Dorothée de Nève, Tina Olteanu (Hrsg.): Politische Partizipation jenseits der Konventionen
Rezensiert von Johannes Diesing, 07.08.2013

Dorothée de Nève, Tina Olteanu (Hrsg.): Politische Partizipation jenseits der Konventionen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2013. 305 Seiten. ISBN 978-3-8474-0042-4. D: 29,90 EUR, A: 28,80 EUR.
Entstehungshintergrund
Der Band „Politische Partizipation jenseits der Konvention“ ist das Ergebnis eines gemeinsamen Forschungsprojektes von Dorothée de Nève und Tina Olteanu.
Thema
In der politikwissenschaftlichen Debatte ist Postdemokratie in den letzten Jahren eines der großen Schlagworte gewesen. Der Erfolg dieses Begriffs dürfte nicht zuletzt darin begründet sein, dass er einen grundsätzlichen Wandel zu beschreiben scheint. Von einem generellen Bedeutungsverlust der politische Partizipation in den westlichen Demokratien kann allerdings keine Rede sein. Die Entwicklungen und Tendenzen, die unter dem Begriff zusammengefasst werden, gehen vielmehr mit einer Verschiebung des politischen Handelns von konventionellen Partizipationsformen, wie dem Wählen, hin zu unkonventionelleren Formen einher. Der von Dorothée de Nève und Tina Olteanu herausgegebene Band versammelt Aufsätze, die solchen Verschiebungen nachgehen. Bei einigen der Studien handelt es sich um die Veröffentlichung von Teilergebnissen laufender Forschungsprojekte, ausgewählte Formen der politischen Partizipation werden darin systematisch analysiert und ihre Bedeutung für das demokratische System untersucht. Das Buch ist dazu in drei Themenblöcke gegliedert, welche den Blick auf verschiedene Zugänge richten. Analysiert werden Formen, auf die bestehenden Konventionen unkonventionell zu reagieren, (vermeintlich) unpolitische Konventionen zu politisieren oder neue Konventionen zu erfinden.
Methode der Untersuchung
Vorangestellt wird den Beiträgen eine Einleitung, in der eine begriffliche Verortung der politischen Partizipation in der politikwissenschaftlichen Forschung vorgenommen wird. Allen folgenden Analysen des Bandes liegt ein Untersuchungsraster aus vier Forschungsfragen zu Grunde. Die Forscherinnen interessiert, wie die Partizipationsformen definiert und typologisch eingeordnet werden (I.) und welche Funktion sie in der Funktionslogik demokratischer Systeme erfüllen (II.) Sie fragen nach den Inklusionspotenzialen (III.) der unkonventionellen Partizipationsformen und in welcher Beziehung sie zu anderen Formen der politischen Partizipation stehen (IV.)
Der erste Themenblock des Bandes ist mit dem Titel „Konventionen beleben“ überschrieben. Christian Schreier untersucht hier Massenverfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht als eine konventionelle Partizipationsform, deren massenhafter Gebrauch den vom Gesetzestext nicht vorgesehenen Charakter einer kollektiven politischen Handlung erhält. Ganz ähnlich eignet sich die von Gesine Fuchs analysierte strategische Prozessführung eine konventionelle Form - ein individuelles Recht – an, um sie als politische Handlung für die strategische Herstellung eines spezifischen Outcomes für das politische System neben der Legislative zu benutzen. Daniel Barons Artikel nimmt eine systematisierende Typologisierung der politischen Partizipation durch den Losentscheid vor und stellt dabei auch die Frage nach der heutigen Aktualität des demokratischen Verfahrens schlechthin in der griechischen Antike.
Im Zweiten Themenblock wird die Politisierung von Konventionen in den Blick genommen. Deren politischer Charakter scheint, wie im Falle der von Dorothée de Nève untersuchten Leserbriefe, zunächst nicht besonders hervorstechend zu sein, dennoch nutzen Bürgerinnen und Bürger Leserbriefe, um sich zur Politik zu äußern. Die Untersuchung von Predigten nach dem Unglück von Fukushima (ebenfalls Dorothée de Nève) analysiert die Politisierung von Konventionen als eine Frage der Übersetzung von Politik in den Rahmen einer religiösen Praxis. Der dritte Aufsatz des Themenblocks von Tina Olteanu widmet sich mit dem Phänomen Graffiti der Politisierung an einer unklaren Grenze von Kunst und Vandalismus. Graffiti erhält dabei seinen politischen und kritischen Impuls nicht allein aus einem spezifischen Inhalt, sondern auch in formaler Hinsicht aus der Spannung von künstlerischer Produktion und Sachbeschädigung. Diese lässt sich auch in einer dem Themenblock zugeordneten Sammlung von Fotografien der beiden Herausgeberinnen wahrnehmen.
Der dritte Themenblock stellt Partizipationsformen vor, welche Konventionen neu erfinden. Sara Göttmann geht in diesem Abschnitt der Entwicklung von Flashmobs zum festen Bestandteil im Repertoire politischer Aktionsformen nach. Eva Maria Hinterhuber und Simon Möller richten aber mit der kritischen Untersuchung von Reklamestrategien auch das Augenmerk auf die politisch bedeutsame Einverleibung des Potentials solcher unkonventioneller Partizipationsformen Aufmerksamkeit zu erzeugen. Mit Stefanie Wöhls Beitrag über Occupy Wall Street findet sich ein Artikel zu einer aktuellen Protestbewegung, deren Herausforderung des politischen Systems in einer vielstimmigen Artikulation von Dissens einerseits und von direktdemokratischen Experimenten mit Alternativen zur repräsentativen Demokratie andererseits besteht.
Ergebnisse der Untersuchung
An das Ende des Bandes ist eine Zusammenfassung der aufgeführten Einzelbeiträge sowie eine Erörterung der Potenziale unkonventioneller Partizipation gestellt, welche noch einmal die Fragen der vier forschungsleitenden Dimensionen aufnimmt.
I. typologische Verortung. Die unkonventionellen Formen sind weder automatisch legitim noch illegitim. Die Grenzen der konventionellen Partizipation sind vielmehr fluide. Dorothée de Nève und Tina Olteanu betonen die Notwendigkeit, den Impuls neuer Partizipationsformen sowohl in Inhalt als auch in der gewählten Form ernstzunehmen, da sich in ihnen ausdrückt, in welchem Verhältnis sich die Bürgerinnen und Bürger zum politischen System sehen.
II. Funktionen in demokratischen Systemen. Als Ausdruck der Selbstermächtigung von Bürgerinnen und Bürgern schaffen unkonventionelle Partizipationsformen zusätzliche Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme. Sie können öffentliche Verständigungsprozesse befördern, sind aber in Bezug auf die Umsetzung ihrer Forderungen auf die verfassten und legalen Partizipationstypen angewiesen. Neben der Öffnung des politischen Raumes haben sie eine Funktion als Agenda-Setter. Sie reagieren und kommentieren (auch durch ihre Form) beständig in kritischer Weise die bestehenden bereits existierenden konventionellen Formen der Mitbeteiligung und Anteilnahme. Durch eine Anfälligkeit für Instrumentalisierungen von Akteuren in politischen Institutionen oder wirtschaftlichen Unternehmen kann ihr kritischer Charakter letztlich auch wieder nivelliert werden.
III. Inklusionspotenziale und Interdependenzen. Die Inklusionspotenziale der Partizipationsformen differenzieren Dorothée de Nève und Tina Olteanu in Bezug auf Personen und Inhalte. Dabei zeigt sich, dass unkonventionelle Partizipationsformen oft von Menschen genutzt werden, die auch konventionelle Methoden anwenden. In Bezug auf das Verhältnis der Geschlechter weisen sie starke Unterschiede auf, die von eindeutigen Ungleichgewichten in der Nutzung der Partizipationsform bis zur expliziten Thematisierung der Geschlechterfrage als Thema in den Partizipationsformen reicht. Jede Form hat aber nicht nur ein spezifisches Inklusionspotenzial, sondern ist auch jeweils entsprechend exklusiv. Nicht jede Bürgerin kann eine Verfassungsklage anstrengen, aber fast jeder Bürger könnte an einer Versammlung bei der Occupy-Bewegung teilnehmen. Inhaltlich sind unkonventionelle Partizipationsformen nicht automatisch inklusiv. Im Gegenteil können mittels Graffiti-Sprühereien auch diskriminierende und menschenverachtende Inhalte verbreitet werden.
IV. Perspektiven der Partizipationsforschung. Die Herausgeberinnen kommen zu dem Ergebnis, dass die Krise der verfassten Partizipation nicht mit einer Krise der Partizipation überhaupt einher geht. Vor dem Hintergrund eines Bedeutungswandels der verfassten und legalen Formen kommt es vielmehr zu zahlreichen Selbstermächtigungen. Bürgerinnen und Bürger erfinden dabei nicht nur neue Formen politischen Handelns, sie eignen sich auch bestehende verfasste Instrumente und vernachlässigte Partizipationsformen an, um ihre Gestaltungsansprüche geltend zu machen.
Diskussion
Der Band zeigt ein breites Feld von Partizipationsmöglichkeiten jenseits der konventionellen Teilnahme an den Wahlen auf. Die thematische Herangehensweise und die Auswahl der Beiträge ist gerade deshalb interessant, weil sie sich nicht schwerpunktmäßig auf die auch in der Bundesrepublik verstärkt auftretenden Protestbewegungen festlegt. Der Band trägt in einer breiten Perspektive dem stattfindenden Wandel der politischen Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern Rechnung. Die Auswahl von jeweils drei Beiträgen in einem Themenblock erscheint grundsätzlich ausgewogen und als Einstieg in das Feld der unkonventionelle Partizipation geeignet, welches, wie die Herausgeberinnen betonen, wesentlich facettenreicher ist, als der aktuelle Stand der Forschung es vermuten lässt. Mit den durch den Band vorgelegten Studien wollen die Herausgeberinnen, wie sie erklären, nach sinnvollen Ergänzungen der Forschungsansätze in der Partizipationsforschung suchen indem sie ungewöhnliche und teilweise auch neue Quellen nutzen. Gerade in Bezug auf das methodische Anliegen, die wissenschaftliche Debatte in der Partizipationsforschung fortzuschreiben, hätte daher ein eigenes Kapitel zu den methodischen Herausforderungen der Beforschung von neuen und teilweise hochdynamischen, unkonventionellen Partizipationsformen eine zusätzliche interessante Ergänzung darstellen können.
Fazit
Der von Dorothée de Nève und Tina Olteanu herausgegebene Band „Politische Partizipation jenseits der Konvention“ analysiert Partizipationsmöglichkeiten jenseits der konventionellen Teilnahme an den Wahlen. Die Forscherinnen legen ihren thematischen Schwerpunkt dabei nicht auf die aktuell auftretenden Protestbewegungen, sondern gehen in einer breit angelegten Perspektive dem stattfindenden Wandel der politischen Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern nach. Einige der analysierten Formen sind spektakulär und konnten innerhalb kürzester Zeit weltweit Aufmerksamkeit erlangen, wie das Beispiel Occupy Wall Street zeigt. Andere Mittel der politischen Partizipation, Leserbriefe in Zeitungen etwa, sind zwar sehr alt und erprobt, können aber ebenfalls unkonventionelle Formen untersucht werden. Im Ergebnis zeigen Dorothée de Nève und Tina Olteanu auf, dass die Krise der verfassten Partizipation nicht mit einer Krise der Partizipation überhaupt einher geht. Bürgerinnen und Bürger suchen sich vielmehr selbst neue Formen des politischen Handelns, sie entdecken alte Mittel für sich die sie wieder mit Leben erfüllen und öffnen der Politik auf vielfältige Weise neue Räume.
Rezension von
Johannes Diesing
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