihrem Beitrag „Welche Bedeutungen hat Landschaft?“, indem sie über Untersuchungen informieren, wie sich Landschaftsverständnisse in der kommunalen Landschaftsplanung zeigen. Anhand der verschiedenen Bedeutungszuschreibungen und Planungsmuster wird deutlich, dass (eher kurzfristig orientierte) „ökologische“ Aspekte im Vordergrund stehen, während prozessorientierte Sichtweisen weniger berücksichtigt werden. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass in der kommunalen Landschaftsplanung ein anderes gesellschaftliches Handeln notwendig wäre, „das stärker vom Streben nach Lebensqualität, Gerechtigkeit und Zukunftssorge bestimmt (sein sollte) als vom Streben nach fortwährendem materiellen Wachstum in einem entfesselten, global wirksamen Kapitalismus“.

Heiderose Kilper und Ludger Galling begründen in ihrem Beitrag „Die politische Konstruktion von Kulturlandschaften als kollektive Handlungsräume“ am Beispiel der Dessau-Wörlitzer Kulturlandschaft ihre These, „dass sich erst über das raumbezogene Handeln von Akteuren sowie über Mechanismen ihrer Koordination Räume konstituieren“. Es zeigt sich in der Betrachtung der Wirkungsweisen der Institutionssysteme der Denkmalspflege, des Naturschutzes und der Regionalen Entwicklungspolitik, dass „die kulturlandschaftsbezogenen Governance-Formen, die sich dabei herausbilden, ( ) auch geprägt (sind) von den physisch-materiellen Realitäten, die sie schützen und bewahren, nutzen, entwickeln und gestalten wollen“.

Markus Leibenath und die an der Universität Potsdam tätige Geografin Antje Otto stellen die Ergebnisse einer Fallstudie über „Windräder in Wolfhagen“ vor und thematisieren dabei, wie sich Landschaften über Diskurse konstituieren. Es sind die unterschiedlichen, sachlichen, emotionalen und ideologischen Standpunkte, die sich bei den Auseinandersetzungen um Landschaftsnutzung und -bewahrung zeigen und Diskurs- zu Machtstrukturen werden lassen: „Dadurch, dass die Diskurse machtförmig sind, sind die darin produzierten Landschaftskonzepte hochgradig politisch“.

Olaf Kühne, der als Stiftungsprofessor für „Nachhaltige Entwicklung“ an der Europäischen Akademie Otzenhausen der Universität des Saarlandes lehrt, nimmt mit seinem Beitrag „Macht und Landschaft“ die Herrschaftsaspekte auf, wie sie sich durch die Konstruktionen von Experten und Laien ergeben. „Angeeignete physische Landschaft entsteht … durch das Diktat des als ökonomisch geboten Definierten, modifiziert durch sozialgemeinschaftlich durchgesetzte … Normen und Werte, in den Grenzen politisch-administrativer Durchsetzungsmacht, manifestiert im rechtlich Gestatteten und Verbotenen unter der ästhetisierenden Konstruktion des Bewusstseins auf Basis gesellschaftlicher Normensysteme“.

Fazit

Die Konstitution von Kulturlandschaften unterliegt, das zeigen die unterschiedlichen theoretischen Reflexionen und die Untersuchung von konkreten Landschaftsbeispielen, vielfältigen individuellen, gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und historischen Einflüssen, Wirklichkeiten und Ideologien. Die Rufe nach einem Perspektivenwechsel werden lauter (vgl. dazu auch: Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft. Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13258.php). Deshalb kann eine konstruktivistische, interpretative Landschaftsforschung, bei Heranziehung der Sprache als wirklichkeitskonstituierende Kraft, ein Bewusstsein transportieren, dass „Landschaften… nicht einfach ‚gemacht‘ oder ‚geplant‘ werden (können); sie sind in demokratisch verfassten Gesellschaften immer ein komplexes Feld gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse“.

Für Sozialgeografen, Planungswissenschaftler, Politiker und Praktiker bietet der Sammelband eine Fülle von Hinweisen und Diskussionsanlässen zur Frage, was „Landschaft“ für Menschen Hier, Heute und Morgen konstituiert.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 04.05.2013 zu: Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hrsg.): Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften. transcript (Bielefeld) 2012. ISBN 978-3-8376-1994-2. Reihe: Kultur- und Medientheorie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14903.php, Datum des Zugriffs 02.04.2023.


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