Carmen Dorrance, Clemens Dannenbeck (Hrsg.): Doing inclusion
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 28.01.2015

Carmen Dorrance, Clemens Dannenbeck (Hrsg.): Doing inclusion. Inklusion in einer nicht inklusiven Gesellschaft. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2013. 277 Seiten. ISBN 978-3-7815-1900-8. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.
Entstehungshintergrund und Thema
Auf der Site der Volltextbiblithek (bidok.uibk.ac.at/vernetzung/itagung/index.html) der Universität Innsbruck finden sich auch Informationen zu den seit 1987 im jährlichen Rhythmus stattfindenden Tagungen von (deutschsprachigen) Integrationsforscherinnen und Forschern. Aus diesen Informationen ist u.a. zu entnehmen, dass die 2012er Tagung nach 26 Jahren zum ersten mal in Bayern (in Wartaweil am Ammersee) stattfand. Die erwähnte Tagung setzte sich jenseits einer schon inflationär wirkenden „Inklusionsrhetorik“ das Ziel, Inklusion in einer nicht inklusiven Gesellschaft kritisch- konstruktiv zu denken. Der vorliegende Band stellt daher, so die Herausgeberinnen, „eine Momentaufnahme des ‚Stands der (der Inklusion- d.A.) Diskussion’ in fachwissenschaftlicher und politischer Hinsicht dar (S.11)“ und will nicht so sehr eine systematische und umfassende Zwischenbilanz der vielfältigen Aktivitäten (Aktionspläne und -praxen, überarbeiteten Gesetzentwürfe und Eckpunktpapiere, Leitlinienformulierungen unterschiedlicher Einrichtungen) zur Umsetzung der UN- Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ziehen, sondern eher ein „kritisches Innehalten“ ermöglichen.
Aufbau
„Doing Inclusion“ vereint daher eine Vielzahl von Beiträgen, die sowohl methodologisch-methodischen Fragestellungen im Felde inklusiver Forschungsprozesse als auch politisch und praktisch relevanten Aspekten einer (noch nicht) inklusiven (Schule und) Gesellschaft nachgehen:
- Doing Inclusion. Zur Einführung in den Band (Carmen Dorrance / Clemens Dannenbeck)
- Von Exklusion und Inklusion sonderpädagogischer Fördersysteme im internationalen Vergleich (Justin J.W. Powell)
- Positive Pädagogik: Mit der Weisheit der Vielen zur inklusiven Schule (Olaf-Axel Burow)
- Kinder und Jugendliche mit Behinderung zwischen SGB VIII und SGB XII – im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention (Minou Banafsche)
- Inklusion durch eine Vielfalt schulischer Angebote. Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Bayern… (Bayrisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus)
- Doing Inclusion – radial und ‚expansiv‘ (Ines Boban / Robert Kruschel / Anja Wetzel)
- Teilhabe und Anerkennung – Maßstäbe der Werkstattbeschäftigung (Mario Schreiner)
- Voraussetzungen und Auswirkungen der teilhabe von Frauen mit Lernschwierigkeiten an einem partizipativen Forschungsprojekt (Marion Sigot)
- Soziale Teilhabe von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen – Untersuchungsergebnisse zu persönlichen Netzwerken beim Wohnen mit ambulanter Unterstützung und in Herkunftsfamilien (Matthias Windisch unter Mitarbeit von Viviane Schachler)
- Integrierte Teilhabeplanung (Daniela Rölke)
- InPrax - ein weiterer Schritt zur Inklusion in Schleswig-Holstein? (Andreas Hinz / Robert Kruschel)
- Zur Weiterentwicklung der deutschsprachigen Ausgabe des Index für Inklusion (Ines Boban / Ivo Grossrieder / Andreas Hinz)
- Menschen mit Inklusionserfahrungen als Autor/-innen biographischer Erzählungen (Kirsten Puhr / Teresa Budach)
- Praktische Beispiele als wissenschaftliche Erkenntnisquelle (Reimer Kornmann)
- FiSch - Forschung inklusive Schule: theoretische und methodologische Grundlagen eines videobasierten Unterrichtsforschungsprojekts (Tanja Sturm)
- Zur Konstruktion und Reifizierung von ‚Behinderung‘ durch Forschung (Nina-Kathrin Finnern / Anja Thim)
- „Im gemeinsamen Leben entsteht Normalität.“ - Inklusion und non-formale Bildung am Beispiel des Kinder- und Jugendreisens (Judith Dubiski / Andrea Platte)
- Wissen um Begabung. Theoretische und methodologische Überlegungen zu Praktiken der Begabungsförderung an inklusiven Schulen (Lisa Pfahl / Simone Seitz)
- Lehrerbildung durch Schülerförderung – ein Baustein zur inklusiv-individuellen Förderung (Marcel Veber / David Rott / Christian Fischer)
- Wie Schüler/-innen „Behinderung“ sehen – Ergebnisse einer Studie in einer Bremer Koop-Klasse (Sandra Pohl)
- Lehrer/-innenbeliefs zum gemeinsamen Lernen im inklusiven Mathematikunterricht (Natascha Korff)
- Die Antinomie Individualisiertes & Gemeinsames Lernen - Versuch einer Strukturierung (Katja Scheidt / Andreas Köpfer)
- Evangelisches Schulwerk. Projektskizze inklusionsorientierte Schulentwicklung (Sabine Hettinger)
- Die Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen und der
- Welthunger (Arnold Köpcke-Duttler)
- Inklusion und open space – Gemeinsam inklusiv handeln (Christian Kemper)
- Münchner Kultur leicht gemacht – Kultur-Heft in Leichter Sprache (Pia Arend / Bernadette Felder / Marion Fuhrmann)
- Diskussion mit dem Vorsitzenden der Interfraktionellen Arbeitsgruppe im Bayrischen Landtag und des wissenschaftlichen Beirats auf der Inklusionsforscher/-innentagung (Christine Primbs)
- Brief an die 16 Kultusministerien
- Nachklang: Doing Inclusion – „aber wie?“ (Doris Paulsen)
Ausgewählte Inhalte mit Diskussion
Zu den vielfältigen Facetten des inklusiven Forschungsprozesses zählt etwa der Beitrag von Kirstin Puhr und Teresa Budach, in dem diese vorführen, wie ein narratives Interview in den Text einer biografischen Erzählung verwandelt werden kann und zwar „ohne die Referenz auf eine hinter dem Text liegende Wirklichkeit (S. 136).“ Und tatsächlich: Im Monument (Erzählung) der Dokumente (Interviews) werden diskursive Aussagen zu Inklusionschancen und Exklusionsrisiken und -erfahrungen „authentisch“ verkörpert.
Der Beitrag von Reimer Kornmann weist praktische Beispiele als wissenschaftliche Erkenntnisquellen aus. Beispiele seinen weit mehr als Vorbilder oder Handlungsanleitungen, die nachzubilden oder denen strikt gefolgt werden müsse. Das Beispiel „lade vielmehr dazu ein, zu Verständigung mit sich selbst und anderen über das in ihm enthaltene Allgemeine des betreffenden Sachverhalts (S.149)“. Der aus dem konkreten praktischen Beispiel entspringende Diskurs „bringt auf etwas“, erhellt, macht bewusst, auch und vor allem Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Erarbeiten und im Gebrauch von Wissenstatbeständen.
Die Frage, wie qualitative Sozialforschung den Veränderungen aus dem Inklusionstheorem entsprechen kann, beschäftigt Nina- Kathrin Finnern und Anja Thim, denn nach wie vor bliebe die Forschung der Dichotomisierung „normbasierter Leistungskriterien und Entwicklungsstandards“ (S. 161) verhaftet. Defizitorientierte Denkmuster würden so im Forschungsprozess reifiziert. Inklusionsbasierte Forschungsmethoden hingegen müssten das „gesamte Gewebe des sozialen Feldes“ im Blick haben, „mehrperspektivische Zugänge“ ermöglichen, die „Perspektiven von Betroffenen in den Fokus von Forschung (…) rücken und dabei die Beziehungen zwischen Forscher/in und Beforschten als eine zentralen Aspekt (…) berücksichtigen (S. 165).“ Immer wieder gehe es darum „die Begrenztheit der eigenen Perspektive zu erkennen und zu reflektieren (S.166)“.
In den statements, die politisch und praktisch relevanten Aspekten einer (noch nicht) inklusiven (Schule und) Gesellschaft nachgingen (vgl. insbesondere die Beiträge von Olaf- Axel Burow; Ines Boban/ Robert Kruschel/ Anja Wetzel) scheint immer wieder der offene, optimistische und innovative Charakter einer Gesellschaft (und Schule) in progress auf, der dem Leser einladend und ermutigend, aber auch mit „Kontrastierungen und Zuspitzungen“ versehen, den Möglichkeitssinn schärft.
Diskussion
…Und immer wieder scheint der offene, optimistische und innovative Charakter einer Gesellschaft (und Schule) in progress auf, der dem Leser einladend und ermutigend, aber auch mit Kontrastierungen und Zuspitzungen (vgl. etwa die Beiträge von Burow sowie Boban/ Kruschel/Wetzel) versehen, den Möglichkeitssinn schärft.
Zielgruppen
Lehrende und Studierende vor allem sozialwissenschaftlicher Fakultäten und Studiengänge, an pädagogischer Aktion und Reflexion von gemeinsamen Leben & Lernen Interessierte und schließlich alle, denen eine inklusive Gesellschaftsperspektive am Herzen liegt.
Fazit
Eine Schatzkiste innovativer Ideen und Erfahrungen, die gehoben und geöffnet werden sollte.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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