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Christian Gudehus, Michaela Christ (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch

Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 24.09.2013

Cover Christian Gudehus, Michaela Christ (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch ISBN 978-3-476-02411-4

Christian Gudehus, Michaela Christ (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2013. 420 Seiten. ISBN 978-3-476-02411-4. D: 69,95 EUR, A: 72,00 EUR, CH: 94,00 sFr.

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Thema

Gewalt ist omnipräsent, eine zentrale Größe der menschlichen Lebensform. „Menschliches verstehen zu wollen, ohne von Gewalt zu reden, scheint kaum möglich.“(VII) Anlass genug, nach mehreren Sammelbänden und Sonderheften zum Thema „Gewalt“ während der letzten Jahre nun ein Handbuch „Gewalt“ zu publizieren, das von Christian Gudehus und Michaela Christ im Metzler Verlag 2013 herausgegeben worden ist.

Herausgeberin und Herausgeber, Autorinnen und Autoren

Die beiden Herausgeber sind institutionell an der Universität Flensburg am „Norbert Elias Center for Transformation Design & Research“ angesiedelt, Michaela Christ als „Associate Professor“ und Christian Gudehus als Leiter des „Forschungsbereichs diachrone Transformationsforschung“ dortselbst. Wie man aus dem Autorenregister ersehen kann, konnten die Herausgeber Autoren und Autorinnen gewinnen, die aus der Soziologie und Psychologie, aus der Geschichtswissenschaft und der Philosophie, aus der Medien- und der Kulturwissenschaft kommen. Spezialdisziplinen wie die Polizei- oder Fernsehwissenschaften oder Soziobiologie oder Sportwissenschaften sind mit je einem Artikel aus ihrer Spezialperspektive vertreten. Werner Bergmann, Rainer Dollase, Hans G. Kippenberg, Alf Lüdtke, Sebastian Scheerer, Trutz von Trotha, Eckart Voland und Harald Welzer wirken mit Artikeln ebenso mit wie Privatdozenten, Postdoc-Stipendiaten, Kolleg-Koordinatoren, Assistenten und Pomovierende, die entweder zu Beginn der akademischen Karriere stehen oder aber dem Fachpublikum einschlägig bekannt sein dürften. Insgesamt schreiben 24 Frauen, wovon 8, und 36 Männer, wovon 20 den Professorentitel angeben, an dem Handbuch mit.

Aufbau

Nach einer sechzehnseitigen Einführung der beiden Herausgeber, in der Themen und Aufbau vorgestellt, Theorien und Konzepte, Ansätze und Forschungen diskutiert werden, bietet das Handbuch fünf weitere Großkapitel mit den Überschriften

  • „Rahmungen von Gewalt“ (Kap. II; 10 Beiträge),
  • „Praktiken der Gewalt“ (Kap. III; 13 Beiträge),
  • „Merkmale, Prävention und Folgen“ (Kap. IV; 14 Beiträge),
  • „Repräsentation der Gewalt“ (Kap. V; 7 Beiträge),
  • „Disziplinäre Zugänge“ (Kap. VI; 11 Beiträge).

Ein „Anhang“ (Kap. VII) beschließt das Handbuch, der auf Seite 395, eine einseitige Bibliografie enthält, ein siebenseitiges Verzeichnis von Institutionen, Zeitschriften und Ressourcen, eines zu den Autorinnen und Autoren sowie ein Register zu Personen, Sachen und Orten.

Ausgewählte Inhalte

Das Themenspektrum, das unter den verschiedenen Überschriften dargeboten wird, ist vielfältig und weit verzweigt.

Unter dem Titel „Rahmungen von Gewalt“ (Kapitel II.) diskutieren Rainer Dollase Gewalt als „Schädigung“ im Kontext von Erziehung und Harald Welzer Gewalt als Produktionsform einer Gewaltökonomie der neuen Kriege. Werner Bergmann beschreibt Gewaltformen im Kontext von Rassismus und Antisemitismus und Hans G. Kippenberg behandelt religiöse Gewalt als Wechselwirkungseffekt zwischen religiösen Gemeinschaften und einer ihnen feindlichen Umwelt. Eine Ausweitung des Gewaltbegriffs zeigt Marie Böckler, die den weltweiten Klimawandel als Ursache begreift, der durch Ressourcenverknappung, den Anstieg des Meeresspiegels und durch Naturkatastrophen sozioökonomische Wirkungen zeitige, die letztlich gewalttätig ausgetragene Konflikte nach sich ziehe. Weitere Beiträge behandeln die Gewalt von Polizei (Carsten Dams), Gewalt an Tieren (Sonja Buschka/Julia Gutjahr/Marcel Sebastian), Gewalt und Nationalismus (Ute Planert), Gewalt und Sexualität (Gaby Zipfel) sowie Gewalt und Sozialer Nahraum (Manuela Brandstetter).

In den 13 Artikeln des zweiten Großkapitels „Praktiken der Gewalt“ (Kapitel III.) werden in alphabetischer Reihenfolge „Amok“ (Britta Bannenberg), „Attentat“ (Sven Felix Kellerhoff), „Beleidigung“ (S.K.Herrmann), „Bombardierung“ (D.Süß), „Ohrfeige“ (W. Speitkamp), „Pogrom“ (S.Wiese), „Schlägerei“ (M.Sturm), „Vergewaltigung“ (R.Mühlhäuser) sowie „Verschwindenlassen“ (E.Schindel/R.F.Layús) auf ihre Gewaltsamkeit hin untersucht. Hier entwickelt der Hamburger Kriminologe Sebastian Scheerer „Mord“ im Anschluss an Émile Durkheim als den „empörenden“ Gewaltakt schlechthin, weil hier ein Mensch einen anderen „im Vollbesitz seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit … aus egoistischen Motiven bewusst, gewollt und geplant umbringt“(141).

In den 14 Artikeln des dritten Großkapitels „Merkmale, Prävention und Folgen“ (Kap. IV.) finden sich Beiträge von Alf Lüdtke zu Gewaltakteuren „Täter, Opfer, Zuschauer“ und von Trutz von Trotha zur Grausamkeit. Lüdtke führt auf wenigen Seiten unter dem Titel „Akteure“ vor, wie unzutreffend, unzulänglich und fragwürdig jede irgendwie motivierte Typisierung von Tätern, Opfern und Zuschauern ist. Sobald der Untersuchungsfokus auf die Ebene des Gewalthandelns selbst, weg von den „Kommandohöhen“, den Organisationsspitzen und Schreibtischen eingestellt wird, ergeben sich Inkonsistenzen, die die inhärente Neigung zur Symmetrie und Logizität von Systematisierungen aller Art als Abstraktionen im schlechten Sinn bloßstellen: Abgezogen und abgehoben von der Wirklichkeit des tatsächlichen Geschehens, erzeugen sie Trennschärfen, die sich der Logik des Urteilens und Unterscheidens verdanken und nicht dem Sosein der Wirklichkeit von Gewalt. Für Lüdtke besteht daher „Gewalt“ in der „Tätlichkeit, die Verletzungen beibringen kann – die vor allem tötet oder töten soll: Gewalt als Mord und Totschlag.“ Dazu zählt auch die „kleine“ Gewalt der „Ohrfeigen und Stöße, aber auch Schläge und Tritte mit unbewaffneten Fäusten, Händen oder Füßen.“ (183) Trutz von Trotha gibt einen Überblick über die Ubiquität grausamen Handelns, das eine besondere Art der Gewaltausübung darstellt, da es Menschen gezielt und absichtlich psychischer und physischer Qual aussetzt. Trotha deutet die Grausamkeit als eine äußerste Machthandlung: „Vor allem macht der grausam Handelnde die Erfahrung einer unvergleichlichen Freiheit, der Freiheit, eine andere Kreatur nach Belieben verletzen und schrankenlos über sie verfügen zu können.“(ebd.: 226).

Das Spektrum dieses Kapitels reicht weit. Winfried Speitkamp schreibt über „Gewaltgemeinschaften“, Michaele Christ über „Codierungen“, womit auf die Abhängigkeit dessen, was in einem Kulturkreis als Gewalt begriffen wird, und auf ihre jeweilige „diskursive“ Formung abstellt. „Emotionen“ (Christian von Scheve/Sonja Fücker), „Körper“ (Katharina Inhetveen), „Raum“ (Marc Buggeln), „Schmerz“ (Silvan Niedermeyer), aber auch „Gewaltprävention“ (Rebbecca Bondü und Witold Mucha) und „Helfen“, das Christian Gudehus als prosoziales Handeln definiert, das Leidensdruck von Personen mindert, die gewaltvollem Handeln ausgesetzt sind, werden unter dem Aspekt ihrer Gewaltsamkeit zum Thema gemacht.

In den beiden letzten Großkapiteln „Repräsentationen der Gewalt“ und „Disziplinäre Zugänge“ wird die Gewaltthematik quasi als abhängige Variable thematisiert.

Repräsentiert wird „Gewalt“ in Medien, die sie darstellen. Und insofern geht es hier nicht um Gewalt als Realität des Ausübens und Erleidens, sondern als Darstellung von Realität, die nicht so ist, wie sie dargestellt wird, aber das gerne vergisst oder aber vergessen machen will. Insofern geht es um Gewaltdarstellung in Abhängigkeit von Darstellungsmedien und nicht um das Phänomen der Gewalt >an sich<, um Gewalt in Abhängigkeit von medialen Formen, also von „Literatur“ (Andrea Geier), von „Comic“ (Janis Nalbadidacis), von den „Massenmedien“ (Hannah Früh), von „Digitalen Spielen“ (André Melzer) und vom „Internet“ (Petra Grimm).

Während in der sozialen Realität häufig die Frage, ob und was gewalttätiges Handeln ist, strittig oder nur schwer zu beantworten ist, scheint dies in der virtuellen Welt der Medien, die sie zu Unterhaltungs- und instrumentellen Zwecken wie Propaganda konstruieren, kein Problem zu sein. Bei gewalthaltigen Repräsentationen wie digitalen Spielen geht es ums e-playing- Auslöschen programmierter Figuren oder Avataren, in Comics wird nach ästhetischem Schema und in Thrillern nach Skript getötet, geschlagen und verletzt. In Slasher Filmen werden massenhafte, fließbandartige Metzeleien gesichtsloser Individuen oder grausame Folter oder Hinrichtung identifikationsfähiger Figuren vorgeführt, deren Hinschlachtung nach Schema „F“ bis ins letzte Detail hinein genau gezeigt werden. Ziel ist es, die Zuschauer in starke Angsterregung zu versetzen oder auch deren Angstlust zu befriedigen, alles erwartbar und daher auf Potenzierung und immer neue Grenzüberschreitungen hin ausgelegt. In ihrer Wirkung auf Konsumenten lösen Gewaltdarstellungen nicht unvermittelt Gewalthandeln aus, da die Gewaltdarstellung doch primär die Gewaltvorstellung befeuert und nicht eigene Gewalthandlung motiviert. Dennoch macht diese eindeutige und zumeist unzweideutige Darstellung körperlicher Gewalt toleranter gegenüber Gewalthandeln und intoleranter gegenüber Gewalterleiden anderer. Sie bereiten einer gewaltaffinen Disposition oder Geneigtheit gegenüber den Tätern und Abgeneigtheit gegenüber den Opfern den Boden, die insgesamt eher aggressiv und menschenunfreundlich macht. In ihrer Wirkungsweise sind diese Art Gewaltdarstellungen zweideutiger als die Gewalt, die sie zeigen.

In einem Beitrag über „Repräsentationsformeln kollektiver Gewalt“ (José Emilio Burucia/Nicolás Kwiatkowski) wird der Hiatus zwischen gewalttätigem Geschehen und seiner diskursiven oder medialen Formung noch deutlicher. Die Handbuchautoren zeigen wiederkehrende Muster in der Darstellung massenhafter Gewaltexzesse, die als „Jagd“, „Martyrium“, „Hölle“ u.a. sprachlich kommuniziert werden. Und gerade die Darstellung der medialen Darstellungsmuster von Gewalt zeigt, wie ohnmächtig unsere sprachlichen und bildlichen Symbolisierungen angesichts dessen ist, was „Gewalt“ tatsächlich dem Leben antut. Das Mittel der starken Übertreibung und des überwältigenden Effektes eindeutiger Gewaltdarstellung erregen bestenfalls starke und überwältigende Affekte und polarisieren schlechtestenfalls die Zuschauer, die im Affektsturm jegliche Urteilskraft verlieren und zur Manövriermasse propagandistischer Motivierungen sich entmündigen sollen. Das aber zeigt, wie notwendig eine Darstellung ist, die im Bewusstsein ihrer prinzipiellen Selektivität und Interessiertheit trotzdem möglichst detailpräzise erzählt oder berichtet, wie es war, und den Zuschauern die Welt der Gewalt so zumutet, wie sie aus dem Zusammenspiel von Zufälligkeit und Notwendigkeit so gar nicht musterhaft und schematisch heraus entsteht, die in ihren Verletzungswirkungen immer moralisch irritierend sein dürfte.

Im abschließenden Kapitel „Disziplinäre Zugänge“ sind Versuche versammelt, „Gewalt“ aus der Perspektive verschiedener „Fächer“ zu thematisieren: aus der der Anthropologie/Ethnologie (Erwin Orywal), der Erziehungswissenschaft (Mirja Silbenbeumer), der Geschichtswissenschaft (Elissa Mailänder) und der Literaturwissenschaft (Hania Siebenpfeiffer), aus der der Philosophie (Alfred Hirsch) und Hirnforschung (Daniel Strüber), der Psychologie (Christian Gudehus/Roland Weierstall) und der Kriminologie (Johannes Stehr), aus der der Soziologie (Michaela Christ), der Soziobiologie (Eckart Voland) und schließlich der Sportwissenschaft (Silvester Stahl). Die Beiträge stellen die Debatten in ihren akademischen Disziplinen dar und geben relativ neutrale Ein- und Ausblicke über die Probleme und Entwicklungen in den jeweiligen Fachdiskussionen.

Die im weitesten Sinne kulturwissenschaftlichen Zugänge heben besonders die Abhängigkeit dessen, was als Gewalt verstanden und problematisiert wird, von symbolischen oder kulturellen Ordnungen hervor. Das Alter und die Ausdifferenziertheit dieser Wissenschaften erlauben keinen voraussetzungslos naiven Begriff von Gewalt mehr, der irgendeine einheitliche Konzeption akzeptabel erscheinen ließe. Diesen letztlich auf einen Pluralismus und eine Relativität hinauslaufenden Gewaltbegriffen setzen die noch vergleichsweise junge Hirnforschung und Soziobiologie einfache und eindeutige Gewaltkonzepte entgegen, für die ebenso eindeutige wie schlichte Erklärungen angeboten werden. Aggression und physische Gewaltsamkeit von Einzelnen und Gruppen mit Verletzungsabsicht dominieren hier das Gewaltverständnis, strukturelle oder symbolische Gewalt, die per se menschengemachten und also kulturabhängigen Gewaltbegriffe geraten hier gar nicht erst in den Fokus. Das hat den unbestreitbaren Vorteil, genauere Aussagen über Gewalt und ihre Ursachen zu gewinnen. So thematisiert die Hirnforschung Gewalt als extreme „Schädigung des Opfers“ (332), die als reaktiv-impulsive Gewalt jedem Menschen unter bestimmten Bedingungen möglich ist und als proaktiv-instrumentelle Gewalt nur „Psychopathen“. Für die eine reaktiv-impulsive Gewalt konstatiert sie eine Hyperfunktion der Amygdala und für den Typus der psychopathischen Gewalt eine Hypofunktion der Amygdala. Letzteres beruht auf einer Schädigung derselben, die z.B. das Erkennen von Furcht oder Ärger bei Alter Ego als Folge der Aggression Egos verhindert, was für das interaktive Erlernen von Aggressionskontrolle aber von fundamentaler Bedeutung ist.

Die Soziobiologie fasst „Gewalt“ wie jedes andere durch Sprachsymbole kulturübergreifend, also scheinbar ubiquitär repräsentierte Verhalten als letztlich in der humanen und extrahumanen Genetik fundiert und determiniert auf. Sie fragt deshalb nach den Ursachen dafür, weshalb sich Gewalthandeln genetisch hat verankern können oder, wie Voland formuliert, „…wieso sich >Gene für< dieses Verhalten in den Darwinschen Selektionsprozessen durchgesetzt haben“(379). Als Erklärungsprinzip fungiert dabei das „genetische Prinzip >Eigennutz<“, das Gewalt als Verhaltenskonsequenz individueller „Kosten-Nutzen-Bilanzen“ konzipiert, „wenn es darum gehen soll, Gewaltphänomene evolutionär zu verstehen.“ (381) Mit Hilfe dieses Erklärungsprinzips wird Gewalt auf den Gebieten der Rivalität der Männer um die Weibchen/Frauen, der sexuellen Gewalt, der Gewalt gegen Kinder und zwischen Gruppen u.a. erklärt. Gewalthandeln besonders unter jungen Männern wird so „als Ausdruck verschärfter sexueller Konkurrenz“ (ebd.) begriffen, die um die auf dem Partnermarkt immer knappen Weibchen/Frauen konkurrieren, unbewusst angetrieben von ihren Genen, die sie stets den Nutzen der begehrten Ressource, vulgo der Frau, die Kosten des Kampfes mit den Rivalen und die Wahrscheinlichkeit eines Sieges ins subjektlose Kalkül ihrer Optimierung ziehen. Diese Sichtweise trifft in bekannter Darwinscher Manier gleich mitten ins Herz des okzidentalen Selbstverständnisses, dessen Kern seit Kants Aufklärungsschrift doch im mündigen Menschen und seiner Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung in Freiheit besteht. Das alles lässt die Soziobiologie kalt. Mit ihrer Idee vom genetischen Eigennutz meint sie die „ultimate“ Schlüsselursache zur Verhaltenserklärung in Händen zu halten, die anstelle selbstbestimmter Subjektivität von subjektlosen Optimierungsprozessen ausgeht und jede kultur- oder sozialwissenschaftliche Kritik an der betont einzelwissenschaftlichen Perspektive selbstbewusst als „Kategorienfehler“ zurückweist.

Diskussion

Was m.E. nach fehlt, ist mehr Raum für eine Kritik an Galtung/Bourdieu, die in der derselben ausführlicheren Weise im Handbuch nicht zu Wort kommt. Immerhin bleibt es ein offenes und interessantes Grundproblem, „Gewalt“ und „Gewaltwirkungen“ auf Größen oder Kräfte zuzurechnen, die sich nicht in handlungstheoretischen Grundbegriffen formulieren lassen wie die Gewalt des „Systems sozialer Ungleichheit“ oder die Gewalt von „Institutionen“ oder einfach nur die Gewalt von „Beton“.

Hier hätte eine neue Form der Präsentation mehr Interdependenz der Beiträge in den Gesamttext gebracht, deren Interdisziplinarität eine Inkommensurabilität und Inkompatibilität der Beiträge notwendig entstehen lässt. Statt in diesem Zusammenhang immer wieder auf das Fehlen eines einheitlichen oder gemeinsamkeitsfähigen Gewaltkonzeptes in der wissenschaftlichen Diskussion hinzuweisen, hätten die Herausgeber die Form der Kontroverse wählen können, in der die Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Gewaltkonzepte direkt hätten aufeinander Bezug nehmen können. Wie so etwas geht, haben zuletzt Gert Albert und Steffen Sigmund mit dem Sonderheft 50/2010 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie für die Soziologische Theorie mustergültig vorgeführt.

Einheitlichkeit zu irgendeinem Themenbereich ist bei dem derzeitigen und vermutlich auch künftigen Stand der Sozialwissenschaften ohnehin nicht zu erwarten, denn diese sind so multiparadigmatisch wie die Naturwissenschaften in ihren mathematischen Grundlagen dogmatisch. Das aber ist m.E. kein Nachteil, sondern ein Vorteil, sofern mensch hier keine normative Vorstellung einer konsensbasierten Einheit der Sozial- und Kulturwissenschaften voraussetzt. Die Pluralität der Ansätze und Konzeptualisierungsweisen einmal akzeptiert, würde gerade die Frage Sinn machen, „was Gewalt ist?“, die immer genauere und auch angreifbarere und widerlegungsfähigere Antworten ergibt, als solche, die „Gewalt“ statt es zu definieren, nur wie die Herausgeber „vermessen“ wollen, was genau klingt, aber vage ist. Disziplinäre Gewaltdefinitionen sind sinnvoll, wenn sie im Bewusstsein ihrer immer begrenzten und überbietbaren, kritisierbaren und verbesserbaren Reichweite getroffen werden und z.B. ganz im Sinne von Heinrich Popitz‘ auf Quantifizierbarkeit und Qualifizierbarkeit hin konstruiert werden. Dann ließe sich besser bestimmen, in wieweit oder in welchem Maß und Grad ein Handeln wie „Helfen“ gewaltsam ist, bezogen auf eine empirische Situation und empirische Akteure. Und dann würde sich zeigen, dass Menschen im Krieg nicht in jeder Sekunde und in jeder Situation immer schon gewaltsam „sind“, sondern erst, wenn sie in bestimmter Weise handeln, also z.B. aus ihren Waffen feuern, und keine Gewalt ausüben, wenn sie im Quartier Briefe schreiben, Bücher lesen oder Mahlzeiten essen. Inwieweit eine solche Heuristik mit den Konzepten von struktureller und symbolischer Gewalt zu realisieren ist, ist eine interessante Frage und eine Herausforderung für die Wissenschaft. Galtungs Konzept ist als Generator wissenschaftlicher Forschungen so fragwürdig, wie es als Inspirator für Sprachpolitik nützlich war und ist. So entgrenzt es den Gewaltbegriff und löst ihn von jeglichem physischen Substrat, öffnet ihn zu einem catch all Begriff und macht ihn dadurch auch für beliebige und wohlfeile Politisierung brauchbar. Und so löst sich das Rätsel der geradezu apodiktischen Sicherheit, mit der AutorInnen dieses Galtungschen und Bourdieuschen Gewaltverständnisses soziale Verhältnisse mit dem Attribut „gewaltsam“ beschreiben: Hinter dieser Apodiktik angesichts unklarer Zurechnungsverhältnisse steht eine politische Wertentscheidung, welcher Art auch immer. Das ist verständlich, wenn mensch die Leiden betrachtet, die durch Ungleichheitsverhältnisse oder durch Klimawandel über Menschen hereinbrechen. Aber das hebt ihre sozialwissenschaftliche Diskussionsbedürftigkeit nicht auf, der mensch sich nicht durch politische Werturteile entledigen kann. Denn an solchen Verhältnissen und ihren Effekten zeigt sich in aller Regel, dass sie infolge ihrer „gesellschaftlichen Vermitteltheit“ gerade auf „Gewalt“ verzichten können und die Benachteiligungswirkungen durch subtilere Mechanismen erreichen, die mensch besser als „Zwang“, „Drohung“, Manipulation u.a. bezeichnen würde.

Zumindest in unserer Gesellschaft haben die Konzepte der symbolischen und strukturellen Gewalt auch die Funktion, Zustände und Verhältnisse unter Bezugnahme auf das Tabu der Gewaltsamkeit zu skandalisieren, da „Gewalt“ per se ein nicht zu überbietender Unwert darstellt, der die derart Bezeichneten kriminalisiert und dämonisiert. Und diese Entgrenzung des Gewaltbegriffs ist m.E. auch der Grund dafür, dass die Diskussion um seine Definition nicht verschwinden, sondern bleiben wird. Aber das ist ein weites Feld, weiter, als es im Rahmen einer Rezension abgeschritten werden kann.

Fazit

Es ist eine der Aufgaben von Handbüchern, den Lesern eine große Bandbreite von Einsichten und Thesen der unterschiedlichsten Wissenschaften zum Phänomen der Gewalt anzubieten. Die Beiträge sind durchweg solide recherchiert und stellen jeweils einen State of the Art dar. Insofern wird das Handbuch seinem selbstgesetzten Ziel gerecht, „für jede/jeden akademisch Vorgebildete(n) verständlich zentrale Fragen des Feldes zu erörtern und zugleich Hinweise auf weitere Forschung, Institute, Akteure und Publikationen zu liefern.“ (VII) Auch bemühen sich die beiden Herausgeber um Präsentation möglichst aller derzeitigen Ansätze zur Gewaltforschung und nehmen zumindest gegenüber der im weiten Sinne „kulturwissenschaftlichen“ Gewaltforschung eine liberale Haltung ein. So präsentieren sie sowohl Richtungen, die im Anschluss an Weber, Popitz und Trotha „Gewalt“ klassisch auf das Kriterium der physischen Gewalt festlegen, als auch solche, die im Anschluss an Galtung von struktureller und im Anschluss an Bourdieu von symbolischer Gewalt sprechen. Die Autoren nehmen in diesem Zusammenhang Stellung für eine Ausweitung des Gewaltbegriffs im Sinne Galtungs und Bourdieus und gegen die Einengung des Gewaltbegriffs im Sinne Heinrich Popitz‘, des neben Foucault laut Register am meisten zitierten Autors.

Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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Es gibt 34 Rezensionen von Richard Utz.

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ISSN 2190-9245