Ingolfur Blühdorn: Simulative Demokratie
Rezensiert von Dr. Harald Schmidt, 08.10.2013

Ingolfur Blühdorn: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende.
Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2013.
304 Seiten.
ISBN 978-3-518-12634-9.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Edition Suhrkamp - 2634.
Thema
Die oft und variantenreich konstatierte Krise der Demokratie in den westlichen Staaten postindustrieller Prägung wird hier aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet und zugleich sowohl relativiert als auch dramatisiert. Ingolfur Blühdorn bietet mit dem Begriff der simulativen Demokratie ein Konzept an, um die scheinbar paradoxe Gleichzeitigkeit von einerseits abnehmendem Interesse an Demokratie, d.h. politischer Beteiligung in Form von Wahlen und Parteimitgliedschaften, und andererseits zugleich höheren demokratischen Ansprüchen, beispielsweise in Form von eingeforderter Mitsprache und gesteigerter Bürgerbeteiligung in unkonventioneller Manier, d.h. Massenprotesten und „wutbürgerlichen“ Forderungen nach mehr (basis-)demokratischer Beteiligung, zu erfassen.
Autor
Ingolfur Blühdorn lehrt politische Soziologie und Politikwissenschaft an der britischen Universität Bath. Er beschäftigt sich mit Nachhaltigkeitsdiskursen, ökologischen Bewegungen und Umweltpolitik sowie dem Wandel der Demokratie in gegenwärtigen Konsumentengesellschaften. Er ist als Experte sowohl für neue soziale Bewegungen als auch grüne Parteien mit der Heinrich-Böll-Stiftung und ihrer grünen Akademie verbunden.
Aufbau
Die Schrift von etwa 300 Seiten besteht aus fünf Kapiteln etwa gleichen Umfangs, welche durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis ergänzt werden.
Inhalt
Das Auftaktkapitel von der Demokratie in der (Dauer-)Krise stellt einen Einstieg in die Problemwelt nicht nur der modernen Demokratie dar, veranschaulicht demokratische Paradoxien und führt vor allem den modernisierungstheoretischen Ansatz ein. Die axiomatische Grundannahme einer in drei Phasen zu teilenden Moderne, welche inzwischen in ihrer dritten Phase angelangt sei, ist für die folgende Analyse fundamental.
Das zweite Kapitel befasst sich mit den Entwicklungen und Erscheinungen, welche Grund für demokratischen Optimismus sein könnten. Dabei lässt der Autor keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass dieser Optimismus „vor allem Ausdruck einer demokratischen Selbstillusionierung“ sei (S. 130).
Die in Kapitel drei behandelte postdemokratische Wende schließt zwar an den vor allem durch Colin Crouch geprägten Begriff der Postdemokratie an, geht aber über ihn hinaus, indem er aus einem „polemischen Reizbegriff“ (S. 123) einen „starken“ soll heißen politikwissenschaftlich gehaltvollen formt. Während in der Demokratie die Idee des Bürgers als autonomes und identitäres Subjekt als Bezugspunkt diene, stellten in der Postdemokratie scheinbar objektive sytemische Imperative den normativen Bezugspunkt der Politik dar. Dies werde möglich und auch nötig, da im Zuge der dritten Phase der Moderne „das der modernistischen Idee nach autonome Subjekt nahezu restlos vom Markt durchdrungen und vereinnahmt worden“ sei (S.130) und zugleich „das der modernistischen Idee nach identitäre Subjekt im Zuge der fortlaufenden Modernisierung abgelöst worden vom Ideal des vielschichtigen und flexiblen, also eben gerade nicht identischen Subjekt“ sei (S. 132). Auf diese Weise gebe es von Seiten der Bürger letztlich gar nichts Greifbares und Stabiles mehr, was im traditionellen Sinne des Wortes authentisch repräsentiert werden könne (S. 135). Prägend für die postdemokratische Wende im Zuge des Übergangs zur dritten Moderne sei eine neue (zweite) Phase der Emanzipation, in der politische Verantwortung zunehmend an Institutionen und professionelle Dienstleister delegiert werde (S.144). Habe man sich erst von der selbst verschuldeten Unmündigkeit (Kant) emanzipiert, emanzipiere man sich nun von der selbst erstrittenen Mündigkeit (S. 144). Zugleich könne ein dezidiert postdemokratisches Paradox konstatiert werden. Dabei handelt es sich um die „Gleichzeitigkeit von sinkendem Vertauen in demokratische Verfahren und Institutionen einerseits und steigende demokratische Ansprüche andererseits“ (S. 160).
Die Antwort auf paradoxe postdemokratische Erwartungshaltungen und die Aushöhlung der (ehemaligen) Grundlagen der Demokratie liefert Kapitel vier, welches die „New Politics 2.0“ und damit die postdemokratische Performanz eben als simulative Demokratie beleuchtet. Klar unterschieden wird dabei der Begriff der simulativen von der (nur) symbolischen Politk. Während letzterer nachgesagt werde, sie zerstöre die Demokratie oder beschleunige ihren Niedergang, reproduziere die simulative Demokratie den Glauben an die Demokratie und stabilisiere genau dadurch die angeschlagene gesellschaftliche Ordnung (S. 184). Dabei herrsche ein stilles Einvernehmen zwischen denjenigen, die Täuschungsmanöver unternähmen, und denen, die davon betroffen seien, so dass die simulativen Diskurse von oben und unten zusammenspielten (S.183). In diesem Zusammenhang erführen die drei wesentlichen Elemente demokratischer Herrschaft, Partizipation, Repräsentation und Legitimation simulative Brechungen: „Postdemokratische Partizipation bedeutet wesentlich Inklusion in die Exklusionspolitik, kooptierte Teilhabe an der Marginalsierungspolitik, Demokratisierung der Politik der zunehmenden Ungleichheit“ (S. 203). „Postdemokratische Repräsentation zielt vor allem auf (…) die Simulation, dass es identische Subjekte im modernistischen Sinne gebe, deren konsistente Werte und Interessen, deren autonomer individueller Wille von den Repräsentanten als Delegierten bottom-up authentisch repräsentiert würde; dass es ein Gemeinschaftsinteresse, eine volonté général, eine kollektive Vernunft gebe, die von den Repräsentanten als Treuhändern repräsentiert würde; und dass es politische Institutionen gebe, die diskursiv, partizipatorisch und inklusiv herausarbeiteten, was zu repräsentieren ist“ (S. 215). Bei der Legitimation träten zu den dominanten, abstrakten, objektivierten Formen Verfahren der performativen oder simulativen Legitimation (S. 226).
Das mit „Demokratie und Ökologie“ überschriebene letzte Kapitel befasst sich mit der Performanz postdemokratischer, simulativer Demokratie in Bezug auf das Megathema Nachhaltigkeit. Für diese Betrachtung führt der Autor den ausdrücklich normativen Begriff der „reaktionären Demokratie“ ein. Die Demokratie wandele sich leise vom egalitär-redistributiven Instrument der Ausgeschlossenen zu einem Instrument der (noch) eingeschlossenen zur Verteidigung ihres etablierten Status (S. 257). Hierbei dienten die Strategien der Simulation zur (vordergründigen) Befriedung sowohl des individuellen zerrissenen Bewusstseins als auch der sich verschärfenden sozialen Konflikte (S. 254). Eine Politik der Nicht-Nachhaltigkeit werde auf diese Weise demokratisiert (S.268). Damit zeige sich, dass die Zukunftsfähigkeit der Demokratie durch die Nachhaltigkeitskrise mitnichten bedroht sei (S. 269).
Diskussion
Dieser in Teilen sehr dicht formulierte Beitrag zur Diskussion um die Verfassung und Zukunft der Demokratie in sogenannten etablierten oder auch saturierten Demokratien bereichert den Diskurs zweifellos. Nicht nur beweist der Autor eine profunde Kenntnis sowohl der Klassiker als auch der zeitgenössischen Autoren; er versteht es auch, sein nicht revolutionär neues aber durchaus innovatives Begriffskonzept schlüssig darzulegen und an den Diskussionsstand nicht nur anzuschließen, sondern diesen auch voran zu bringen.
Obschon der Leser immer wieder darauf hingewiesen wird, es handele sich um einen deskriptiv-analytischen Zugang dessen sich bedient werde, ist doch in fast allen Teilen und nicht erst im fünften Kapitel des Buches stets ersichtlich, wie das Herz in der Brust des Autors schlägt. Die normativen Komponenten, die einer politikwissenschaftlichen Arbeit notwendig anhaften, treten ebenso wie manche Werthaltungen des Autors mitunter deutlich zu Tage. Dies tut der wissenschaftlichen Begriffsarbeit jedoch weniger Abbruch als der Autor zu befürchten scheint. Angreifbarer wird er eher durch die manchmal durch wenig Belege abgesicherte Formulierung von scheinbaren Tatsachen. Das gilt für die Befunde bezüglich der veränderten individuellen Subjektstrukturen in der für die Begriffsentwicklung so wichtigen dritten Moderne als auch für Aussagen über die Entwicklung von sozialen Unterschieden in den betroffenen Gesellschaften (S. 115). Doch diese mangelnden empirischen Belege erscheinen insofern zweitrangig, als dass im Mittelpunkt der Arbeit die gelungene Entwicklung eines politikwissenschaftlichen Begriffs steht.
Fazit
Abgesehen von einigen den Lesefortschritt beeinträchtigenden Wiederholungen und einigen den Lesefluss behindernden „schwer verdaulichen“ Passagen handelt es sich um einen bereichernden, analytisch gelungenen und vor allem zum Weiterdenken und -handeln herausfordernden Beitrag zur Diskussion um die „Demokratie nach der postdemokratischen Wende.“
Rezension von
Dr. Harald Schmidt
M.A.
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