Alf Hellinger: Die Wiedergewinnung der Zukunftsorientierung in der Pädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Evers, 18.12.2013
Alf Hellinger: Die Wiedergewinnung der Zukunftsorientierung in der Pädagogik. Eine differenzierungstheoretische Revision des modernen Erziehungsbegriffes. Rückbesinnung - Weigerung - Wiederaneignung.
Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2013.
415 Seiten.
ISBN 978-3-8340-1151-0.
D: 36,00 EUR,
A: 37,10 EUR,
CH: 47,90 sFr.
Reihe: Horizonte - Band 1.
Thema
Die Würdigung kann grundsätzlicher kaum sein: „Im Kontext von Sozialisationsverhältnissen, die die Herausbildung eigensinniger Persönlichkeitsstrukturen erkennbar gefährden, wird der Erziehung wieder die ihr zukommende basale Bedeutung im Prozess der Subjektwerdung zugewiesen, die ihr in der gegenwärtigen Gesellschaftspolitik verweigert wird.“ Es gehe dem Verfasser, Alf Hellinger, um nichts weniger als die „Rückeroberung des Zukünftigen“ – so fasst Armin Bernhard, der die vorgelegte Dissertation begleitet hat, das Anliegen des Textes nachdrücklich zusammen. Grund genug, die Arbeit Hellingers als Eröffnungsband in der Reihe „Horizonte – Studien Kritische Pädagogik“ zu veröffentlichen. Kritischem Denken, insbesondere in Qualifizierungsarbeiten, soll mit dieser Reihe eine Plattform geboten werden. Und in der Tat löst die Arbeit Hellingers den Anspruch ein, der Einsinnigkeit, Oberflächlichkeit und Beliebigkeit kritisch entgegenzutreten: eigensinnig, kritisch-analytisch und reflektiert urteilend bearbeitet sie die Zukunftsvergessenheit der Pädagogik unter dem Eindruck des „Technopols“.
Aufbau
Dem Grunde nach geht es darum, der Pädagogik – als Theorie und Praxis der Freiheit – den Ort wieder zu geben, den ihr die Gegenwartskultur verweigert. Medien und Technik dominieren die Öffentlichkeit, vereinnahmen subjektive Erfahrungselemente und machen ein Ende mit der pädagogischen Handlungsfähigkeit. Die medien- und kulturkritische Provenienz dieser Position ist deutlich: Die kulturell begründete Gemeinschaft der Vielen basiert auf instrumenteller Gewalt und dem exklusiven Geheimnis der Macht, das die Kultur trägt. „Unter dem Technopol gibt es keine Medienpädagogik“ formuliert folgerichtig eine letzte Teilüberschrift im Mittelteil der Arbeit, wie es auch „kein richtiges Leben im falschen“ gibt. Ihm setzt Hellinger die „erneute Anstrengung des Begriffs, die Rückbesinnung auf Ideale und also pädagogischen Optimismus entgegen“. Es gehe vor diesem Hintergrund darum, auf den „Aufbau einer produktiven Basispersönlichkeit“ hinzuwirken und dafür den „pädagogischen Optimismus wiederzugewinnen“.
Es sind drei Schritte, die zu diesem Anspruch und seiner pädagogischen Einlösung in Hellingers Aufklärungsprojekt führen sollen. Hellinger selbst bestimmt sie als „das, was war“, „das, was Sache ist“ und „das, was sein könnte“ (373):
- eine historisch-systematische Untersuchung des Paradigmas der frühbürgerlichen Pädagogik,
- die medienökologische Problematisierung der technologischen Zurichtung des Erzieherischen nach Maßgabe der instrumentellen Vernunft und
- die erziehungsphilosophische Aufdeckung von Anknüpfungspunkten für die Wiederherstellung eines modernen pädagogischen Bewusstseins.
Inhalt
Was war, präziser: Was hätte sein können – identifiziert Hellinger in Auseinandersetzung mit Trapp, Kant und Herbart: „drei Stationen des modernen pädagogischen Denkens, das progressiv auf die Vollendung der Menschwerdung und die Verwirklichung des Menschseins in einer humanen Gesellschaft hin orientiert war“ (25). Grundlegend wird das Scheitern dieser Projekte an der gesellschaftlichen Praxis und insbesondere an der „elektroästhetischen Gegenaufklärung“ beschrieben.
Das, was ist – die Stillegung der pädagogischen Handlungsfähigkeit durch das Technopol – entwickelt der Mittelteil der Arbeit. Technik und Medienkultur behaften die Individuen bei der Gegenwart. Der ideologische instrumentelle Charakter der Technik wird nicht erkannt: „Massenmedien sind [aber] keine Werkzeuge, sondern das kulturelle Klima der instrumentellen Vernunft“ (263). Sie suggerieren, dass zwischenmenschliche Auseinandersetzung – Basis der Subjektwerdung – ohne Mühe, Anstrengung oder Arbeit möglich sei und verhindern letztlich die angestrebte Mündigkeit.
Dem setzt Hellinger eine Pädagogik der „Selbst-Inwertsetzung“ entgegen. Er entwickelt pädagogische Prinzipien wie Aspekte des erzieherischen Handelns unter den Gesichtspunkten des Hinwirkens und Mitwirkens. Die Mündigkeit des werdenden autonomen Subjekts steht im Mittelpunkt. Bedingung für die Wiederherstellung der pädagogischen Handlungsfähigkeit: Die Lockerung der Technikfixierung (was mehr ist als Technikfixiertheit)
Diskussion und Fazit
Für diese erneuerte Pädagogik wählt Hellinger durchgängig den Erziehungsbegriff. Nicht die Selbstbildung, sondern das verantwortete pädagogische Arrangement und das kritisch reflektierte Handeln der Pädagoginnen und Pädagogen stehen zur Diskussion ,wenn es darum geht die Fixierungen und Limitierungen zu lösen, die gesamtgesellschaftlich die Sozialisation determinieren. Dass bei der Identifikation gefährdender Sozialisationsbedingungen in den elektronifizierten Räumen der Gegenwartsgesellschaft Theoreme von Habermas und Adorno entscheidende Bedeutung haben, verwundert nicht. Bemerkenswert ist aber die Breite der einbezogenen Positionen. Auch wenn deren Stoßrichtung nicht im Detail gewürdigt werden kann, fügen sie sich zu einem eindrücklichen Bild insbesondere dort, wo die Zerstörung der bürgerlichen Öffentlichkeit durch den Ausbau des Freizeit- und Konsumsektors entwickelt wird.
Im Unter-Untertitel des Bandes wird der oben skizzierte Dreischritt plakativ verkürzt als Rückbesinnung, Weigerung und Wiederaneignung bestimmt. Wenn etwas, über die Inhalte hinaus, den vorliegenden Text bestimmt, dann ist es der Drang zu eindringlichen und mitunter auch plakativen Formulierungen – insbesondere in den Kapitelüberschriften und Zusammenfassungen. Gleichwohl überzeugt das Buch in seiner systematischen Anlage, der klaren und differenzierten Gedankenführung und seinem kritischen Potential. Dass es gleichwohl nicht durchgehend gelingt, der Fülle des herangezogenen Materials kritisch differenzierend gerecht zu werden und dass die abschließende „Praktische Erziehungslehre“ eher von ihren Ambitionen als gedeckter Praxis lebt, ist – insbesondere für eine Dissertation – kein Mangel, sondern ein Ansporn zum – kritischen – Weiterdenken.
Rezension von
Prof. Dr. Ralf Evers
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Es gibt 17 Rezensionen von Ralf Evers.
Zitiervorschlag
Ralf Evers. Rezension vom 18.12.2013 zu:
Alf Hellinger: Die Wiedergewinnung der Zukunftsorientierung in der Pädagogik. Eine differenzierungstheoretische Revision des modernen Erziehungsbegriffes. Rückbesinnung - Weigerung - Wiederaneignung. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2013.
ISBN 978-3-8340-1151-0.
Reihe: Horizonte - Band 1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14958.php, Datum des Zugriffs 05.11.2024.
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