Wolfgang Schröer, Barbara Stauber et al. (Hrsg.): Handbuch Übergänge
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 06.12.2013

Wolfgang Schröer, Barbara Stauber, Andreas Walther, Lothar Böhnisch, Karl Lenz (Hrsg.): Handbuch Übergänge. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2013. 1100 Seiten. ISBN 978-3-7799-3120-1. D: 98,00 EUR, A: 100,80 EUR, CH: 129,00 sFr.
Thema
Soziale Zustandswechsel in Lebenslauf und Biografie werden in den Sozialwissenschaften als Übergänge bezeichnet die zwischen Selbstkonzepten und externen Rollenzuschreibungen verortet sind. In ihnen werden soziale Integration und individuelle Lebensbewältigung als intensive Schnitt- und Kontenpunkte sichtbar, die meist mit einer Veränderung im Status verbunden sind. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat in diesem Bereich in den letzten zwanzig Jahren vielfältige Ergebnisse erbracht, was zu einer gewissen Unübersichtlichkeit des Forschungsfeldes geführt hat. Das Handbuch Übergänge erfasst diese Situation aus transdisziplinärer Perspektive und versucht eine Bestandsaufnahme, die dem Leser einen Überblick verschafft. Das umfassende Werk beschränkt sich dabei nicht auf die Analyse sozialer Phänomene sondern schlägt auch eine Brücke zur Praxis des Bildungs- und Sozialsystems, wobei unterschiedliche biografische Abschnitte, Übergangsthematiken und -institutionen aufgegriffen werden.
Herausgeber und Herausgeberin, Autorinnen und Autoren
Die Herausgeber lehren Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim (Wolfang Schröer), dem Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen (Barbara Stauber), Erziehungswissenschaft, Sozialpädagogik und Jugendhilfe an der Universität Frankfurt a. M. (Andreas Walther), sowie Mikrosoziologie am Institut für Soziologie der TU Dresden. Lothar Böhnisch lehrte bis zu seiner Emeritierung 2009 Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der TU Dresden und seitdem Soziologie an der Freien Universität Bozen. Für die über 50 Einzelbeiträge des Handbuchs zeichnen Lehrende deutscher Universitäten und Hochschulen verantwortlich.
Aufbau
Der Band ist in sieben thematische Abschnitte untergliedert, die von den Grundlagen der Übergangsforschung zu spezifischen Übergangsabschnitten im Lebenslauf (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter), deren Bewältigungsformen und -schwierigkeiten zu beteiligten Institutionen und pädagogischen Handlungsansätzen führen. Im letzten Abschnitt wird auf die Methodologie und Methoden der Übergangsforschung eingegangen.
Zu: Grundlagen
Der Einführungsabschnitt beinhaltet neun Beiträge, die von einer Einführung in die Thematik zur biografischen Perspektive, veränderten Anforderungen in der modernen Gesellschaft (Stichwort: Entgrenzung), individuellem Habitus, zur Agencyperspektive (Handlungsfähigkeit und -befähigung), Gender- und Diversityaspekten bis hin zu Aspekten der räumlichen Mobilität und den besonderen Bedingungen der Übergangsbewältigung bei Behinderung reichen. Die Einzelbeiträge greifen jeweils zentrale Befunde und Ansätze der Theoriebildung in der Übergangsforschung, bezogen auf den jeweiligen Teilaspekt auf und fassen vor allem die neueren Erkenntnisse überblicksartig zusammen, wobei zentrale Begriffe und Konzepte wie Lebenslauf, Transition, Biografie, Statuspassagen etc. erläutert und mit Verweis auf die Referenzliteratur belegt werden. Breiten Raum nehmen in diesem Abschnitt Überlegungen zur Entstrukturierung, De-Institutionalisierung und Entstandardisierung von Lebensläufen vor dem Hintergrund einer sich wandelnden und (modern) gewandelten Gesellschaft mit entsprechend dynamisierten Anforderungen ein. Dieser Aspekt wird breit in einem Beitrag des Mitherausgebers Schröer aufgefächert und diskutiert und stellt einen wichtigen Bezugspunkt für die anderen Beiträge in diesem Abschnitt dar. Schröer geht auf die Ideengeschichte zum Entgrenzungskonzept ein, zeichnet die wesentlichen Diskussionsstränge nach und erläutert auch neuere Ansätze, in denen z. B. die Entgrenzung der Lebensalter, also die Verschiebung eines altersbezogenen Referenzrahmens in der Biografie in frühere oder spätere Lebensabschnitte gemeint ist, aufgegriffen und in z. B. sozialpolitische Zusammenhänge gestellt werden.
Zu: Übergänge in der Entgrenzung des Lebenslaufs
Der folgende Abschnitt greift in elf Beiträgen die Überlegungen zur Entgrenzung von Lebensläufen aus dem Einführungskapitel anhand spezifischer Übergangssituationen bzw. Statuspassagen auf: Übergänge von der Familie in eine Kindertageseinrichtung, Ambivalenzen in den Übergängen von Mädchen, die Besonderheiten bei Übergangsphänomenen im Jugendalter und im Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter, der Übergang zur Elternschaft, Trennungssituationen, Altern als Übergangsprozess und Aspekte des lebenslangen Lernens; diese Schwerpunkte werden im zweiten Abschnitt gesetzt. Auch hier geben die Texte einen Überblick zum jeweiligen Einzelaspekt, werden die zentralen Begriffe erläutert und z. T. die Ideengeschichte in ihrem Entwicklungsverlauf dargestellt. Die Einzelbeiträge folgen hier dem Konzept des Handbuchs, den Zugang zu einzelnen Übergangsphänomenen und -abschnitten aus transdisziplinärer Perspektive zu beleuchten. So werden bspw. die Ausführungen zu Übergängen im Alter aus dem Blickwinkel der sozialen Gerontologie formuliert.
Zu: Bewältigung und Handeln im Übergang
Übergänge sind durch die Dualität von Struktur und Handeln gekennzeichnet und werden durch die Akteure aktiv hergestellt. Der dritte Abschnitt fokussiert auf Grundlage dieses Ansatzes auf individuelle und kollektive Handlungs- und Bewältigungsformen, wobei Schwerpunkte auf jugendtypische Muster (z. B. Gewalt und Devianz, Übergangsrituale), Rollenphänomene („Männlichkeit als Bewältigungsmuster in biografischen Übergängen“), oder Aspekte der Trauerarbeit gesetzt werden.
Zu: Institutionen und Übergänge
Unterschiedliche Lebensalter und die dazugehörigen Übergänge sind institutionell gerahmt, bzw. werden biografische Verläufe durch institutionelle Impulse und Ablaufprozesse initiiert und in ein prozesshaftes auch vorgegebenes Ablaufprogramm gefasst. Übergänge werden in diesem Abschnitt in ihrer Funktion als äußere und standardisierte Anforderungs- und Gestaltungsstruktur konzipiert. Die elf Beiträge im Institutionenabschnitt gehen auf Kindergarten und Grundschule, Übergänge in der Kinder- und Jugendhilfe, Schulische Übergänge und Schülerbiografien, Zivil- und Freiwilligendienst, Probleme bei der beruflichen Orientierung und Hochschulausbildung, Übergänge in die/in der Arbeitswelt, die besondere Situation junger Haftentlassener, Rehabilitation
als Übergang und den Austritt aus dem Erwerbsleben ein. Die Beiträge fokussieren neben den forschungsbezogenen Befunden, die auch hier z. T. in ihrer forschungshistorischen Dimension aufgefächert werden, stark auf die besonderen Bedingungen und Dynamiken innerhalb der betroffenen Institutionen, welche in den je spezifischen Übergangsphänomenen (Kindergarten-Schule; Haftsituation-Freiheit etc.) wirken und darauf, welche Anforderungen an den Schnittstellen für professionelle Akteure, als auch die davon betroffenen Menschen bestehen. Der Abschnitt besticht durch die Darstellung von Handlungs- und Praxisempfehlungen, z. B. indem Modellprojekte zum Übergangsmanagement und zur Kooperation unterschiedlicher Institutionsformen vorgestellt werden. Teilweise benennen die AutorInnen (z. B. Peter Cloos et al., S. 561f; Maren Zeller & Stefan Köngeter S.583f) weiterführende praxis- und forschungsbezogene Herausforderungen und Aufgabenstellungen an die Gestaltung von Übergängen.
Zu: (Sozial)-pädagogische Begleitung und Unterstützung von Übergängen
Für sozialpädagogische Arbeitsfelder besteht der Zugang zu Übergangsphänomenen meist durch Zuschreibung von Problemen. In der Vergangenheit entwickelten sich vielfältige Bearbeitungsformen, in denen Einzelne oder Gruppen auf Übergänge vorbereitet werden, oder bei der Bewältigung von Anforderungen unterstützt, beraten und begleitet werden. Die Angebote richten sich auch an diejenigen, die nach gescheiterter Übergangsphase und -bewältigung beratend-pädagogische Kompensationsangebote benötigen. Die fünf Beiträge dieses Abschnitts beschäftigen sich mit der Beschreibung und Analyse bestehender Handlungsansätze und formulieren teilweise auch neue Möglichkeiten professioneller Begleitung und Unterstützung. Erfasst werden dabei die Bereiche des Übergangsmanagements beim Wechsel von Schulausbildung in die Arbeitswelt, die Biografiearbeit als rekonstruktiv-ressourcengenerierender Ansatz mit unterschiedlichen Zielgruppen, Übergangsberatung in unterschiedlichen Lebensphasen und -bereichen, die unter dem Begriff der Krise zusammengefassten Veränderungen durch Unfälle und Katastrophen und damit verbundenen Hilfeformen, sowie Übergangsphänomene im Zusammenhang mit Migrationserfahrung.
Zu: Politische und strukturelle Rahmenbedingungen
Der sechste Abschnitt greift die in individuellen Übergangsprozessen wirksamen Kräfte gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auf. Die Bedingungen des Bildungssystems und des Wohlfahrtsstaates unterliegen einem raschen Wandel, in weiten Bereichen staatlicher Hilfen und Maßnahmen findet sich ein stetiger Reformprozess wieder, der sich direkt auf die betroffenen Akteure auswirkt. Die in diesem Abschnitt versammelten fünf Beiträge thematisieren solche Veränderungsprozesse in den Bereichen staatlicher Führsorge und im Bildungssystem (Stichworte: PISA, Bologna-Prozess), Perspektiven einer integrierten Übergangspolitik, Aspekte von Ethnizität und Benachteiligung in Übergangssystemen und das für die Soziale Arbeit bedeutsame Feld des Arbeitsmarktes und der Arbeitsmarktpolitik. Die einzelnen Beiträge machen die zurückliegenden Veränderungsprozesse in den einzelnen Funktionsbereich sichtbar und geben Impulse für die Gestaltung der damit verbundenen Entwicklungsaufgaben.
Zu: Methodologie und Methoden der Übergangsforschung
Im abschließenden Abschnitt wird der Fokus auf methodologische Fragen und methodische Ansätze im Feld der Übergangsforschung gerichtet. Die Beiträge thematisieren biografieanalytische Ansätze, Aspekte einer ethnografischen Übergangsforschung, Bedeutung und Beitrag von Längsschnittstudien, verorten unterschiedliche Forschungsstrategien zwischen qualitativen und quantitativen Methoden in der Übergangsforschung unter Berücksichtigung mehrebenenanalyitischer Ansätze und ziehen abschließend einen internationalen Vergleich zur Übergangsforschung.
Zielgruppe
Der Band eignet sich für alle Situationen und Institutionen beruflicher Aus- und Weiterbildung in den Bereichen Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Darüber hinaus bildet er eine fundierte Grundlage für alle mit sozialwissenschaftlicher Forschung befassten Wissenschaftler und Praktiker. Für die Diskussion in Sozialen Diensten und Bildungsinstitutionen, aber auch für politische Entscheidungsträger gibt das Werk einen umfassenden Überblick und erleichtert die Orientierung in einem komplexen Themenfeld.
Diskussion
Der Band nähert sich der Thematik grundsätzlich und auf breiter Basis. Übergänge werden in ihrer sozialisatorischen Aufgabe als Knotenpunkte im Lebenslauf identifiziert, deren Gestaltung und Bewältigung von individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten abhängt. Übergangsanlässe werden meist auch von institutionellen Bedingungen gerahmt und oft auch veranlasst (Eintritt in eine Kita, Einschulung, Berufsausbildung etc.), deren normative Kraft wiederum auf den Einzelnen einwirken. Schließlich werden Übergänge im Lebenslauf durch gesellschaftliche und (sozial)politische Konzepte, Vorgaben und Erwartungen definiert, deren Transformation auf der individuellen Ebene gestaltet werden muss. Diese Aspekte greift das Handbuch Übergänge in einer psycho-sozialen Perspektive auf und eröffnet so den Blick auf das Zusammenwirken, die gegenseitigen Einflussnahmen und Abhängigkeiten der einzelnen Ebenen. Dadurch wird der in Alltags- und teilweise in der Fachsprache inflationär verwendete Begriff des Übergangs konkretisiert und genauer definiert. Auch wenn die Herausgeber keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung des Forschungsstandes stellen (S. 11) sondern lediglich eine „Momentaufnahme“ (ebd.) präsentieren wollen, besticht der umfangreiche Band durch seine thematische Breite, die Gründlichkeit in der Darstellung einzelner Übergangssituationen und den differenzierten Blick auf die Umstände, unter denen Übergänge entstehen, begangen und bewältigt werden, als auch die Rolle der beteiligten Institutionen, Hilfsangebote und institutionellen, gesellschaftlichen sowie gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Die Zusammenschau der aktuellen Forschungsbefunde in den einzelnen Sachkapiteln verschafft einen guten Überblick zum jeweiligen Gebiet wodurch eine umfassende Handlungsgrundlage für PraktikerInnen im Feld der Pädagogik und Sozialen Arbeit angeboten wird. Die transdisziplinäre, mehrdimensionale Perspektive des Bandes ergibt einen äußerst wichtigen und wertvollen Beitrag für die Praxis in den Berufsfeldern der Sozialen Arbeit und Bildungsarbeit. Ein Muss für alle Ausbildungsinstitutionen, da hier die Grundlagen der beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen am konkreten Anlass biografischer Transformationsprozesse erschlossen werden und Implikationen für die Praxis ableitbar werden. Eine Bereicherung für erprobte Praktiker, denen an einer forschungs- und theoriebasierten Gestaltung ihrer Interventionen gelegen ist.
Natürlich fehlen in dieser Publikation für die Soziale Arbeit wichtige Bereiche wie z. B. die Transitionsprozesse im Langzeitverlauf straffälliger Menschen, Ein- und Ausstiegsprozesse in Suchtverhalten, oder die Bewältigung und Verarbeitung schwerer körperlicher und psychischer Erkrankungen (bezogen auf die Betroffenen aber auch deren Familien). Andere Bereiche kommen in der Fülle der Beiträge zu kurz, wie z. B. Trauer- und Verarbeitungsprozesse beim Tod naher Angehöriger inkl. Sterbephase (Stichwort: Palliative-Care). All diese Themen könnten sinnvoll in einem Handbuch zur Übergangsforschung aufgenommen, oder breiter dargestellt werden. Könnten, müssen aber nicht, denn: die hier umfangreich zusammengestellten Forschungsergebnisse und Diskussionsstränge, sowie deren Implikationen für die Praxis der Erziehungs- und Sozialwissenschaften geben vielfältige exemplarische Hinweise und Impulse, die auf die hier auch nicht explizit benannten Arbeitsfelder und -anlässe übertragbar sind. Besonders wertvoll für die Praxis Sozialer Arbeit ist das Anliegen des Handbuchs eine „problematisierende Verengung [der Übergangsthematik] zu überwinden, welche Übergänge primär dort thematisieren, wo sie zu scheitern drohen“ und stark auf Defizite und Belastungsmerkmale fokussieren. Das Handbuch bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für eine ressourcenorientierte und auf Lösung gerichtete Praxis sozialer Hilfen in der gesamten Breite der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Arbeitsfelder. Letztlich markiert der mit 1118 Seiten sehr umfangreiche Band die Aktualität der Übergangsforschung, der es zunehmend gelingt ihre Befunde in professionelles Problem- und Interventionsverständnis einzuspeisen (vgl. auch die Rezensionen zu Walter & Weinhardt: Beratung im Übergang www.socialnet.de/rezensionen/14687.php und Gahleitner & Hahn: Übergänge gestalten – Lebenskrisen begleiten www.socialnet.de/rezensionen/12669.php).
Fazit
Ein unentbehrliches Handbuch, das sozialwissenschaftliche Analysen sozialer Phänomene im Überblick erschließt und wichtige Impulse für die Praxis des Bildungs- und Sozialsystems setzt. Erstaunlich ist die Bandbreite von Forschungsbefunden und Theorieansätzen die in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit von der Familienberatung, über Bildungseinrichtungen bis hin zur Straffälligenhilfe von Relevanz sind. Daneben ist das Werk für Ausbildungszwecke höchst geeignet, da Grundlagenbefunde verständlich formuliert vermittelt werden.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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