Lutz Jäncke: Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 15.05.2014
Lutz Jäncke: Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2013. 795 Seiten. ISBN 978-3-456-85004-7. 74,95 EUR. CH: 99,00 sFr.
Thema
Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten u. a. auch aufgrund der bildgebenden Verfahren eine gewaltige Expansion erfahren. Hirnforschung, Neurobiologie und deren konkrete Anwendungsbereiche wie z. B. geistige Optimierungsstrategien einschließlich der pharmakologischen Produkte (Gehirndoping) werden zunehmend popularisiert. Die kognitiven Neurowissenschaften bilden einen Teilbereich dieses neuen Wissenschaftsfeldes. Sie können als Fusion aus Neurophysiologie, kognitiver und Neuropsychologie verstanden werden.
Das vorliegende Lehrbuch basiert auf den Einführungsvorlesungen zur kognitiven Neurowissenschaft, die der Autor an der Universität Zürich und der ETH Zürich in den Jahren 2002 bis 2012 gehalten hat.
Autor
Lutz Jäncke ist Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit besteht aus 22 Kapiteln und einem Index:
- Kognitive Neurowissenschaften – Was ist das?
- Das menschliche Gehirn: Eine kurze Einführung
- Nervenzellen, Module, Kabel und Netzwerke
- Reifung des Gehirns
- Methoden der kognitiven Neurowissenschaften
- Hemisphärenasymmetrie
- Allgemeines zur Wahrnehmung
- Visuelle Wahrnehmung
- Auditorische Wahrnehmung
- Aufmerksamkeit
- Exekutive Funktionen
- Motorische Kontrolle
- Allgemeines zum Gedächtnis
- Deklaratives Gedächtnis
- Nondeklaratives Gedächtnis
- Arbeitsgedächtnis
- Plastizität
- Sprache
- Lesen und Schreiben
- Emotion und Motivation
- Urteilen und Unterscheiden
- Literatur
Jedes Kapitel setzt sich aus einer Einleitung, der Darstellung des Standes der Forschung u. a. anhand der unterschiedlichen Theorien und Annahmen, der Neurophysiologie des Gegenstandsbereiches, einer Zusammenfassung, Fragen und Aufgaben und zum Schluss weiterführende Literaturhinweise zusammen. Zur Verdeutlichung der Sachverhalte sind 394 Abbildungen und 44 Tabellen in den Text eingefügt.
Ausgewählte Themen:
- Im ersten Kapitel „Kognitive Neurowissenschaften – Was ist das?“ entwirft der Autor ein Szenario vom Gegenstandsbereich der Neurowissenschaften und der Teildisziplin kognitive Neurowissenschaften. Die Basis bildet die Neurobiologie, die sich mit den molekularen und zellbiologischen Grundlagen beschäftigt. Teildisziplinen der Neurobiologie sind Biochemie, Molekularbiologie, Genetik, Epigenetik, Histologie, Anatomie und Zellbiologie. Die hierauf aufbauende Disziplin ist die Neurophysiologie, deren Forschungsgegenstand die Aktivität der Neuronen („Sprache der Nervenzellen“) ist. Die Teildisziplinen bestehen aus der Elektrophysiologie, der Neuropharmakologie, der Neuroendokrinologie und der Toxikologie. Geforscht wird in diesen Bereichen sowohl mit Menschen (EEG-Messungen u.a.) als auch mit Tieren. Die nächsthöhere Stufe bilden dann die kognitive Neurowissenschaften, die ihren Schwerpunkt in den neuronalen Mechanismen haben, die den kognitiven und psychischen Funktionen zugrunde liegen. Hier wird vor allem humanbiologisch, also mit dem menschlichen Gehirn, gearbeitet. Des Weiteren werden die klinisch-medizinischen Disziplinen mit den Teildisziplinen Neurologie, Neuropathologie und biologische Psychiatrie u. a. angeführt. Den Abschluss bildet die Neuropsychologie als Teildisziplin der Psychologie und Neurowissenschaften. Hier steht im Mittelpunkt der Forschung, das Verhalten und Erleben auf der Grundlage der physiologischen Prozesse zu erklären. Dieses hierarchisch aufgebaute Wissenschaftsgefüge entspricht der genuinen wissenschaftlichen Vorgehensweise des Reduktionsverfahrens. Von den höheren hinab zu den niederen Seinsebenen – von den Makro- hin zu den Mikrosphären – erfolgen die Analyseschritte, um den Gegenstandsbereich in seiner Komplexität erfassen zu können.
- Im
10. Kapitel „Aufmerksamkeit“ beschäftigt sich der Autor mit
einem zentralen Bereich des Bewusstseins. Zu Beginn wendet sich
Jäncke
gegen die These, dass Aufmerksamkeit und Bewusstsein gleichzusetzen
seien. Er begründet seine Position mit dem Argument, dass bewusste
und unbewusste Aufmerksamkeitsprozesse unterschieden werden können.
Er koinzidiert jedoch auch, dass es Überschneidungen zwischen
Aufmerksamkeit und Bewusstsein gibt. Anschließend erstellt er eine
hierarchisch aufgebaute Gliederung der Bewusstseinszustände gemäß
dem Wissensstand der Neuropsychologie und Neurologie:
- Koma: kognitive Kontrolle und Bewusstsein fehlen völlig
- REM-Schlaf: eine Schlafphase mit vielen erinnerbaren Träumen
- Somnolenz: ein Hypnosestadium
- Relaxation: in dieser Phase keine gezielte Aufmerksamkeit, eher „ungezieltes Dösen“
- Scanning: in dieser Phase wird die Aufmerksamkeit auf verschiedene Reizgefüge der Außenwelt gelenkt
- Vigilanz: ein Aspekt der Daueraufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum
- Tenazität: „Anspruchsvollste Aufmerksamkeitsform mit höchster Anspannung und Verarbeitungsintensität, bei der alle Aspekte der Aufmerksamkeit (selektive Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit etc.) genutzt werden können.“ (Seite 334)
Diskussion und Fazit
Das Lehrbuch erläutert die komplexen und vielschichtigen Wissensstände der kognitiven Neurowissenschaften in einer gut strukturierten Form, die didaktischen Ansprüchen gerecht wird. Es gilt darauf hinzuweisen, dass die Lektüre des Textes Vorkenntnisse voraussetzt. Die Zielgruppe sind Studenten, vorwiegend angehende Psychologen, Biologen und Mediziner. Dieser Personengruppe kann dieses Lehrbuch empfohlen werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 225 Rezensionen von Sven Lind.
Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 15.05.2014 zu:
Lutz Jäncke: Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2013.
ISBN 978-3-456-85004-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15002.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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