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Thomas Strässle: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.04.2013

Cover Thomas Strässle: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt ISBN 978-3-446-24183-1

Thomas Strässle: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt. Hanser Verlag (München) 2013. 142 Seiten. ISBN 978-3-446-24183-1. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR, CH: 25,90 sFr.
Reihe: Edition Akzente.

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Gelassenheit ist mehr als ein Wort

In unserem Sprachschatz und -gebrauch finden wir immer wieder Begriffe, die wir selbstverständlich benutzen und auch zu wissen glauben, was sie bedeuten. Gehen wir der Sache auf den Grund, zeigt sich freilich die Mehrdeutigkeit, Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit des Ausdrucks, und es gelingt uns oft nicht, die tatsächlich gemeinte Bedeutung zu erklären. Solche Sprachsituationen werden dann meist mit Sprichwörtern belegt und damit wieder eingeordnet in ein Verständniskonzept, das ein Zusammenleben der Menschen ermöglicht: „Wenn Wissen und Gelassenheit sich ergänzen, bilden sich Harmonie und Ordnung“.

Der chinesische Philosoph und Dichter Tschuang-tse, der in der Zeit um 365 bis 290 v. Chr. lebte, hat die Eigenschaft und Lebenshaltung „Gelassenheit“ eingeordnet in die daoistischen und konfuzianischen Denkformen, die sich in den philosophischen Begriffen de = Tugend, dao = Weg, qi = Lebenskraft, shen = Geist, xin = Herz, Qi = Energie und Jing = Körperlichkeit darstellen. Der Hinweis soll deutlich machen, dass die Eigenschaft, die auch als Gleichmut, stoische Ruhe, Ausgeglichenheit, Beherrschtheit, Bedächtigkeit, Gefasstheit, Langmut, Selbstkontrolle, Zurückhaltung … bezeichnet werden kann, zu aller Zeit und in allen Kulturen und Sprachen der Welt vorfindbar ist. Es sind nicht selten Ausdrücke und Gesten, die „Gelassenheit“ und das Gegenteil davon, die „Getriebenheit“ und die „Besessenheit“, darstellen: Geöffnete Hand versus Faust, Schneiden versus Hacken, offener Gesichtsausdruck versus Zähne zeigen, aktives, selbstbestimmtes Wollen versus Gewolltwerden.

Nicht ohne Grund hat die Einstellung „Gelassenheit“ Konjunktur und erhält Aufmerksamkeit in den Zeiten der Ungewissheiten, Gefährdungen und Katastrophen, denen die Menschheit in der sich immer interdependenter, entgrenzender, kapitalistischer und neoliberaler entwickelnden Welt ausgesetzt sieht. Die Notwendigkeit, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 mit der Aufforderung in die Welt gebracht hat – „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ – verbindet sich nicht ohne Grund mit dem Nachdenken darüber, wie wir Menschen auf die lokalen und globalen Anforderungen und menschengemachten Veränderungsprozesse reagieren können; und zwar nicht in der (mittelhochdeutschen) wortgeschichtlichen Bedeutung von gelazen = gottergeben, sondern in der aktiven Auseinandersetzung, dass

Geist sich evolutionär entwickelt und menschliche Existenz im Diesseits einzumessen und zu begreifen ist: Der Mensch „ist grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen“ (Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Die Wunschvorstellung, gelassen zu sein und zu leben, wird nicht selten konterkariert durch Wirklichkeiten, die (scheinbare und tatsächliche) Zwänge im alltäglichen und gesellschaftspolitischen Leben der Menschen erzeugen. „Du hast gut reden – Sei gelassen! – angesichts des Drucks, der auf mir lastet!“; da wird der Ratschlag leicht zur Keule, weil es kaum möglich erscheint, gelassen zu agieren und zu reagieren. „Glitschig wie ein Fisch und zugleich stachelig wie ein Igel“, so zeigen sich wohlwollende oder auch unbedachte Empfehlungen und Anweisungen, wenn es um die Realisierung von wünschbaren Eigenschaften und Verhaltensweisen geht (siehe dazu auch: Markus Weingardt, Hrsg., Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/14664.php). Kann man gelassen sein, wenn Unruhe, Erregung, Überforderung und Stress vorhanden sind? An wen richtet sich eigentlich der Rat „Sei gelassen!“ – an den Gestressten, den Überforderten, den Aufgebrachten? Oder vielleicht nicht eher an jeden Einzelnen, in seinen Lebensbezügen, Einstellungen, Wünschen und Hoffnungen los lassen zu lernen, Abstand zu nehmen von einer „Habenmentalität“ und sich hin zu entwickeln zu einem „Seinsmodus“ (Erich Fromm), bei dem materielles Haben-Müssen kritisch bedacht werden kann (Harald Weinrich, Über das Haben. 33 Ansichten, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14000.php). Damit sind wir dann schon bei der Voraussetzung, Gelassenheit zu üben: „Lassen und gelassen werden: Beides beginnt beim eigenen Ich“.

Der Musiker und an der Zürcher Universität Literaturwissenschaft lehrende Thomas Strässle macht sich in dem Bändchen „Gelassenheit“ daran, den schwierigen Begriff auf Herkunft und Gebrauch zu untersuchen. Zustand oder Haltung, diesen Spagat gilt es zu analysieren und „mit Blick auf die Tradition für die Gegenwart zu konturieren“. Dem Essay legt der Autor die unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs zugrunde: Gelassen wäre man gern / Gelassen nimmt man etwas / Gelassen gibt man sich. Strässle begibt sich dabei nicht in den Stress, eine Anleitung zur Gelassenheit zu schreiben; vielmehr wählt er Situationen und Gelegenheiten aus, wie sich Gelassenheit in der historischen, kulturellen, philosophischen und alltäglichen Entwicklung zeigt und verstanden werden kann.

Aufbau und Inhalt

In insgesamt 13 Zugängen diskutiert der Autor die Vorkommens- und Verwendungsweisen des Begriffs anhand von literarischen, philosophischen und religiösen Texten und zeigt auf, wie sich Gelassenheit als „Akt des Lassens“, als „Arbeit am Ich“, als „Haltung“ und als „Technik“ darstellt und habhaft gemacht werden kann. Mit den Überschriften bei der Suche nach Gelassenheit wird gleichsam die Richtung vorgegeben: „Gelassenheit als Gebärde“, und zwar sowohl einer wahrhaftigen, glaubhaften und echten, als auch einer gespielten und falschen Geste. Es geht um das „Innen- und Außenleben eines Wortes“ im „Spannungsfeld von erstrebenswertem Gleichmut und bedenklicher Gleichgültigkeit“; es kommen ins Spiel die „Gegenbegriffe“, deren Bedeutung und Auslegung den Wert der Haltung erkennen lassen; es sind mystische Zuordnungen, die sich in der Feststellung ausdrücken: „Es ist schwierig, die Gelassenheit zu erlangen, doch nicht minder schwierig ist es, sie zu bewahren“; sie zeigt sich vor allem darin, dass „wahre Gelassenheit ( ) nach wahrhaftiger Arbeit am eigenen Ich (verlangt)“; es sind die Verwechslungen und falschen Fährten, die die Charaktereigenschaft allzu leicht in Polemik und moralische (Ab-)Wertungen geraten lässt und sich als „kalte Gelassenheit“ darstellt; es ist der Schopenhauersche Weg, dass die Welt in Wille und Vorstellung zerfällt und den Menschen als Schauspieler und Zuschauer werden lässt; es sind die Strategien und Erfahrungen, wie etwa die „Macht der Sanftmut“, die den Umgang mit Gelassenheit ermöglichen; wie auch das Mitgefühl, das sich nur in Freiheit und Würde entwickeln kann. „Die Gelassenheit hat ihre Zeit“, die es zu suchen, zu bedenken, zu erfahren und auszuhalten gilt. In der technisierten, programmierten und digitalisierten Welt, in der scheinbar die Zwänge und Gelegenheiten das Leben der Menschen bestimmen, gewinnt die Tugend Gelassenheit eine ganz neue Bedeutung. Los-Lassen anstelle der Habhaftmachung, und der anstrengenden Herausforderung, darüber sich im Klaren zu werden, dass der Mensch nicht alles machen darf, was er kann.

Fazit

„Du musst dein Leben ändern“ (Peter Sloterdijk) ist keine Metapher und keine Drohung; vielmehr hat der Begriff der Gelassenheit hier eine aktive Bedeutung; und zwar als „Passivitätskompetenz“, die (Weg-)Lassen nicht als Verlust und Mangel, sondern als Gewinn für ein gutes Leben versteht. Wir sind mitten drin in den engagierten und ansteigenden Diskurs, wie die Menschheit den ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Perspektivenwechsel zu vollziehen in der Lage ist (vgl. dazu auch: Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php). Die Besinnung und ein neuer Zugang zum uralten Begriff „Gelassenheit“ in der lokalen und globalen heutigen Zeit könnte bedeuten, dass „Ablassen von etwas, das einen bedrängt und beengt, aber auch als Zulassen von etwas, das sich zum Freiraum ausgestalten kann“.

Die literarischen, historischen und aktuellen Aufdeckungen über Begriff, Ausprägung und Wirklichkeit von Gelassenheit bieten überraschende wie bekannte Erkenntnisse darüber, wie Menschen die Eigenschaft und Tugend als Lebenshaltung erfahren können. Dass dies nicht in der Form eines Ratgebers geschieht, macht das Büchlein zu einer Entdeckung!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1669 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 26.04.2013 zu: Thomas Strässle: Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt. Hanser Verlag (München) 2013. ISBN 978-3-446-24183-1. Reihe: Edition Akzente. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14938.php, Datum des Zugriffs 08.10.2024.


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