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Nancy M. Bodmer: Psychologie der Jugendsexualität

Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Weller, 18.02.2014

Cover Nancy M. Bodmer: Psychologie der Jugendsexualität ISBN 978-3-456-85226-3

Nancy M. Bodmer: Psychologie der Jugendsexualität. Theorie, Fakten, Interventionen. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2013. 206 Seiten. ISBN 978-3-456-85226-3. 29,95 EUR. CH: 39,90 sFr.

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Autorin

Dr. Nancy M. Bodmer ist Leiterin des Zentrums für Entwicklungs- und Persönlichkeitsdiagnostik an der Fakultät für Psychologie der Universität Basel und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen in der Schweiz (EKKJ).

Entstehungshintergrund

Anlass und empirischer Ausgangspunkt der vorliegenden Publikation ist eine 2008 mit einer Arbeitsgruppe der EKKJ unter 1479 12- bis 20jährigen Jugendlichen durchgeführte Internetbefragung, die sich mit ihren 43 Fragen an die Jugendsexualitätsstudien der BZgA anlehnt. 2009 wurde sie unter dem Titel „Jugendsexualität im Wandel der Zeit“ veröffentlicht (www.ekkj.admin.ch).

Aufbau

In den drei Teilen der im Stile eines Forschungsberichts oder einer Qualifikationsarbeit tief gegliederten Publikation geht es im ersten Teil um entwicklungspsychologische Theorie mit Bezügen zur Jugendsexualität, im zweiten um Fakten aus empirischen Studien, im dritten um Interventionen.

Inhalt

Das pädagogische Ziel des Theorieteils wird durch die normative Überschrift „Ein verantwortungsvoller Umgang mit Sexualität als Entwicklungsaufgabe des Jugendalters“ deutlich. Wenngleich die Autorin einleitend darlegt, dass sie von risiko- und defizitorientierten Konzepten abrücken und Jugendsexualität ressourcenorientiert betrachten will, bleibt ihr Blick auf präventive Verhaltensbeeinflussung fokusiert. Autonomie und Selbstbestimmung tauchen als pädagogische Ziele nicht auf. Sexualität wird zudem auf partnerschaftliche Sexualität eingeengt.

Zunächst wird das in den 1940er Jahren von Havighurst entwickelte (und seither verschiedentlich modifizierte) Konzept der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter erläutert. Einige der für das Thema Partnerschaft und Sexualität relevanten Aufgaben (z.B. Aufgabe 6: „Vorbereitung auf eine anhaltende Partnerschaft respektive auf ein Ehe- und Familienleben“/ 26) werden auf Basis aktueller statistischer Befunde (Mikrozensus, Shell-Studien) zeitgemäß diskutiert und relativiert.

Verschiedene Modelle zur Erklärung jugendlichen Sexualverhaltens werden erläutert: Eine Theorie jugendlichen Problemverhaltens, eine Theorie sozialer Kontrolle, eine Entscheidungstheorie und Theorie geplanten Verhaltens sowie ein Modell jugendlichen Sexualverhaltens als Teil der Regelentwicklung (vgl. 35 ff.). V.a. Ansichten amerikanische Autoren werden kritiklos aneinander gereiht. Im Abschnitt über die Bedeutung kognitiver Faktoren für das Sexualverhalten und dessen soziale Kontrolle ist zu lesen: „Kognitive Faktoren sind veränderbar. Aus diesem Grunde bewirken Interventionen dann am meisten, wenn sie kognitive, das Gesundheitsverhalten beeinflussende Faktoren manipulieren. Ziele der Interventionen sind in der Regel das zeitliche Aufschieben des ersten Geschlechtsverkehrs, die Förderung einer effizienten Verhütung und die Beschränkung der Anzahl der Sexualpartner. Das Aufschieben des ersten Geschlechtsverkehrs wird als besonders wichtig erachtet, da eine frühe Initiierung eines aktiven Sexualverhaltens mit risikoreicherem Sexualverhalten verbunden sein kann. Entsprechende Interventionsmodelle werden im dritten Teil dieses Buches besprochen.“ (38)

Ein größerer Abschnitt befasst sich mit Pubertät/ körperlicher Entwicklung. Die Darstellung der Phänomenologie der Geschlechtsreife erfolgt nicht auf dem neuesten Stand, insbesondere Geschlechtsunterschiede werden nicht hinlänglich betrachtet. Aussagen wie „Der Wachstumsschub findet in der Regel zu Beginn der Pubertät statt.“ (47) trifft z.B. nur für Mädchen zu, ebenso wie der Zusammenhang zwischen BMI und Menarche. Die Aussage, dass die säkulare Akzeleration „seit den 1980er Jahren zum Stillstand gekommen sei“ (55) trifft nicht zu, hätte bei Zurkenntnisnahme der (an anderen Stellen des Buches ausführlich zitierten) Daten aus den deutschen BZgA-Studien anders dargestellt werden müssen. Im Abschnitt zu den psychosozialen Auswirkungen von individueller Akzeleration bzw. Retardation werden geschlechterdifferente Ressourcen und Risiken diskutiert.

In einem weiteren Abschnitt wird das partnerbezogene Sexualverhalten Jugendlicher aus der Sicht juristischer Normative als Verhalten im „Regel- und im Risikobereich“ dargestellt. Eine tabellarische Übersicht der Straftatbestände gegen die sexuelle Selbstbestimmung in der Schweiz und Deutschland bzw. Österreich ist an sich verdienstvoll, aber an vielen Stellen nicht präzise. Hinsichtlich der Pornografie wird z.B. ausgesagt, dass die gesetzliche Regelung in der Schweiz der deutschen entspricht, gleichzeitig wird ausgesagt, dass Pornografie Kindern nicht zugänglich gemacht werden darf – in Deutschland darf sie auch Jugendlichen, resp. unter 18jährigen nicht zugänglich gemacht werden.

„Sexuelles Risikoverhalten“ („umfasst nach der psychologischen Forschung ein für den Beginn sexueller Aktivität frühes Alter, eine ineffiziente Verhütung respektive ungeschützten Geschlechtsverkehr und den häufigen Wechsel der Sexualpartner…“/70) wird unmittelbar in Bezug gesetzt zu allgemeinem Risikoverhalten und jugendtypischer Delinquenz. Korrekterweise wird aber auch festgestellt, dass heutzutage nur eine Minderheit Jugendlicher riskantes Sexualverhalten zeigt.

Im zweiten Buchteil werden empirische Fakten zur Jugendsexualität aus deutschen Studien (v.a. BZgA) Schweizer Untersuchungen und einigen weiteren dargestellt und diskutiert. Die Autorin konstatiert, dass seit Ende der 1970er Jahre keine generellen Vorverlagerungsprozesse beim Eintritt ins partnerschaftliche Sexualleben festzustellen sind, dass es aber anhaltende Vorverlagerungen in jüngeren Altersgruppen gibt. Das Verhütungsverhalten hat sich im historischen Vergleich drastisch verbessert: In der Schweizer Studie von 2008 haben 85% beim ersten Mal verhütet (das entspricht den BZgA-Ergebnissen). Unter den Mädchen, die ihr erstes Mal mit 14 oder früher erlebt haben sind es jedoch nur 42% (85). Weitere Charakteristika des ersten Geschlechtsverkehrs (Partnerstatus, Planung, Initiative, Gesamterleben …) und Einflussbedingungen auf das erste Mal (körperliche Reife, Bildungsgrad, Migrationshintergrund, Religiösität) werden dargestellt und diskutiert. Ein weiterer Abschnitt widmet sich Personen und Medien der Sexualaufklärung. Hauptaufklärungsinstanz in der Schweiz ist demnach die Schule (96). Als Hauptwissensquellen werden allerdings andere Jugendliche und das Internet genannt (97). (Da die konkreten Fragestellungen nicht mitgeteilt werden, ist dem Leser nicht möglich, die Genese der widersprüchlichen Ergebnisse nachzuvollziehen.) Das Gros der Schweizer Jugendlichen hält sich für gut aufgeklärt, allerdings wird diese subjektive Sicherheit durch einen Wissenstest relativiert: 76% der Jugendlichen geben an zu wissen, wann die Möglichkeit schwanger zu werden am größten ist, aber die knappe Hälfte gibt eine falsche Antwort (99).

Ausführlich dargestellt werden Fakten zur Verhütung und zu Teenagerschwangerschaften. Mit rund drei Schwangerschaften pro 1000 15- bis 19jährige hat die Schweiz im internationalen Vergleich eine der geringsten Raten (Deutschland: etwa 7,5 / Zahlen aus 2008 / 110). Einer der Gründe könnte darin liegen, dass in der Schweiz die Pille danach im Gegensatz zu Deutschland nicht verschreibungspflichtig ist. Als Hauptrisikofaktoren für unzulängliche Verhütung und ungewollte Schwangerschaft werden geringe Schulbildung und soziale Benachteiligung genannt.

Weitere Abschnitte im Kapitel der „Fakten zur Jugendsexualität“ behandeln die sexuelle Orientierung, Besonderheiten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie die Mediennutzung Jugendlicher. Eigene empirische Befunde liegen zu diesen Themen nicht vor.

In Bezug auf homosexuelles coming out, psychosoziale Anpassungsprobleme und damit einhergehende erhöhte Suizidgefährdung werden einzelne Ergebnisse spezieller Studien mitgeteilt.

Die Darlegung der Spezifika migrantischer Jugendlicher fußt weitgehend auf der BZgA-Spezialstudie von 2010. Obwohl viele Ergebnisse stereotype Interpretationen nahelegen (z.B. traditionelle Geschlechtsunterschiede i.S. sexuell aktiverer Jungen und zurückhaltenderer Mädchen nachweisbar sind), verweist die Autorin berechtigt darauf, dass die Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine sehr heterogene Gruppen sind und die Mehrheit von ihnen moderne Auffassungen von partnerschaftlicher Sexualität besitzt.

Obwohl den Medien (insb. dem Internet) in Bezug auf die sexuelle Entwicklung nicht nur negative sondern auch positive Wirkmöglichkeiten zugebilligt werden, überwiegt doch eine risikoorientierte Betrachtung. Das betrifft insbesondere die Beschreibung des Gefahrenpotenzials der interaktiven Internetnutzung (chatten, soziale Netzwerke, sexting). Hinsichtlich der Nutzung und Wirkung von Pornografie folgt die Autorin eher einer entspannten „Veralltäglichungs“-These, die von einer medienkompetenten Nutzung ohne systematische Deformierung psychosexueller Entwicklung ausgeht. Abschließend im Empiriekapitel systematisiert die Autorin Geschlechtsunterschiede der sexuellen Entwicklung.

Der dritte Abschnitt des Buches betrifft Interventionen, Fragen der Prävention und Gesundheitsförderung. Eine auf Gefahrenabwehr und Abstinenz abzielende Aufklärung wird kritisiert, Entwicklungsförderungskonzepten werden befürwortet, verschiedene Präventionsansätze erläutert, Risiko- und Schutzfaktoren werden dargestellt. Schließlich geht die Autorin auf Möglichkeiten der verbesserten Sexualaufklärung durch Eltern, in der Schule, sowie durch Ärzte und Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen ein. Den Abschluss bilden einige medienpädagogische Hinweise.

Fazit

Das Buch liefert in seiner empiriegestützen Beschreibung von Jugendsexualität wenig Neues. Begrüßenswert ist der Versuch, akademisch etablierte entwicklungspsychologische Theorie und empirische Befunde zu verschränken. Die (sexual)pädagogische Grundhaltung der Autorin ist zwar nicht konservativ-bewahrpädagogisch, aber ebenso wenig konsequent-emanzipatorisch.

Rezension von
Prof. Dr. Konrad Weller
Professor i.R. für Psychologie und Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, Diplom-Psychologe (Universität Jena), Analytischer Paar- und Sexualberater (pro familia)
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Es gibt 15 Rezensionen von Konrad Weller.

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ISSN 2190-9245