Curd Michael Hockel: Personzentrierte Kinderpsychotherapie
Rezensiert von Prof. Dr. Mark Galliker, 07.05.2013

Curd Michael Hockel: Personzentrierte Kinderpsychotherapie. Eine Einführung mit Falldarstellung.
Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2011.
191 Seiten.
ISBN 978-3-497-02201-4.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 41,50 sFr.
Reihe: Personzentrierte Beratung & Therapie - Band 10.
Thema
Besucher/innen von Buchhandlungen finden auf der Rückseite des Buches „Personzentrierte Kinderpsychotherapie“ u.a. die folgenden vielversprechenden Sätze: „Bei der Therapie von Paul, einem ‚zappeligen‘ 10-Jährigen, der unter dem Verlust seines verstorbenen Vaters leidet, kann man dem Therapeuten über die Schulter schauen: Wie greift er Pauls Impulse im Spiel auf? Wie hilft er damit dem Jungen, durch eigene Erfahrungen Trauer, Wut und Ängste zu überwinden?“
Die Probleme des sehr lebendigen und intelligenten kleinen Klienten wurden zuvor vom Lehrer und Kinderarzt als krankheitswertig eingestuft und schließlich als ADHS diagnostiziert. Mit ADHS ist eine Attention-Deficit-Hyperactivity-Disorder bzw. Störung gemeint. Kinder mit einer ADHS sind unaufmerksam und lassen sich leicht ablenken. Sie können oft nicht richtig zuhören, sind vergesslich und machen häufig ‚Flüchtigkeitsfehler‘. Zudem sind sie hyperaktiv-impulsiv.
Das Buch „Personzentrierte Kinderpsychotherapie“ mit dem Untertitel „Eine Einführung in eine Falldarstellung“ nahm ich mit großem Interesse zur Hand. Beschreibungen von Personzentrierten Kinderpsychotherapien sind schon in der Größenordnung eines Artikels selten. Bereits Carl Ransom Rogers, der Pionier des Personzentrierten Ansatzes, hatte auf die Bedeutung möglichst umfassender und detailgenauer Darstellungen und Analysen des therapeutischen Prozesses hingewiesen. In der Folge werden von den Ausbildungskandidaten bis heute sogenannte Prozessanalysenverlangt (z.B. in der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz).
Im Vorwort von Hockels Publikation werden Interesse und Neugierde der potentiellen Leser/innen noch verstärkt, wenn der Autor schreibt: „Die folgende Darstellung eines Falles von Personzentrierter Kinderpsychotherapie illustriert das Verhalten des Therapeuten anschaulich. Es ist der Versuch, personzentrierte Spieltherapie so dicht zu beschreiben, dass die Lektüre dieser Beschreibung – ergänzt durch die quasi-lexikalischen Vertiefungsthemen in Kapitel 6 – die Funktion eines ‚Lehrbuches‘ haben kann. Zugleich ermöglicht es allen Interessierten, einmal in den Schutzraum hineinzublicken, den personzentrierte Kinderpsychotherapie ihren kleinen oder jugendlichen Klienten bietet. Wo sonst eine vertraute und allem Zugriff durch Eltern, Lehrer und andere Erziehende verschlossene Arbeitswelt zu finden ist, offenbart sich diese Werkstatt hier dem Blick Außenstehender.“ (S. 7)
Autor
Curd Michael Hockel ist diplomierter Psychologe und Psychotherapeut. Seit über 30 Jahren arbeitet er in München in eigener Praxis mit Schwerpunkt Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie. Zudem ist er bei der deutschen Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie als Ausbilder und beim Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) als Supervisor tätig.
Entstehungshintergrund
Im ersten Kapitelerfahren die Leser/innen, dass es sich bei der Therapie von Paul um einen „Fall nach Aktenlage“ handelt. Im Jahre 2009 stellte beim Kongress des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/innen eine Therapeutin die Videoaufzeichnung und Beschreibung der ersten Stunde einer Kinderpsychotherapie den Teilnehmer/innen der Eröffnungsveranstaltung – darunter der Autor des vorliegenden Buches – zur Verfügung, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, ihre Sicht auf diesen Therapiebeginn darzulegen. Diese Vorgehensweise ermöglichte die Betrachtung des Forschungsgegenstandes aus diversen Methodenperspektiven. Die Vielfalt der Perspektiven der beteiligten Therapeuten und Therapeutinnen wurde inzwischen dokumentiert und im Jahre 2011 von Gahleiter, Fröhlich-Gildhoff, Schwarz und Wetzorke unter dem Titel „Ich seh etwas, was Du nicht siehst“ bei Kohlhammer, Stuttgart, veröffentlicht.
Paul war nun Hockel so sehr „ans Herz gewachsen“, dass er sich entschloss, diese Kinderspieltherapie fortzuschreiben, „als sei es sein eigener Fall gewesen“ (vgl. S. 8). Seine Berichterstattung beginnt mit der kommentierten Videoaufzeichnung der Originalsitzung bei der personzentriert arbeitenden Therapeutin (S. 13-26) und wird dann fiktiv nach den eigenen Vorstellungen des Autors fortgeführt (S. 27-73). Mit anderen Worten: Der größte Teil der eingangs in Aussicht gestellten „Falldarstellung“ ist vom Autor frei erdacht, wobei er seinen fantasievollen Darlegungen stellenweise auch Erkundigungen bei der Therapeutin sowie eigene Erfahrungen als Therapeut und Supervisor zugrunde legte (vgl. S. 27). So ist es nicht verwunderlich, dass Projektionen von Erwachsenen-Vorstellungen in die kindliche Lebenswelt eingehen, was an manchmal altklug anmutenden oder für ein Kind allzu gekonnt erscheinenden Äußerungen erkennbar ist (vgl. u.a. S. 68).
Aufbau
Das Buch besteht aus zwei Teilen.
- Im ersten Teil wird Pauls Psychotherapie mit „Einstieg“, „Therapieprozess“ und „Abschied“, ergänzt durch eine „Zusammenstellung der Falldarstellung“ beschrieben (Kapitel 2 bis 5);
- im zweiten Teil (bzw. in Kapitel 6) folgen die „Therapeutischen Vertiefungsthemen“ (s.o.), die zehn Exkurse zu wichtigen Konzepten beinhalten (u.a. Wertschätzung, Echtheit, Interaktionsresonanz, Interventionskompetenzen).
Inhalt
Der Autor versteht das Spielen in der Kinderpsychotherapie im Sinne des personzentrierten Therapieverständnisses als „gelingende Selbstaktualisierung“ (S. 130) oder auch als „erfahrene Selbstaktualisierung“ (S. 137). Dies bedeutet, dass sich der Therapeut jedenSpielinhalt,jede Regel vom Kind geben lassen sollte, ist dasselbe doch nach dem personzentrierten Konzept ausschließlich in der Lage, sich selbst zu aktualisieren. „Der Spieltherapeut ist nicht Spielführer, sondern Spielpartner, Mitspieler, Schiedsrichter, anregender, anfragbarer Ideenspeicher, ‚Souffleur‘ auf Einladung. Er ist bereit – und vermittelt diese Bereitschaft – auch untergeordnete Rollen zu übernehmen als ‚Komparse‘.“ (S. 141)
Der Therapeut als professioneller Mitspieler achtet das Spielen seines Klienten als
- freiwillige, aber im gegenseitigen Einvernehmen regelgeleitete Tätigkeit;
- Geschehen mit wechselnden Identifikationen;
- auf die Realität bezogene Eigenwelt des Kindes;
- Eröffnung von Erfahrungen des Gelingens und Misslingens. (vgl. S. 137)
Das Mitspielen konkretisiert Hockel u.a. am Beispiel des vieldiskutierten Konzepts der Abgrenzung: Der Therapeut achte auf die (Selbst-)Aktualisierungstendenz des Klienten sowie auf seine eigene (Selbst-)Kongruenz (bzw. „Echtsein“). Er orientiere sich am Klienten und dessen Voraussetzungen, um Möglichkeiten des Klienten in der Welt der Wirklichkeit zu realisieren und zu verankern. Dem Autor zufolge besteht der Umgang mit Grenzen aus folgenden fünf Schritten:
- Trennen zwischen Absicht und Tat;
- Nennen der bedrohten Grenze;
- Verhindern der Grenzverletzung;
- Androhen einer Konsequenz für beibehaltene Grenzverletzungsabsicht;
- Durchführung der Konsequenz. (vgl. S. 24 sowie S. 174)
Es stellt sich die Frage, inwieweit die Punkte, die der Autor zur Abgrenzung anführt, mit jenen zum Mitspielen (s.o.) übereinstimmen. Hinsichtlich des ersten Punktes gibt erfolgendes Beispiel. Paul lässt beim Kartenspielen eine Karte zu Boden fallen und kündigt an, sie dort liegen zu lassen, worauf die Therapeutin die Trennung zwischen Absicht und Tat (s.o.) vollzieht:
- Paul: „Ich steig' jetzt da nicht herunter.“
- Therapeutin: „Du entscheidest, diese am Boden liegende Karte nicht zu holen. (vgl. S. 24)
Diesen Dialogausschnitt kommentiert der Autor wie folgt: „Und wie von der Macht eines wirksamen Befehls getragen gleitet Paul von der Sitzgelegenheit und holt die Karte. 80% kindlicher Grenzverletzungen werden – wenn sie mit Schritt 1 konfrontiert werden – gestoppt.“ (S. 25)
Hockel führt eine „Liste von Grenzen in der Psychotherapie“ an (vgl. S. 167-172). Die insgesamt 33 Grenzen und deren notwendige Beachtung werden jeweils von Seiten des Therapeuten sowie von Seiten des Kindes bzw. Jugendlichen dargestellt. Hierbei kann es sich zweifellos um eine wertvolle Ausbildungshilfe handeln; die Voraussetzung hierzu ist aber, dass die einzelnen Grenzen nicht kontextlos betrachtet und in Kombination mit den angeführten Beispielen nur als Diskussionsgrundlage verstanden werden.
Im zweiten Teil des Werkes („Vertiefungsthemen“) finden die Leser/innen viele interessante Informationen und Antworten, u.a. auch zu der für den Autor zentralen Frage „Wie sorge ich im therapeutischen Alltagskontakt dafür, dass ich das Richtige im richtigen Moment tue?“ (S. 153). Der Autor listet in seiner praxisnahen Arbeit mehr als drei Dutzend „Interventionskompetenzen“ auf (S. 148-152). Zwar reflektiert er nicht grundsätzlich, inwiefern „Interventionen“ mit „Personzentriertheit“ kompatibel sind, doch enthalten seine Ausführungen wertvolle Hinweise, wie „Interventionen“ mit „Interaktionsresonanz“, „Intuition“ und „Verantwortung“ stimmig „eingesetzt“ werden können (S. 157ff.).
Diskussion
In der Personzentrierten Kinderpsychotherapie werden die Kinder nicht objektiviert wie etwa in der Verhaltenstherapie, sondern dieselben bestimmen selber, was sie tun. Die kleinen Klienten werden so wenig wie möglich (pädagogisch) „begrenzt“ oder (medizinisch) „behandelt“, sondern es wird von ihren Ressourcen ausgegangen, wobei dieser Prozess primär eine wohlwollende und einfühlsame Begleitung durch den Therapeuten erfahren muss.
Ein person- und ressourcenorientierter Ansatz lässt insbesondere im Kinder- und Jugendbereich kaum eine Differenzierung in der Wertschätzung von Person und Verhalten zu, wie zuweilen angenommen wird (vgl. u.a. auch S. 114). Die persönlichen Ressourcen werden insbesondere bei jungen Menschen oft zunächst in verstellter Form gerade an den für Bezugspersonen ‚abwegigen Verhaltensweisen‘ sichtbar.
Hypostasierungen, die durch Tests (z.B. Intelligenztests) nahegelegt werden, sowie die entsprechenden psychosozialen Konsequenzen (z.B. bei Diagnosen wie „Hochbegabung“) werden im Buch nicht angesprochen. Ebenfalls nicht diskutiert wird die Frage der Verschreibung von Medikamenten, was v.a. bei Klienten mit Problemen im ADHS-Bereich notwendig wäre. Auch in methodologischer und methodischer Hinsicht sind einige Unterlassungen erkennbar. So wird etwa die Objektivierung des therapeutischen Geschehens durch Videoaufnahmen nicht reflektiert.
Fazit
Hockels Buch ist sicherlich sehr anregend, kann aber nicht als eine detailgenaue Beschreibung einer Personzentrierten Kinderpsychotherapie gelten. Natürlich wird nicht die erwartete Prozessanalyse geboten, sondern eher eine reichhaltige Beschreibung der Vorstellungen eines erfahrenen Psychotherapeuten hinsichtlich des weiteren Verlaufs einer Therapie.
Dank des Praxisbezuges handelt es sich um ein kurzweiliges und unterhaltsames Buch, das flüssig gelesen werden kann. Über weite Strecken eignet es sich für die Ausbildung von Personzentrierten Kinderpsychotherapeuten. Dies gilt nicht zuletzt auch für die „Vertiefungsthemen“ im sechsten Kapitel. Das Buch ist nicht nur Therapeuten, Ausbildern und Ausbildungskandidaten, sondern auch Eltern zu empfehlen, die sich über die personzentrierte Kinderpsychotherapie informieren wollen.
Rezension von
Prof. Dr. Mark Galliker
Institut für Psychologie der Universität Bern
Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung, Psychotherapie, Beratung (pca.acp).
Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung (PERSON).
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Zitiervorschlag
Mark Galliker. Rezension vom 07.05.2013 zu:
Curd Michael Hockel: Personzentrierte Kinderpsychotherapie. Eine Einführung mit Falldarstellung. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2011.
ISBN 978-3-497-02201-4.
Reihe: Personzentrierte Beratung & Therapie - Band 10.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14999.php, Datum des Zugriffs 25.03.2023.
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