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Ullrich Bauer (Hrsg.): Divergentes Altern

Rezensiert von Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter, 09.09.2013

Cover Ullrich Bauer (Hrsg.): Divergentes Altern ISBN 978-3-88619-826-9

Ullrich Bauer (Hrsg.): Divergentes Altern. Argument Verlag (Hamburg) 2013. 116 Seiten. ISBN 978-3-88619-826-9. 15,50 EUR.
Reihe: Jahrbuch für kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften - 48.

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Thema

Nach dem in den vergangenen Jahren unter der Leitformel des Differenziellen Alterns die Unterschiedlichkeit von Alternsprozessen hervorgehoben wurde, wird nun mit dem Divergenten Altern ein neues Schlagwort in den gerontologischen Diskurs geworfen. Der semantische Unterschied lässt aufhorchen: Differenzielles Altern steht für potenzielle Heterogenität, Vielfalt und Buntheit. Mit der Betonung der Divergenz wird nun das Augenmerk auf das Gegensätzliche und Auseinanderstrebende gerichtet. Im Editorial ist u.a. von Debatten über „Ressourcen, die zur Verfügung gestellt bzw. eingeschränkt werden“ (S. 5) und von einem „Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen Entscheidungen und individuellen Bedürfnissen“ (S. 7) die Rede. Ob und inwieweit die Debatten um Inklusion und Exklusion oder um Integration und Segregation im Alter (bzw. in den verschiedenen Lebensphasen im Alter) unter dem Label des Divergenten Alterns eingefangen werden können, wird auch davon abhängen, ob es gelingt, dieses Schlagwort theoretisch-konzeptionell zu rahmen und empirisch zu fundieren.

AutorInnen und Autoren

  • Dr. Ullrich Bauer ist Professor für Sozialisationsforschung an der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg Essen.
  • Dr. Ingo Bode ist Professor für Sozialpolitik mit dem Schwerpunkt organisationale und gesellschaftliche Grundlagen am Institut für Sozialwesen an der Universität Kassel.
  • Tine Buffel, PhD, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Social Sciences der University of Manchester (UK) und Dozentin an der Vrije Universiteit Brussel (B).
  • Chris Phillipson, PhD, ist Professor für Soziologie und Soziale Gerontologie an der School of Social Sciences der University of Manchester (UK).
  • Agnieska Satola, MA, ist Soziologin und Doktorandin am Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt und Dozentin an den Fachhochschulen in Fulda und Frankfurt.
  • Thomas Scharf, PhD, ist Professor für Soziale Gerontologie und Direktor des Irish Centre for Social Gerontology an der National University of Ireland Galway.
  • Dr. Barbara Weigl ist als Diplom-Gerontologin und Diplom-Pädagogin Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Pflegemanagement der Ev. Hochschule Berlin.
  • Dr. Birgit Wolter ist Architektin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologische Forschung e.V. in Berlin.
  • Michael Zander ist Diplom-Psychologe und Doktorand an der Freien Universität Berlin.

Entstehungshintergrund

Die hier vorliegende Ausgabe des Jahrbuches für kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften geht auf einen Call for Papers der Redaktion des Jahrbuches aus dem Jahre 2011 zurück, in dem um theoretische und empirische Beiträge zum „Spannungsverhältnis zwischen privatwirtschaftlichen Interessen und gesellschaftlich auszuhandelnden Politikzielen“ gebeten wurde. [1]

Aufbau und Inhalt

Das Jahrbuch umfasst nebst Editorial insgesamt sechs Beiträge:

Ingo Bode problematisiert den Begriff der „Ökonomisierung der Pflege“, dessen Bedeutungsgehalt je nach persönlichem Gusto zwischen einer positiv konnotierten Modernisierung im Sinne sozialwirtschaftlichen Managements und einem eher negativ attribuierten „kolonialisierendem“ Übergreifen wirtschaftlicher Handlungs- und Steuerungslogiken auf andere (z.B. lebensweltliche) Bereiche variiert (S. 9f.). Er zeigt am Beispiel der Altenhilfe und im Rekurs auf die von Max Weber vorgenommene Unterscheidung von Erwerbs- und Bedarfswirtschaft auf, wie sich die gesellschaftlich organisierte Daseinsvorsorge von einer „vormals (eher) bedarfsorientierten zu einer (verstärkt) erwerbswirtschaftlich strukturierten Versorgung“ entwickelt (S. 11). Die Ökonomisierung der Altenhilfe verläuft nach Bode im Wesentlichen in den vier Dimensionen der Defamilisierung, Rationierung, Vermarktlichung und Taylorisierung und führt dazu, dass die Praxis der Altenhilfe der öffentlich proklamierten Norm des „würdigen Alterns“ oftmals nicht entsprechen kann (S. 19). Mit Blick auf die sozial ungleich verteilten sozialen und ökonomischen Ressourcen und Kapitalien in den verschiedenen sozialen Milieus hält der Autor eine „soziale Spaltung der Altenhilfe“ für „ein gar nicht unrealistisches Zukunftsszenario“ (S. 25), was er u.a. darin begründet sieht, dass auch künftig viele (Pflege-)Belastungen lebensweltlich aufgefangen werden müssen und wohlhabendere Akteure möglicherweise stärker vom „Care Drain“ profitieren und vermehrt auf informelle und semi-professionelle Pflege- und Haushaltskräfte aus anderen (oftmals osteuropäischen) Ländern zurückgreifen werden.

Der hier angesprochene „Care Drain“ steht dann im Mittelpunkt des Beitrages von Agnieszka Satola. Sie befasst sich in ihrem Aufsatz über die „Komplexität und die Paradoxien des Handelns in der häuslichen Pflege am Beispiel der Pflegemigration von polnischen Frauen“ mit der Situation der so genannten „Live-ins“, die als illegal oder irregulär beschäftigte Migrantinnen im Hause der von ihnen zu Pflegenden wohnen und arbeiten und meist die ganze Zeit für Pflege und Betreuung zur Verfügung stehen. Auf der Grundlage von Ergebnissen ihrer Dissertation berichtet sie aus der Perspektive der interaktionistischen Professionsforschung über die umgekehrten Asymmetrien und Machtgefälle in den Pflegebeziehungen illegaler Haushalts- und Pflegearbeit. Sie zeigt, wie die „Live-ins“ in pseudofamiliale Strukturen eingebunden werden und in die Rolle von „als ob-Kindern“ schlüpfen. Dabei werden sie zugleich auch zu Mitbetroffenen der Leidensprozesse ihrer Klientinnen und Klienten und es hängt von den jeweiligen persönlichen Kompetenzen der pflegenden Frauen ab, ob und inwieweit „sie sich von den KlientInnen oktroyieren bzw. dominieren und in die künstlichen, quasi-freundschaftlichen bzw. quasi familiären Strukturen einbeziehen lassen oder ob sie sich davon distanzieren können.“ (S. 39)

Thomas Scharf, Tine Buffel und Chris Phillipson schildern in ihrem Beitrag die „Erfahrungen mit der sozialräumlichen Exklusion und Inklusion älterer Menschen in sozialbenachteiligten innerstädtischen Nachbarschaften von Belgien und England.“ Sie stützen sich auf die Ergebnisse zweier in England und Belgien durchgeführten qualitativen Studien, in denen auf der Grundlage von 124 Tiefeninterviews mit älteren Menschen aus einem ethnisch diversen Sample in sozialbenachteiligten Stadtteilen deren Lebensqualität analysiert wurde. Dabei haben sie mit den Erfahrungen mit den Veränderungen in der Nachbarschaft (u.a. verändertes Heimatgefühl und Verluste von Zusammengehörigkeiten aufgrund der nachbarschaftlichen Fluktuationen im Stadtviertel), der subjektiven Sicherheit (u.a. Erfahrungen mit und Ängsten vor Kriminalität), der Gestaltung des städtischen Raums (u.a. geschlechterdifferente Aneignung öffentlicher Räume) und den Kontrollstrategien (u.a. Vermeidungsstrategien und vorbeugende Maßnahmen zur Risikominimierung) vier Themenbereiche herausgearbeitet, mit denen die von ihnen befragten Älteren die sozialräumlichen Inklusions- und Exklusionsdimensionen umrissen haben. Entsprechend fordern sie die Übernahme zentraler Rollen und Mitentscheidungen von älteren Menschen bei künftigen Plänen und Maßnahmen zu Stadtentwicklungen (z.B. bei Planungen von Investitionsmaßnahmen, neuen Verkehrslinien, Wohnungen).

Birgit Wolter zielt in ihrem Beitrag „Nachbarschaft: förderliche und hinderliche Effekte auf die Gesundheit älterer Menschen“ auf den Zusammenhang von sozialem Kapital und Gesundheit. Wenngleich Wohnumfeld und Nachbarschaft als potenziell gesundheitsförderliche Ressourcen gesehen werden, gilt auch zu bedenken, dass insbesondere hochaltrige und fragile ältere Menschen ihre nachbarschaftlichen Netzwerke oftmals nur schwer aufrecht erhalten können und dass sich die Nachbarschaftsverhältnisse zu Unterstützungs- und Abhängigkeitsverhältnissen verändern können. Und so hält es Wolter für „fragwürdig, ob sozialräumliche Konzepte, die auf den nachbarschaftlichen Austausch von Ressourcen und die Unterstützung über Milieugrenzen hinweg innerhalb eines Quartiers basieren, einen Ansatz darstellen, der unterstützungsbedürftigen älteren Menschen tatsächlich zugutekommt.“ (S. 80).

Barbara Weigel setzt sich mit den „Potenziale(n) und Fallstricke(n) der Ansätze des Dritten Sozialraums“ auseinander. Sie bezieht sich auf die von Klaus Dörner proklamierte und unter dem Terminus des Dritten Sozialraums gefasste generationsübergreifende Kultur des Helfens [2], in der ebenfalls der Nachbarschaft ein zentraler Stellenwert zugewiesen wird. Die Autorin geht der Frage nach, ob und inwieweit sich dieser auf zivil- und bürgerschaftlichem Engagement fußende Sozialraum als Gegenkonzept zu einem markt- und dienstleistungsorientierten Hilfe- und Pflegesystem entwickeln kann. Sie deckt die Schwächen dieses „Konzeptes“ auf und schlussfolgert die Befürchtung, „dass ein 3. Sozialraum lediglich zur Abfederung sozialstaatlicher Defizite instrumentalisiert werden wird.“ (S. 96)

Michael Zander befasst sich in seinem Beitrag über die „Psychologie der Selbstbestimmung“ mit dem Kontrollansatz von Schulz[3] und der Self-Determination-Theory (SDT) von Deci und Ryan. [4] Beide Ansätze bilden seiner Meinung nach das Bedürfnis nach Autonomie nur unzureichend ab. Er unterscheidet zwischen Selbstbestimmung und Selbstständigkeit und verweist darauf, dass „[e]twas nicht selbst tun zu können, (…) nicht notwendigerweise (heißt), darüber nicht selbst entscheiden zu können.“ (S. 107) Zander kritisiert, dass in den von ihm skizzierten Studien zum Pflegethema die Pflegebedürftigen als Subjekte kaum vorkommen und Autonomie nicht als Wunsch, sondern als Ergebnis professionellen Handelns erscheint und es dabei ausgeblendet bleibt, dass Autonomie ein Resultat konflikthafter Entwicklungsprozesse sei. (S. 112)

Diskussion und Fazit

Um gar keinen Zweifel aufkommen zu lassen, sei gleich gesagt, dass aus Sicht des Rezensenten alle sechs in diesem Jahrbuch zusammengetragenen Beiträge durchaus lesenswert und Erkenntnis bringend sind. Sie umspannen auch allesamt Fragestellungen und Themenbereiche, die unter der Klammer eines „Divergenten Alterns“ gefasst werden können. Und dennoch bleibt ein leicht unbefriedigender und irritierender Eindruck, weil das hier eingeführte Label nicht näher begrifflich gefasst wird. Es bleibt offen, was alles zum Divergenten Altern gehört und was nicht. Und es bleibt offen, warum gerade die hier aufgegriffenen Frage- und Themenstellungen (Ökonomisierung der Pflege, Pflegemigration polnischer Frauen, sozialräumliche In- und Exklusionen älterer Menschen, Nachbarschaften, Dritter Sozialraum, Autonomie von Pflegeheimbewohnern) in den Fokus gerückt werden und andere (wie z.B. nach Armut und Reichtum im Alter, nach Drittem und Viertem Alter) ausgeklammert bleiben.

Ein Jahrbuch ist nach der Bedeutung des Dudens ein jährlich erscheinender Band zu einem bestimmten Fachgebiet – in diesem Fall für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften – und es hat durchaus (auch) die Aufgabe, aktuelle Diskussionen des Faches aufzugreifen und zu debattieren. Wenn das hier unter dem namensgebenden Etikett des Divergenten Alterns geschieht, erweckt das Neugier auf die Beantwortung der Frage, was im aktuellen kritischen medizin- und gesundheitswissenschaftlichen (oder auch sozialgerontologischen) Diskurs an Überlegungen, Konzepten, Modellen oder gar Theorien zum Divergenten Altern vorliegt und wie diese Ideen aufeinander bezogen sind und wie sie miteinander korrespondieren. Aber diese Neugier wird nicht befriedigt. Die Erwartungen des Rezensenten waren vielleicht zu hoch. Er hätte es für wünschenswert erachtet, eben diese Divergenz theoretisch – zumindest konzeptionell – stärker zu konturieren und nicht nur an einigen ausgewählten Bereichen empirisch zu exemplifizieren. So bleibt der Eindruck der Beliebigkeit und das Jahrbuch erscheint als bloßer Sammelband. – Das ist schade, denn das Thema des Divergenten Alterns beherbergt Aktualität und Brisanz, die über den hier gewählten Lichtkegel hinausreicht. Divergentes Altern ist Ausdruck der kulturellen Plastizität des Alterns und bewegt sich immer auch im Spannungsbogen einer culture of otherness, eines möglichen „anderen Alterns“, eines Alterns jenseits dessen, was uns der gegenwärtige hegemoniale Diskurs des erfolgreichen, aktiven und produktiven Alterns als Leitformel für ein gelingendes Leben im Alter vorzugeben scheint. Damit rücken dann auch existierende Formen von Abweichungen von den eigentlichen, bekannten oder vertrauten Formen des Älterwerdens und Altseins in den Fokus. Und das eröffnet ein weites Spektrum von Divergenz, das sich von sozialen Exklusionen (z.B. aus sozial relevanten Bereichen, Positionen) und erzwungenen Inklusionen (z.B. in sozial segregierte Gruppen) bis hin zu bewusst und freiwillig eingegangenen „subversiven“ oder „dissidenten Partizipationen im Alter“ erstreckt.


[1] Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften (JKMG) (o.J.): Call for Papers „Divergentes Altern“. www.dggg-online.de/aktuelles/pdf/2011_Call_divergentes_Altern.pdf (Download 27.05.2013)

[2] Dörner, Klaus (2007): Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. Neumünster: Paranus.

[3] Schulz, Richard (1976): Effects of Control and Predictability on the Physical and Psychological Well-Being of the Institutionalized Aged. In: Journal of Personality and social Psychology 33/3: 563-573.

[4] Deci, Edward L.; Ryan, Richard M. (2000): The „What“ and „Why“ of Goal Pursuits: Human Needs and the Self-Determination of Behavior. In: Psychological Inquiry 11/4: 227-268.

Rezension von
Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter
Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Integration und Partizipation Professur für Altern und Soziale Arbeit
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Es gibt 12 Rezensionen von Klaus R. Schroeter.

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ISSN 2190-9245