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Markwart Herzog (Hrsg.): Memorialkultur im Fußballsport

Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 21.08.2013

Cover Markwart Herzog (Hrsg.): Memorialkultur im Fußballsport ISBN 978-3-17-022554-1

Markwart Herzog (Hrsg.): Memorialkultur im Fußballsport. Medien, Rituale und Praktiken des Erinnerns, Gedenkens und Vergessens. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2013. 447 Seiten. ISBN 978-3-17-022554-1. 29,90 EUR.
Reihe: Irseer Dialoge - Band 17.

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Herausgeber

Dr. Markwart Herzog ist Religionsphilosoph, Sporthistoriker und Direktor der vom Bezirk Schwaben und dem Schwäbischen Volksbildungsverband getragenen „Schwabenakademie Irsee“. Seit vielen Jahren, vor allem seit seinem Buch „Fußball als Kulturphänomen“, Stuttgart 2002, erkennt er im Spiegel des Fußballspiels die ganze Welt. Herzog verkörpert für deutsche Verhältnisse das Musterbeispiel eines „Fußballintellektuellen“.

Entstehungshintergrund

Das Buch ist das Produkt der 10. wissenschaftlichen Fachtagung innerhalb der von der Schwabenakademie Irsee veranstalteten Reihe „Sterben, Tod und Jenseitsglaube“.

Fragestellungen

  • Wie nimmt man Abschied im Fußball? Durch Gedenkrede und Schweigeminute, durch Minutenapplaus und Trauerflor. -
  • Wie bleiben vergangene Spiele und Spieler in Erinnerung? Durch Ruhmeshallen, Museen und Memorials; durch die Namensgebung von Straßen und Sportstätten; durch Film, Funk, Internet. -
  • Wie ehrt man heutige Mannschaften und Athleten nach großen Erfolgen und macht sie damit für zukünftige Generationen erinnerungswürdig? Durch Auszeichnungen, Fan-Hymnen und Helden-Stories. -
  • Wie erinnert man an Sportler, die den „sozialen Tod“ gestorben sind, weil politische Regime die Auslöschung ihres Namens betrieben haben? Man fordert die politische Rehabilitierung, schreibt Wettbewerbe und Preise aus, durch die uns die Verfemten wieder näher gebracht werden sollen. Randbemerkung: Selbst unter den Fußballbegeisterten in Deutschland kennt heute kaum einer noch den Namen des Rekordtorschützen der deutschen Fußballnationalmannschaft. Gottfried Fuchs hat 1912 in einem Länderspiel gegen Russland 10 Tore erzielt. Bis heute einsame Höchstmarke. Weil Fuchs Jude war, haben die Nazis seinen Namen aus den Annalen des Fußballs gestrichen. Erst seit wenigen Jahren ist seine Wiedererinnerung im Gange.

Identitätsstiftende Erinnerungsarbeit

Für die lokale und nationale Kollektividentität ist die Erinnerung an Fußballspiele sehr wichtig geworden. In Gelsenkirchen und Umgebung zehrt man mit jedem erfolglosen Jahr mehr von den sieben Meistertiteln des FC Schalke 04, deren letzter 55 Jahre zurückliegt. Für die Nachkriegs-BRD gilt der 4. Juli 1954 als Geburtstunde eines neuen „Wir-sind-wieder-wer“-Bewusstseins. An diesem Tag wurde die Auswahl des DFB mit einem 3:2-Sieg über Ungarn Fußballweltmeister in der Schweiz, ein Ereignis, das später die quasi-religiöse Umschreibung „Wunder von Bern“ erfahren hat, die heute eine allseits verständliche Redewendung ist. Wer damals 12 Jahre und älter war, dem kann man noch heute getrost die Frage stellen: „Wo waren Sie, als das 3 zu 2 fiel?“ Und er wird exakte Angaben über Ort, Wetter und Stimmung machen können, die beweisen, dass dieses Datum zu den unvergesslichen Daten seiner Biografie zählt. Ähnlich lebhafte und detailgenaue Antworten auf die Frage „Wo waren Sie, als die Mauer fiel?“ wird man womöglich nicht erhalten.

Tradition als symbolisches Kapital

„Vergangenheit“, der Rohstoff der Erinnerung, ist für Fußballvereine ein wichtiges symbolisches Kapital. Mit dem Aufstieg in die Fußball-Bundesliga vor 5 Jahren änderte die Turn- und Sport-Gemeinschaft Hoffenheim ihren Namen, indem sie die Jahreszahl ihrer Gründung hinzufügte; seither heißt der Verein TSG 1899 Hoffenheim. Durch die Offenlegung der Herkunft aus dem 19. Jahrhundert will man dem Image eines von millionenschweren Sponsoren gepamperten „Instant-“ oder „Retortenvereins“ entgegen treten und für sich reklamieren, was die Konkurrenz stolz von sich behauptet: „Wir sind ein Traditionsverein.“ Erinnerte Langlebigkeit gibt offenbar ein Recht auf Gegenwart und Zukunft.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst fünf Kapitel mit insgesamt 19 Einzelbeiträgen, 4 davon in englischer Sprache. Biobibliografische Angaben zu den Autoren fehlen fast ganz.

Das erste Kapitel, Einleitung, ist 70 Seiten stark und das Fundament des gesamten Bandes. Schlüsselbegriffe und Erkenntnisinteresse werden erklärt. Schon zu Beginn des Buches fällt auf, was im weiteren Fortgang mit einer gewissen Einseitigkeit wiederkehren wird: Unter Memorialkultur wird vor allem Sepulkralkultur verstanden. Doch Bestattungs-Praktiken und Riten des Totengedenkens sind nur wenige Formen unter vielen, um das Zeitliche ins Überzeitliche zu überführen und das Vergangene gegenwärtig zu erhalten. Freilich sind es Formen, die zu makabren Anekdoten einladen: Dass man im Frankfurter Fußballstadion eine kleine Kapelle unterhält, wo „Eintracht-Hochzeiten“ und „Eintracht-Taufen“ stattfinden, gehört zur viel beschmunzelten Fan-Folklore. Allerdings hat man in Frankfurt, anders als beim HSV in Hamburg, noch keinen „Eintracht-Friedhof“. Aber „Eintracht-Särge“ und „Eintracht-Urnen“ bietet das Totengräber-Gewerbe bereits an. Adler Attila, so heißt das stolze Wappentier des Vereins, soll immer dabei sein, von der Wiege bis zur Bahre.

Gegenstand des zweiten Kapitels ist die Pflege von Erinnerung durch Fußballvereine und Fußballverbände. – Der FC Barcelona, Eintracht Frankfurt und die beiden Glasgower Clubs Rangers und Celtic werden in ihrer Erinnerungsarbeit unter die Lupe genommen. Als Verband kommt weder der DFB noch die UEFA zur Sprache, sondern allein der Weltfußballverband FIFA. In ihren Jubiläums- und Festschriften besingt die FIFA seit 100 Jahren die völkerverbindende und friedensstiftende Rolle des Fußballs: eine Memorialkultur des „Friede, Freude, Eierkuchen“.

Den „Fankulturen“ als Hüter der Erinnerung ist das dritte Kapitel gewidmet.

In dieser Abteilung des Buches entsteht der Anschein, als sei das, was wir heute „Fankultur“ nennen – vom rhythmischen Klatschen auf den Rängen über das kollektive Singen bis zur Stadion-Choreografie –, im Stadion an der Anfield Road zu Liverpool erfunden worden.

Der mit fast 40 Seiten umfangreichste Beitrag behandelt die Reaktionen auf den „Freitod“ von Robert Enke. Die seinerzeitige Nummer Eins im Tor der deutschen Fußballnationalmannschaft hatte sich im November 2009 vor einen Zug geworfen. An diesem außergewöhnlichen Todesfall allerdings Trauerrituale und die Erinnerungspflege deutscher Fußballfans exemplarisch demonstrieren zu wollen, ist fragwürdig. Im Fall Enke kam eine allgemeine „Volkstrauer“ zum Ausdruck, die viel mehr der Tragödie eines an Depression und Melancholie erkrankten jungen Menschen galt als dem Sportsmann und Nationaltorhüter.

In der Architektur von „Fußballstadien“ und in den Sammlungen der „Fußballmuseen“, Themen des vierten Kapitels, ist die Vergangenheit auch materiell gegenwärtig. – Am Beispiel von Amsterdam und Rotterdam schreibt das Buch eine vergleichende Stadtgeschichte als Stadion-Geschichte. Die wechselvolle Historie des „Foro Italico“ in Rom wird erzählt, vormals „Foro Mussolini“. Für den Bereich Museum werden wir ausführlich über den keineswegs geradlinigen Werdegang des „Eintracht Frankfurt Museums“ ins Bild gesetzt, von der ersten Idee bis zum derzeitigen Status.

Die politische Vereinnahmung und Manipulation von Erinnerung ist Thema des fünften und letzten Kapitels. – Über den Verein Arminia Bielefeld lesen wir, wie mit jüdischen Spielern und Vereinsangehörigen in der NS-Zeit umgegangen wurde. Die Arminia ist ein Mitläuferverein, wie viele andere Vereine es ebenfalls waren, auch in seinen Maßnahmen zur „Wiedergutmachung“ nach dem Krieg.

Exkurse in die Fußballlandschaften des ehemals reichsdeutschen Elsass und der böhmischen und sudetendeutschen Regionen der heutigen Tschechischen Republik dienen dem Nachweis der staatlich manipulierten Erinnerungspolitik.

Im letzten Beitrag des Buches geht es um „Kaltstellung“ und „Erinnerungslöschung“ im Fußball der DDR, ein auch 23 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht zu Ende geschriebenes Kapitel. Die Schicksale der DDR-Fußballsportler Jörg Berger und Lutz Eigendorf, die vielen noch bekannt sein dürften, waren nur die irre Spitze eines absurden Überwachungs- und Verfolgungs-Systems, das nicht nur sprichwörtlich über Leichen ging.

Geschichten machen Geschichte

Geschichte schreibt sich – auch – aus Geschichten. Darum ist darauf zu achten, welche Geschichten über den nunmehr 150jährigen Fußball erzählt werden. Geht es nur um Spielverläufe, Titelgewinne, Mannschaftsaufstellungen und Einzelkönner? Oder geht es auch um den Fußball als ein körperlich-mentales Können, das durch Talent und Übung zur Kunstfertigkeit vervollkommnet werden kann? Geht es auch um Spielstrategien als Spiegelbilder ihrer Zeit? Warum wurde gestern im 2-3-5-System gespielt und heute in einer 4-4-2-Formation? Wird der Fußball als „schönes Spiel“ erkannt und vom „hässlichen Fußball“ unterschieden? Was ist „linker“ Fußball, was „rechter“? Werden die kulturellen Rahmenbedingungen und politischen Umstände mitbedacht, unter denen die Wettkämpfe stattfinden? Basis jeder Erinnerungskultur im Sport sind die Wettkämpfe und deren Akteure, aber eben nur die Basis, die eines intelligenten Überbaus bedarf, damit das „Kulturphänomen Fußball“ als Schlüsselsymbol des Lebens in der Moderne verstanden werden kann

Fehl-Anzeigen

Das Buch verliert kein Wort über ein Verhalten von Millionen von Fußballfreunden, das geradezu auf Erinnerung angelegt sind: das Sammeln von Fußballbildern in eigens dafür angelegten Alben; das Sammeln von Autogrammen und Eintrittskarten; das Sammeln von Trikots und anderen Devotionalien. Für viele Dreißigjährige heute lebt der Fußball ihrer Kindheit in den Panini-Heften von damals weiter.

Wenn es eine Memorialkultur gibt, ist anzunehmen, dass es auch eine Kultur des Vergessens gibt, die aus mehr besteht als aus Niedertracht: Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit und infame Auslöschung. Im Buch erfahren wir darüber nur so viel: „Man muss vergessen, um erinnern zu können.“

Kleine sachliche Fehler fallen nicht weiter ins Gewicht. Der DDR-Leichtathlet Jürgen May wird als „Sprintweltrekordler“ vorgestellt; er war aber Mittelstreckler und hielt für kurze Zeit den Weltrekord über 1000 Meter. Lutz Eigendorf spielte nicht für Eintracht Frankfurt, wie es im Buch heißt, sondern für Eintracht Braunschweig. Vom Reichstrainer Josef Herberger heißt es, er habe mit seiner überfürsorglichen Schutzhaltung gegenüber seinen Nationalspielern im Krieg eine Art „Wehrkraftzersetzung“ betrieben. Soll hier im Nachhinein aus einem NSDAP-Mitläufer ein Widerstandskämpfer gemacht werden?

Fazit

Das Buch ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg, den Fußball von einer verachteten bis belächelten Randerscheinung des frühen 20. Jahrhunderts zu einem anerkannten Kulturgut im 21. Jahrhundert zu machen, das in Politik, Wissenschaft und Kunst gewürdigt wird. Einerseits kann man dafür plädieren, die Rituale und Praktiken des Erinnerns, Gedenkens und Vergessenes in der Welt des Fußballsports weiter zu erforschen. Andererseits möchte man davor warnen, ein nischenwissenschaftliches Sonderinteresse ausführlich zu verfolgen. Lieber die Kirche im Dorf und den Fußball auf dem Hektar Wiese lassen, auf dem er gespielt wird! – Dem Rezensenten in seiner Rolle als Wissenschaftler wäre Ersteres lieber; als aktiver Freizeitkicker schlägt sein Herz für die zweite Option.

Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Es gibt 102 Rezensionen von Klaus Hansen.

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ISSN 2190-9245