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Ullrich Bauer: Sozialisation und Ungleichheit

Rezensiert von Dr. Heike Ohlbrecht, 17.05.2013

Cover Ullrich Bauer: Sozialisation und Ungleichheit ISBN 978-3-531-18189-9

Ullrich Bauer: Sozialisation und Ungleichheit. Eine Hinführung. Springer VS (Wiesbaden) 2012. 2., korr. Auflage. 203 Seiten. ISBN 978-3-531-18189-9. D: 16,95 EUR, A: 17,43 EUR, CH: 21,50 sFr.
Reihe: Bildung und Gesellschaft.

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Thema

Die vorliegende Publikation versteht sich als grundlegende Einführung in die Thematik der Sozialisation und Ungleichheit, wobei ein Hauptaugenmerk auf Aspekten der Theoriebildung liegt. Soziale Ungleichheit und Fragen ihrer Reproduktion sind in der wissenschaftlichen Debatte in den letzten zehn Jahren wieder verstärkt aufgegriffen worden, nachdem der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Sozialisationsprozessen viele Jahre aus dem Fokus der wissenschaftlichen Debatte geraten war. Ullrich Bauer vertritt die These, dass die Sozialisationsforschung, die den schichtspezifischen Erklärungsansatz weitestgehend verlassen hatte, in den 80er und 90er Jahren ungleichheitsdesorientiert agierte.

Der Autor rückt im Folgenden zwei theoretische Zugangswege zu Fragen der Sozialisation und Ungleichheit in den Mittelpunkt seiner Darstellung, die er ausführlich erläutert: Klaus Hurrelmanns Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts sowie Pierre Bourdieus Sozialraum- und Habitustheorie. In Auseinandersetzung mit beiden Ansätzen plädiert der Autor für eine Erweiterung des praxeologischen Ansatzes nach Bourdieu. Die heuristische Funktion, die das Habitusmodell für die Vermittlung von Individuations- und Vergesellschaftungsprozessen hat, wird prägnant herausgearbeitet.

Autor

Der Autor ist Professor für Sozialisationsforschung an der Universität Duisburg-Essen.

Entstehungshintergrund

Es handelt sich um eine Publikation bei Springer VS im Rahmen der Reihe „Bildung und Gesellschaft“, die zur Weiterentwicklung der sozialwissenschaftlichen Bildungsforschung beiträgt. Die zweite korrigierte Auflage dieser Hinführung, die als basale Einleitung mit Lehrbuchcharakter zu verstehen ist, wurde aufgrund einer starken Nachfrage erforderlich und ist inhaltlich zur ersten Auflage weitestgehend unverändert.

Aufbau

In acht Kapiteln führt der Autor in die Thematik der ungleichheitsorientierten Sozialisationsforschung ein und diskutiert nicht nur die historischen Linien der Sozialisationsforschung, von der schichtspezifischen Sozialisationsforschung, über das Paradigma der Person-Umwelt-Interaktion, hin zum produktiv realitätsverarbeitenden Subjekt, darüber hinaus bezieht der Autor die Sozialraum- und Habitusforschung ein und verweist auf Forschungsdesiderate.

Inhalt

Nach der Einleitung erfolgt im zweiten Kapitel eine Einführung in die schichtspezifische Sozialisationsforschung der Zeit der 1950er bis 1970er Jahre. Die Frage danach, wie soziale Ungleichheiten „produziert – hergestellt – und reproduziert – immer wieder neu hergestellt [werden]“ (S.12), ist eine Kernfrage der Soziologie und wurde bereits von den Klassikern der Soziologie, wie Karl Marx und Max Weber, aufgegriffen. Weber war es, der zeigen konnte, dass, zusätzlich zur Bedeutung der ökonomischen Faktoren, „die Mentalität und der Lebensstil eines Menschen zu einer bestimmten Verwirklichung von Lebenschancen führen.“ (S.13). Helmut Schelsky zeigte später, dass die Ungleichheitsstrukturen in einer Gesellschaft nicht stabil bleiben und es in den westlichen Gesellschaften zur Tendenz der Nivellierung von Ungleichheitsverhältnissen durch eine Angleichung der Lebensverhältnisse kommt. Ullrich Bauer weist darauf hin, dass die Diskussionslinie der Individualisierungstheorie, die ab den 1980er Jahren die Deutungshoheit in der Sozialisationsforschung einnahm, als Fortführung der Annahmen zu einer Nivellierung von Ungleichheiten zu verstehen ist (S.14) und dazu führte, dass sich das Verständnis durchsetzte, dass soziale Ungleichheiten sich zunehmend auflösen. Erst die PISA-Ergebnisse, die als „PISA-Schock“ (S.15) wirkten, zeigten empirisch auf, was in der Theoriediskussion an den Rand gedrängt wurde, dass „manifeste soziale Ungleichheiten bestehen bleiben.“ (S.15) und wir eine „Restrukturierung“ und keine „Entstrukturierung“ (ebda) sozialer Ungleichheiten beobachten können.
In der schichtspezifischen Sozialisationsforschung nahm die Vorstellung eines „Kreislauf-, Ketten- oder Zirkulationsmodells“ (S.34) seinen Anfang, welches aufzeigte, wie ausgehend von spezifischen Arbeits- und Lebensbedingungen über die familiale Sozialisation und durch Selektions- und Allokationsprozesse in der schulischen Bildung sowie der beruflichen Sozialisation eine Reproduktion bestehender Sozialstrukturen erfolgt. „Dadurch „ererbt“ die nachkommende Generation, vermittelt über den schulischen Selektions- und Ausleseprozess, das elterliche Qualifikationsniveau, erlangt nach Erwerbseintritt das gleiche Sozialprestige und gewährleistet bei Familiengründung die Wiederherstellung ihres eigenen, früheren Sozialisationsprofils.“ (S.35).

Im dritten Kapitel, zur Kritik an der schichtspezifischen Forschung (1970er – 1980er Jahre), wird aufgezeigt, wie die Vorstellung der Gerichtetheit von Sozialisationseinflüssen durch die Vorstellung der Wirkung von multiplen, sich überlagernden Sozialisationseinflüssen ergänzt wurde (S.37). Es kam zu einer Aufwertung der Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung und die wechselseitige Abhängigkeit von individueller Entwicklung und Umwelteinflüssen mündete im Paradigma der Person-Umwelt-Interaktion. „Danach behalten zwar die Einflüsse der sozialen und materiellen Umwelt eine hohe Sozialisationsrelevanz. Zusätzlich jedoch wird die Fähigkeit der Sozialisanden berücksichtigt, Umwelteinflüsse und damit verbundene Anforderungen subjektiv wahrzunehmen und sehr individuell zu bewältigen.“ (S.49). Vergesellschaftungs- und Individuationseinflüsse bedingen sich im Sozialisationsprozess. Wurde in der schichtspezifischen Sozialisationsforschung das Augenmerk auf die Vergesellschaftungsprozesse gelegt, schlägt das Pendel nun zunehmend in die andere Richtung aus.

Im sehr ausführlichen vierten Kapitel zum Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts (1980er bis 1990er Jahre) wird der Sozialisand als „aktiver Umweltgestalter“ (S. 56) beschrieben, der sich Realität selbst-reflexiv erschließt. Die Prozesse der Realitätsverarbeitung und Realitätsbearbeitung im Sozialisationsprozess werden nach Klaus Hurrelmanns Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts ausgearbeitet. „Hurrelmann beurteilt aus dieser Perspektive den Prozess der Persönlichkeitsgenese als ein Geschehen, auf das der Heranwachsende „in allen Abschnitten des Lebenslaufs Einfluß hat.“ (S.57). Die individuellen Handlungskompetenzen und die Eigentätigkeit der Heranwachsenden werden in diesem Ansatz stark betont. In diesem Zuge erhält die sozialökologisch orientierte Sozialisationsforschung (S.64) eine starke Bedeutung. Im Kapitel 4.2 arbeitet Ullrich Bauer die zentrale Bedeutung des Schulsystems für die durch die soziale Herkunft vermittelten Status- und Lebenschancenzuweisung heraus: „Anstelle der Familie als Statthalterin gesellschaftlich ungleicher Chancenverteilung kommt in modernen Gesellschaften dem Bildungssystem die „monopolartige Funktion“ (Hurrelmann und Wolf 1986, S.6) zu, Heranwachsende fachlich zu qualifizieren und ihrem Fähigkeitsniveau gemäß in die Sozialstruktur zu integrieren.“ (S.71). Dass die Familie weiterhin eine zentrale Bedeutung im Rahmen subkultureller Sozialisation innehat, wird vom Autoren herausgearbeitet, wie er auch darauf verweist, dass die Forschungsansätze zur Bedeutung der familialen Interaktion, wie diese beispielsweise von Ulrich Oevermann vorgelegt wurden, in „Hurrelmanns Vermutungen zu dem Einfluss der Interiorisierung latenter Sinn- und Deutungsstrukturen im familialen Interaktionsgeschehen…“ (S.73) leider nicht aufgegriffen wurden. Abschließend arbeitet der Autor heraus, dass die strukturellen Bedingungen der Sozialisationsverläufe zunehmend ausgeblendet werden. „Das scheinbar widersprüchliche Phänomen, dass bereits Heranwachsende auf ihr Handeln bewusst Einfluss zu nehmen vermögen, ihre Handlungskompetenzen jedoch den modalen (also meist gebräuchlichen) Verhaltensweisen der sozialen Herkunft vorangepasst sind – diese analytische Unterscheidung von bewusst und unbewusst, Autonomie und Beschränktheit –, findet in der sozialisations-, handlungs- und subjekttheoretischen Perspektive der Konzeptionen, die seit den 1980er Jahren aufkommen, zu wenig Beachtung.“ (S.92).

Ein Zwischenfazit (Kapitel 5) bündelt die bisherige Auseinandersetzung und leitet zum zentralen sechsten Kapitel, zur Sozialraum- und Habitusforschung, über. Im Rückgriff auf die praxeologische Sozialtheorie Bourdieus soll ein theoretisches Verständnis in der Sozialisationsforschung angeregt werden, welches „soziale Realität nur als unauflöslichen Zusammenhang zwischen individuellen Verhaltensweisen und der Struktur der Situationen, in denen soziale Akteure handeln, abbilde[t].“ (S.104). Auch oder gerade in modernen Gesellschaften haben wir es mit einer symbolischen Dimension sozialer Ungleichheit zu tun, für die Bourdieu mit seinen Analysen den Blick geschärft hat. Bourdieus Leistung, die „dialektische Beziehung zwischen den objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen der handelnden Akteure“ (S.114) aufzeigen zu können und dies mit den sozialen Positionen und den individuellen Ausdrucks- und Handlungsformen zu verknüpfen, die als Lebensstile auf die sozialen Positionen bezogen sind, wird herausgestellt. Ausführlich erläutert der Autor die Rolle des Habitus in diesem Zusammenhang. Abschließend folgt eine Abhandlung zum schulischen Reproduktionsmodus sozialer Ungleichheit.

Im siebten Kapitel, dem Ausblick auf die ungleichheitsorientierte Sozialisationsforschung, erfolgt ein neuerliches Fazit bzw. eine Zusammenfassung zu der Erkenntnis, dass die Sozialisationsforschung ungleichheitsdesorientiert agierte und es wird eine empirische Präzisierung und Erweiterung des Milieu-Modells gefordert. „Die deutschsprachige Sozialisationsforschung besitzt demgegenüber kein analytisches Werkzeug mehr, das die Wirkung ungleicher Sozialisationsbedingungen auf die Ausbildung der Handlungskompetenzen Heranwachsender zu beschreiben erlaubt.“ (S. 162) und ist daher um die Akteurs- und Handlungsperspektive des Bourdieuschen Ansatz zu erweitern (ebda). Diese – nicht neue – Forderung wird in Folgendem untermauert, indem auf das Milieumodell Michael Vesters sowie das Milieukonzept der Hannoveraner „Arbeitsgruppe interdisziplinäre Sozialstrukturforschung“ verwiesen wird, um diese als Analyseraster stärker zu verwenden und „als Basis für eine zeitgemäße Aktualisierung des Sozialraum-Modells“ aufzufassen (S.163). In den Kapiteln 7.1 und 7.2 zur Erweiterung des Milieu-Modells und der Habitus-Theorie finden sich m.E. weniger Erweiterungen der bestehenden Theorie, als ein Aufzeigen von Forschungslücken.

Im abschließenden achten Kapitel „Fazit – Wozu der Anschluss an Bourdieus Forschungsperspektive?“ wird nochmals dargelegt, dass der Anschluss an die Habitustheorie einen Ausweg aus dem Theoriedilemma der letzten Jahre in der Sozialisationsforschung darstellt, da er zwar „die Hoffnung auf Autonomiepotenziale in der Subjektwerdung vorerst mit einer gewissen Ernüchterung [konfrontiert]… “, gleichzeitig „…als ein synthetisierendes, im übertragenen Sinne organisches Prinzip, das die Zerfaserung der Persönlichkeit in die Erfüllung lediglich äußerlicher Verhaltensanforderungen und -regeln… zurückweist.“ (S. 178).

Diskussion und Fazit

Dieses lesenswerte Buch führt in die Diskussion zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Sozialisation ein und widmet sich der Frage, wie sich soziale Ungleichheiten – in modernen individualisierten Gesellschaften – reproduzieren. Das Buch ist als Hin- oder Einführung gedacht und erhält durch die Einführung in zentrale theoretische Debatten und durch Zwischenfazite, sowie umfangreiche Erläuterungen, Lehrbuchcharakter. Möglicherweise ist es der Konzeption als Hin- bzw. Einführung geschuldet, dass sich mitunter Redundanzen und übermäßige Längen in der Argumentationskette finden. Bei einer weiteren Auflage und Überarbeitung wäre es wünschenswert, die Gliederungsfehler zu bereinigen, Kapitel können nicht aus nur einem Unterpunkt bestehen (siehe Kapitel 2 und 3).

Ullrich Bauer beginnt sein Buch mit dem folgenden Satz: „Sozialisation wirkt heute wie ein veralteter Begriff.“ (S.1). Dabei ist es ihm gelungen, diesen Begriff zu „entstauben“ und zu zeigen, dass die Frage danach, „was … wir eigentlich über Prozesse der Sozialisation und die soziale Vererbung ungleicher Lebenschancen [wissen]“ (S.1), aktuell wie nie ist. Dem Buch ist daher eine große Verbreitung zu wünschen, um diese Diskussion weiter voran zu treiben.

Der Einschätzung des Autors, dass „die Sozialisationsforschung bei dem Versuch [scheiterte], beide Analyseeinheiten [Gesellschaft auf der einen und Individuum auf der anderen Seite A.v.A.] zu vermitteln.“ (S.115), ist zu zustimmen und der Hinweis darauf, dass die Sozialraum- und Habitustheorie nach Pierre Bourdieu einen Ansatz darstellt, diese Situation zu ändern, erschließt sich nach der Lektüre des Buches voll und ganz.

Rezension von
Dr. Heike Ohlbrecht
Soziologin am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin
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Es gibt 1 Rezension von Heike Ohlbrecht.

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Zitiervorschlag
Heike Ohlbrecht. Rezension vom 17.05.2013 zu: Ullrich Bauer: Sozialisation und Ungleichheit. Eine Hinführung. Springer VS (Wiesbaden) 2012. 2., korr. Auflage. ISBN 978-3-531-18189-9. Reihe: Bildung und Gesellschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14972.php, Datum des Zugriffs 05.11.2024.


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