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Denis Hänzi: Die Ordnung des Theaters

Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 03.12.2013

Cover Denis Hänzi: Die Ordnung des Theaters ISBN 978-3-8376-2342-0

Denis Hänzi: Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie. transcript (Bielefeld) 2013. 490 Seiten. ISBN 978-3-8376-2342-0. 32,80 EUR.
Reihe: Theater Bd. 54.

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Autor

Denis Hänzi ist Soziologe. „Die Ordnung des Theaters“ ist seine Inauguraldissertation, angenommen von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern. Hänzi ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt.

Thema

Eine Warnung vorweg: „Die Ordnung des Theaters“ ist kein Buch über Theater und Regie, sondern ein Buch über die Berufsgruppe der Regisseure und über die Frage, wie man (manchmal auch frau) Regisseur wird bzw. berühmter Regisseur. Zwar gibt es zur Theatergeschichte en passant ein Fülle unterschiedlicher Informationen mit vielen Namen, Daten, Fakten; die eigentliche Fragestellung aber ist nicht: Was ist Regie?, sondern: Wer bekommt den Titel „Regisseur“ mit welcher Wertigkeit innerhalb welcher Hierarchie?

Aufbau und Inhalt

Nota bene: Hänzi schreibt witzig poppige Überschriften, die jedoch selten verraten, was darunter verhandelt wird. Ich fasse deshalb „Aufbau“ und „Inhalt“ der Arbeit zusammen.

Nach einem einleitenden „Präludium“ (11) erläutert Hänzi zunächst die „Anlage der Studie“. Im ersten Kapitel geht es um „Fragestellung und theoretische Einbettung“ (23 ff); knapp formuliert, heißt Hänzis Frage: Wie wird der Titel „Künstler“ vergeben, der Titel „Regisseur“? Antwort erfolgt „auf der Grundlage von 22 (berufs)biografischen Interviews, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit zeitgenössischen Theaterregisseuren und Theaterregisseurinnen geführt wurden“, dabei geht es „um eben deren Dispositionen, Positionierungen und Positionen. Hier wird anhand exemplarischer Fälle erörtert, ob und inwieweit je differente primärsozialisatorisch erworbene Kapitalien, Denk- und Handlungsroutinen sowie Lernorte und erste theatralische Produktionserfahrungen die unterschiedlichen Logiken zu erhellen vermögen, denen die künstlerischen Positionierungen zeitgenössischer Regisseurinnen und Regisseure folgen“ (25). Hänzi hat, mit wenigen Ausnahmen, die Interviews anonymisiert: „gewissermaßen“ eine „Entkoppelung der Sache, die in die Studie einfließen würde, von ihrer konkreten Person“ (59).

Kapitel 2, „Verfahren und Darstellung“ (49 ff), stützt sich auf Bourdieu und seinen Feld- und Habitusbegriff, dazu auf Oevermann. „Ähnlich wie Pierre Bourdieu, der den Habitus als Wahrnehmungs- und Handlungsgrundlage menschlicher Praxis auf der Ebene von ‚Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein’ (Bourdieu 1993: 105) verstanden haben will, begreift Oevermann unter habituellen Dispositionen ‚jene tiefliegenden, als Automatismus außerhalb der bewussten Kontrollierbarkeit operierenden und ablaufenden Handlungsprogrammierungen …, die wie eine Charakterformation das Verhalten und Handeln von Individuen kennzeichnen und bestimmen’, … ‚als je eigenlogische … Muster der Lebensführung und Erfahrungsverarbeitung’ (2001, 45)“ (61).

Dann geht es, eher historisch, um Theater und Theaterregie: zunächst im Kapitel 3 um die „Genese des ‚idealen Regisseurs’“ (69 ff) – kurz und kursorisch vom Theaterdirektor Goethe in Weimar über das Meininger Hoftheater zum „1913 in Berlin abgehaltenen ersten ‚Regiekongress’ mit rund 400 Teilnehmern“ (79); im vierten Kapitel ausführlich um „Siegeszug und Ambivalenzen des ‚Regietheaters’“ (87 ff). Während „Gründgens 1948 … vor dem Deutschen Bühnenverein“ noch forderte, dass „werkgetreu inszeniert werden soll; das heißt, ein Werk so interpretieren, wie es vom Dichter gemeint ist“ (90) und sich „die Konzeption eines ‚sich unpolitisch verstehenden Humanismus’ … noch bis in die späten 1960er Jahre“ hält, beginnt in „den 1960er Jahren“ mit der „Politisierung“ die „Stunde der Ungehorsamen“ (95), besonders vorangetrieben durch „Strukturwirksames Studententheater“ (96) [1], wobei „das zu Grunde liegende ästhetische Selbstverständnis auf ein Interpretations- oder Regietheater zielte (Kraus 2007: 83)“ (99).

Im Zusammenhang mit Theater und Regie behandelt Hänzi immer wieder auch Genderfragen. Schon auf den Seiten 42-47 gab es ein Unterkapitel „Das Theater mit dem Geschlecht“, es diskutiert pointiert „in sozialer Praxis produzierte und Gesellschaft strukturierende Männlichkeitsmodelle“ (44). Kapitel 5 handelt dann insgesamtÜber die ‚Frau’ am Theater“ (149 ff), ihre „Festschreibung als ewige Schauspielerin“ (150).

Kapitel 6,„Eine recht unfassbare Population“ (155 ff), versucht, über Zahlen und Fakten an die Berufsgruppe der RegisseurInnen heranzukommen, stößt sich an „Klassifikationsschwierigkeiten“ (155) und liefert „Trotzdem ein paar Zahlen – und grobe Trends“ (157): in der BRD gab es in der „Spielzeit 2007/2008 … 490 Regisseure, 191 Regisseurinnen“ (158).

Unter dem Titel „Spielfeld, Spielgeld & Co – Ein weites Feld mit (relativ) scharfen Grenzen“ (165 ff) bringt Kapitel 7 Informationen über das eigentliche Arbeitsfeld Theater: „an den rund 150 öffentlich getragenen Theatern arbeiten … gegen 40.000 Menschen“ (166), „hinzu kommen rund 280 Privattheater … und – nicht zuletzt – ‚eine kaum noch überschaubare Anzahl freier Theater’ (Heinrichs 2006, 197)“ (167). Hänzi will für dieses Arbeitsfeld „die seine Ordnung strukturierenden institutionellen Relationen dingfest machen“; er nennt „Konsekrationsinstanzen wie Akademien, Kunstjurys und Förderinstitutionen“ (165), bezieht die „Produktion der Produzenten“, also „die Ausbildungsstätten mit ihren verschiedenen Regie-Studiengängen“ ein (166) und diskutiert im Unterkapitel „Anhaltendes Gerangel - zur Ordnung der Spielstätten“ (171 ff) die „Problematik der Reputation“ (174). Diese Reputation ist für Regisseure nicht zuletzt mit den Ausbildungsstätten (191 ff) verbunden: „An mehreren Hochschulen und Kunstakademien werden in den 1990er Jahren neue Studiengänge in Theaterregie eingerichtet“ (193). Hänzi unterscheidet, formal wie inhaltlich, „Orthodoxe, ambivalente und häretische Schulen“ (195 ff), diagnostiziert „Trend- oder Avantgardebewusstsein“ (202) und verweist auf „Schulen, die Schule machen“ (204) wie das Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaften, zu deren AbsolventInnen u.a. die Gruppe Rimini Protokoll gehört, die wiederum als „Türöffner“ dient (204). Mag sein, dass „die nunmehr als ‚professionell’ begriffene Berufsausbildung das ‚Learning by Doing von einst’ gewissermaßen ersetze.“ Szabo (2001, 12) jedenfalls postuliert in seinem „Regie-Lehrbuch ‚… perdre son temps en tant qu´autodidacte n´est plus souhaitable’“ (213). Gibt es also ein „Aussterben der Autodidakten?“ (209). Hat die „‚Geniefiktion’ (Clausen 1969: 415)“ ausgespielt? (211).

Die konkreten „Arbeitsverhältnisse und Schaffensbedingungen“ (217 ff) werden in Kapitel 8, noch einmal aufgegriffen. Es geht um „Wacklige Stabilität an festen Häusern“ (220), um Arbeitsbedingungen und Gagen. An einem kleineren Haus „beläuft sich die Monatsgage eines fest angestellten Regisseurs … oftmals auf unter 3000 Euro brutto“ (221), am Burgtheater Wien gibt es „bis zu 50.000 Euro für eine Inszenierung im Falle von ‚Star-Regisseuren’ (Theater heute)“ (223). Wir erfahren von Vertragsverhandlungen „Feilschen – Aussitzen – Platzenlassen“ (224), von „Ambivalenzen der Intendanz“ (227) – und: „Dem Finanzamt ist die Regie keine Kunst“ (237), also sind Regisseure „nicht von der Umsatzsteuer befreit“ (239).

Deutlich anders sind die Verhältnisse bei den freien Theatern. Hänzi nennt sein Unterkapitel „Strukturierte Erneuerung. Die freie Szene“ (240) und zitiert zunächst Claus Ulrich Schüngel (1996, 87): „‚Freie Theaterarbeit’ ist eine Form unkonventioneller Beschäftigung, bei der das berufliche Kontinuitäts- und Sicherheitsrisiko auf die Schultern der Einzelnen abgewälzt wird“. Schüngel spreche, so Hänzi, „von einer Theaterbewegung, die gleichzeitig eine soziale Bewegung gewesen sei“ und zitiert: „Zu Beginn der 70er Jahre war bei den ‚Freien’ eine einheitliche Bewegung mit gemeinsamer, politisch motivierter, künstlerischer Zielsetzung auszumachen, die in jener Zeit des beginnenden ‚versozialwissenschaftlichen Denkens’ (Oevermann) insbesondere von der adoleszenten Generation geprägt wurde durch die Soziologie (Rollen- und Gruppenbegriff), die Pädagogik (Lernspiel, Animation) und die Psychologie (Psychodrama) (Schüngel 77)“ (240). Wichtig waren dieser Generation „Selbsterfahrung und Erprobung der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten (Schüngel 80)“ (241), ihre spezifische Arbeitsform ist das „Projekt, in welchem Pilz (2004: 25 ff) den eigentlich zentralsten Begriff des ‚freien’ Theaters erkennt“ (243). Abhängig ist sie von „Institutionen der Kulturförderung“ (243). „Ab Mitte der 1980er Jahre verstetigt sich die staatliche Förderung der Freien Szene“ (244). Trotzdem gilt für sie, so Hänzi, „Risiko statt Meisterschaft“ (248) und die Wichtigkeit von renommierten Kooperationspartnern: „Die Logik eines ‚Wer mit wem?’ nimmt so besehen gegenüber jener des ‚Was und Wie?’ überhand“ (248).

Kapitel 9 erläutert „Konsekrationsinstanzen“ (259 ff). Da gibt es die „Nobilitierung auf Lebenszeit“ – etwa durch den Iffland-Ring (seit ca. 1815) und die „Konsekration auf Kredit“ (261), z.B. durch das „Körber Studio Junge Regie“ (274). Manche Ehrungen sind „mit einem bestimmten Geldbetrag dotiert“ (263). Ausgezeichnet wurden zunächst nur Schauspieler und Autoren, 1969 erstmals ein Regisseur (Leopold Lindtberg), 1987 eine Regisseurin (Andrea Breth). Das Unterkapitel

„Kränkung, Kuscheln? Kampfansage!“ zitiert einen Regisseur: „Wer zum Beispiel anerkannter Regisseur wird oder nicht, das geht ja schon in, lustigerweise, in der Schule los“ (der Theaterschule!). „Studenten, die konform sind … die nicht gegen den, versuchen, gegen den Apparat zu arbeiten, sondern in den Apparat rein, dass die dann zu den ganzen Studententheatertreffen geschickt werden“ (281).

Kapitel 10 behandelt „Papierene Ruhmeshallen“ (309 ff), d.h. „Portraitbände und Biografien, Lexika und weitere Schriften mit Nachschlagewerkcharakter“ (309). Freilich regt sich schon früh auch Widerstand gegen die Vermarktung: „jung zu sein, sei ‚zu einem Markenzeichen verkommen, wie es in unserer Markenzeichenkultur üblich ist’ (Roeder/Ricklefs 1994)“ (323); oder: „dass ‚der Markt immer rascher immer neue Talente’ fordere, was gelegentlich bedeute, ‚entdeckt – verheizt – entsorgt’ zu werden“, (330) so Hänzi mit einem Zitat aus Haberlik (2010): Regiefrauen, Ein Männerberuf in Frauenhand. Also eine weitere „Zuspitzung des Neuheitsdesiderats“, die Luhmann schon 1997 diagnostizierte: der „Künstler selbst setzt sich unter den Druck, anders zu sein als andere, sabotiert also sozialen Konsens und muss sich dann Mühe geben, ihn trotzdem wiederzugewinnen (1997: 84)“ (146).

Um „Dispositionen und Passungsverhältnisse“(335) mit einer „akteurszentrierten Perspektive“ geht es in den abschließenden beiden Kapiteln. Kapitel 11,„Startausstattungen und Lernorte“ (337 ff), stellt mit der Auswertung der Interviews die Kernfrage der Dissertation: „Welche habituellen Grunddispositionen also lassen sich unterscheiden?“ (337). Dabei gilt zunächst auch für Theaterleute „die Weigerung seitens von Kulturschaffenden, Kunst als ‚Beruf im neuzeitlichen Sinn einer kalkulierbaren, durch die Ausrichtung von Werten auf Zwecke rational dosierbaren Erwerbstätigkeit aufzufassen und zu vollziehen’ (Thurn 1997, 105)“, verbunden vielfach „mit einer Tendenz zur ‚Selbstausbeutung’“ (340). Deshalb, so Pidoux et al. (2004, 32): „… il faut des convictions et meme la foi. Il semble bien que l´on ne puisse, sans elles et sans un certain consentement à l´exploitation et à l´autoexploitation, supporter ces métiers aux rémunérations chaotiques, irrégulières et principalement non monétaires“ (340). Es braucht aber auch die Verbindung mit Gleichgesinnten. Dazu Hänzi: „Spielten vor allem in den 1960er Jahren die universitären Studentenbühnen Westdeutschlands eine zentrale, langfristig tragende künstlerische Verbindungen ermöglichende Rolle, so scheinen seit spätestens Mitte der 1990er Jahre insbesondere die Regieausbildungsstätten des orthodoxen und des eine Mittellage einnehmenden Typs dafür zu sorgen, dass da zusammenkomme, wer zusammengehört, auf dass an entsprechende Positionen ins Feld entsandt (beziehungsweise geholt) werde, wem eine entsprechende Position gebührt“ (377).

Als Ergänzung noch einige kennzeichnende Interviewäußerungen von RegisseurInnen:

  • „Ich hab das so nie erlebt, dass die mir in die Kunst reinpfuschen … ich werde ja für ´ne ganz bestimmte künstlerische Handschrift oder künstlerische Haltung engagiert“ (232). -
  • Ein Regisseur, aufgewachsen „in einem agrarisch geprägten Vorort einer kleineren Stadt“ und „auf dem großelterlichen Bauernhof“: „Ich stellte bei mir fest, dass ich den Bauernhof gehasst habe … ich hatte nur den Drang, weg von dort, weg weg weg, das war das Einzige, was ich wusste, wohin nicht, ich wusste einfach, das wird nicht mein Leben sein“ (344). -
  • Am Stadttheater „halt alles einfach Bedingungen“, die „total bekloppt“ sind (368). -
  • „Ich möchte mir ein Spielzeug bauen und möchte das dann angucken“ (381). -
  • „Wir waren, als wir (unsere Gruppe) gegründet haben, waren wir vorher alle an festen Häusern und hatten alle das Gefühl, dass wir uns zu 80 Prozent prostituiert haben und, äh, Theatersprachen auf der Bühne vertreten hatten, die uns eigentlich völlig gegen den Strich gingen. Und da war so die Sehnsucht, lass uns, äh, lass uns zusammenkommen, lass uns eine, eine Family gründen und eine gemeinsame Sprache finden“ (382). -
  • „Man macht so eine Welt, die fast eine Kinder-, fast ein Sandhaufen, fast ein Sandkasten, wo man, wo man spielt, … und mit der Zeit gibt das aber eins, nämlich ein Denken, und, und eine A-, eine Konzentration“ (385). -
  • Eine Regisseurin: „… ich dachte immer, ich wollte, äh, mir war so wichtig, ein Wissen zu haben, also weil ich dachte, … irgendwann sitzt irgendwie … der dicke, fette Regisseur vor mir und sagt ‚M-Schatz, wir können gern heut Abend essen gehen, und dann können wir mal überlegen, ob du die Inszenierung machst.’ Also ich hab gedacht, … ich brauch so ´ne Stärke, die vielleicht aus ´ner Ausbildung heraus kommt“ (390). -
  • Dazu die Eltern, „die sich an der Maxime der Erwerbssicherheit“ orientieren: sie haben etwas gegen die „brotlosen Künste“ (360), sie möchten, dass ihr Kind „etwas ‚Richtiges’ studiert und einen ‚seriösen’ Beruf“ ergreift (362). -

Kapitel 12 bringt unter dem Titel „Positionierungen und Positionen“ individuelle Voraussetzungen und Wünsche mit strukturellen Möglichkeiten zusammen. Es dürfte, so Hänzi in einem Zwischenresümee, „deutlich geworden sein, zu welchem Grade und in welch differenter Weise primärsozialisatorisch (nicht) erworbene kunstbezogene und bildungsmäßige, kulturelle und symbolische Kapitalien sowie verinnerlichte Denkmuster nicht nur die ersten Schritte im Bewährungsuniversum des Theaters zu strukturieren, sondern insgesamt den für den betreffenden Regisseur, die betreffende Regisseurin bestehenden ‚Raum des Möglichen’ in seinen (im Einzelfall eine je mehr oder minder klare Orientierung erlaubenden) Grundkoordinaten zu bestimmen vermögen“ (393). Dazu hat Hänzi „vier Quadranten gebildet, nach denen sich die Passungsverhältnisse zwischen individuell-regisseurialen Schaffensweisen (künstlerischen Positionierungen) und strukturell-feldspezifischen, mehr oder weniger institutionalisierten Schaffensorten (mehr oder minder definitionsmächtigen Positionen) im Wesentlichen unterteilen lassen“ (394).

  • Zunächst die „Konsensual-orthodoxe Passung“ (394); dazu eine typische Interview-Äußerung: „Ich mach das erst mal richtig akademisch, so wie ich das an der Uni gelernt habe, ich les unheimlich viel erst mal dazu, also rund um das Stück, alles, was interessant sein könnte“ (396).
  • Die „Konfliktiv-orthodoxe Passung“ (399) – ein solcher Regisseur „gründet …recht bald nach seinem mit großer Selbstverständlichkeit absolvierten Abitur eine eigene Theatergruppe“ (400); wird er für ein spezielles Stück engagiert, sagt der Theaterleiter zu ihm: „Wir wollen das natürlich sehen, wie du das machst“ (402).
  • Die „Konsensual-häretische Passung“ (403): Ein solcher Regisseur tendiert „gerade aufgrund seiner herkunftsbedingten ‚Feldfremdheit’ dazu, die im Produktionsuniversum des Theaters strukturell vorhandenen … Potentialitäten aufzugreifen und also der Theaterkunst selbst bis dato ‚unvertraute Möglichkeiten’ … hinzuzufügen“. Im Interview sagt er: „Ich bin gar nicht ein, ich bin eigentlich gar nicht ein, so ein Fachmann“ (404).
  • Schließlich die „Konfliktiv-häretische Passung“ (406); ein Regisseur im Interview: „Ich hab … nicht so ´n devotisches Verhältnis zum Text wie viele andere … Ich hab da überhaupt kein´ Respekt, null. Der Text ist nur so viel wert, wie er mir sagt. … Was mir nix sagt, ist kein Text und gehört nicht in meine Inszenierung“ (408).

In der „Schlussbetrachtung“ (411) kommt Hänzi noch einmal auf Max Weber zurück. Für den war die „Frage der Auslese der führenden Berufe innerhalb der modernen Gesellschaft“ (1911, 60) ein zentrales Arbeitsgebiet der Soziologie. Dabei, so Hänzi, gehe es „um die Formulierung einer soziologischen Perspektive auf eben solche Berufe und insbesondere deren Träger. Wieso ‚die überall wirksame Auslese gerade sie … in diese Stellungen gebracht’, sei zu untersuchen – und also danach zu fragen, welche ‚berufliche, soziale, materielle usw. Provenienz’ konkret es ist, die ‚die günstigsten Chancen am meisten in sich enthält, gerade in diese Berufe und Positionen zu gelangen’“ (411). Einiges, so fasst Hänzi zusammen, kann der „Habitus als zentrale Strukturkategorie“ erklären; zudem hat es sich „als im Sinne der Kontrastbildung als hilfreich erwiesen, auf das Konzept des Charismas als einer Analysekategorie zurückgreifen zu können“ – arbeiten doch „die mit der bedeutendsten Platzierungsmacht und den schlagendsten Waffen der Nobilitierung ausgestatteten Akteure und zentralistischen Konsekrationsinstanzen im Theaterfeld unentwegt … daran, die illusio des genialen, der Tendenz nach immer noch selbstverständlich männlichen Regisseurs aufrechtzuerhalten“ (415).

Passend dazu scheint sich die „Ordnung des Theaters … zusehends in Richtung einer ‚Erfolgskultur’ (Neckel 2001, 257) zu verändern, in deren Rahmen die Bewährung in der Sache – das eigentliche Kunstschaffen – immer weniger zu bedeuten hat, während aufmerksamkeitsökonomische Aspekte eine immer zentralere Rolle spielen“ (416). Allerdings hat sich bei den „Fallanalysen … immer wieder gezeigt, dass insbesondere die in nicht ganz so kunstnahe, nicht ganz so akademisch-bildungsbürgerlich geprägte Herkunftsmilieus hineingeborenen Individuen in aller Regel massivste Anstrengungen unternommen haben und sich auch durch wiederholte Rückschläge nicht haben entmutigen lassen, wenn es darum ging, sich über eine staatliche Regieschule Zugang zum theatralischen Produktionsuniversum zu verschaffen“ (417) – Zugang also über Ausbildung und Anstrengung und nicht einfach über eine Kombination von Herkunft, Habitus und Charisma innerhalb eines Glaubensuniversums, das eben NICHT mit rational begründeten oder zumindest plausiblen Maßstäben arbeiten kann.

Also doch (so fragt der Rezensent kritisch), doch Kant? „Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann“ (Kritik der Urteilskraft, §1: Analytik der ästhetischen Urteilskraft).

Hänzi jedenfalls sieht Hinweise darauf, „dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ im Theater „auf neu auftretende, in glaubwürdiger Weise über personales Charisma verfügende und dieses unter Beweis stellende Regisseurinnen und Regisseure nicht mehr einfach nur gewartet, sondern vielmehr – aktiv – mittels entsprechender ‚Techniken der Bezeichnung’ an deren Erscheinung (durchaus im doppelten Sinne des Begriffs) fabriziert wird. Dass dieser recht kalte, sich in die Domäne des Theaters einfräsende Mechanismus bei alledem zuvörderst dazu beizutragen scheint, … die althergebrachten Strukturen und Geltungshierarchien im Theaterfeld abzusichern, scheint mir ein Grund mehr, ihn zu stoppen und stattdessen auf … jene ungleich genuiner charismatischen Projektemachereien vertrauensvoll zu schauen, wie sie im (Sub-)Feld der Freien Szene - manchmal offenkundiger, vielfach unbemerkt – immer wieder gewagt werden. Dort jedenfalls ist man sich allemal nicht zu schade, sich der gesellschaftlichen Realitäten der Gegenwart als dem wirklich zentralen ‚Bezugsproblem’ (Nassehin) anzunehmen“ – so Hänzis Schluss-Sätze (419).

Diskussion

Während für „Bourdieu eine Besonderheit künstlerischer Felder in der ‚hohen Durchlässigkeit ihrer Grenzen und der extremen Diversität in der Definition der von ihnen gebotenen Posten’ (Bourdieu 1999, 358)“ (342) besteht, geht es Hänzi um die „Passung“ (339) zwischen Individuum und Struktur, wie also „bestimmte primärsozialisatorische Konstellationen“ (341) bzw. „Ausgangslagen“ (342) zu Positionen führen. Dabei nutzt er Charisma „als Analysekategorie“ (34) und meint mit Gebhardt, dass „Weber selbst Begriff und Theorie des Charisma nicht auf eine Theorie des charismatischen Führertums beschränkt wissen wollte, sondern in ihm ein grundlegendes, alles menschliche Handeln durchziehendes soziales Grundmuster gesehen hat, das im dauernden Wechselspiel mit dem ihm entgegengesetzten Moment des Alltags das soziale Fundament menschlicher Lebensführung, gesellschaftlicher Ordnung und sozio-kulturellen Wandels bildet“ (Winfried Gebhardt (Hg.): Charisma, 1993, 4). Ähnlich versteht „Ulrich Oevermann (1999) … das Moment der ‚Charismatisierung’ als eine ‚pragmatische Ablauffigur im Prozess der Erzeugung des Neuen’ (294)“ (38).

Auch Theater fasst Hänzi „als einen spezifischen, immer zu einem gewissen Grad außeralltäglichen … ‚Ort für Kritik und das Ausleben von Utopien’ (Gebhardt) …, dessen Geltungsanspruch als solcher sich kraft institutionalisierten Charismas reproduziert“ (36). Sorglich wird diese Exklusivität von Kunst und Theater abgesichert; so ist „die strenge Limitierung des Studienplatzangebots an künstlerischen Schulen im Grunde genommen als ein für die Reproduktion der illusio des Felds konstitutives Moment der Produktion von ‚exklusiven Produzenten’ (Bourdieu 1999: 363) zu begreifen“ (212) [2]. Das Gegenstück auf der Angebotsseite: „Damit die Erfolgslotterie auf dem Kulturmarkt glaubwürdig bleibt … muss die Faszination für eine unendliche Differenzierung der kulturell konsumierbaren Inhalte und Talente verstärkt und möglichst ausgeweitet werden“, so Pierre-Michel Menger (Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers, 2006) (zitiert auf S. 259).

Nun lässt sich Theater mit unterschiedlichen Zielvorstellungen verbinden. Brecht z. B., so zitiert auch Hänzi, „ist der Überzeugung, dass, wenn ein Regisseur ‚eine Geschichte vor das Publikum bringt’ das Wichtigste an dieser ihr ‚Sinn, das heißt ihre gesellschaftliche Pointe’ sei“ (125). Uri Rapp dagegen meint in „Handeln und Zuschauen“ (1973, 17), Kunst müsse „,auf Können zurückgeführt’ werden – was es einer Soziologie des Theaters dann erst erlaube, sämtliche ‚theaterartigen Erscheinungen … zu behandeln’“ (Hänzi 130 f). Freilich wäre dann wieder fraglich, wie dieses „Können“ bestimmt werden kann oder wer es bestimmt.

In diesem Dilemma weist Hänzi noch einmal dezidiert darauf hin, dass Theater wie Theaterkritik „als eine Glaubensangelegenheit zu begreifen ist“ (284). Er greift damit Gedanken auf, die er schon im Einleitungskapitel (vergl. etwa S. 33) und in Unterkapiteln („Zur multiplen Relationalität der Theaterregie“, 108 ff; „Ebenen der (Un-)Gläubigkeit“, 111 ff) behandelt hatte. „Wie im Einleitungskapitel dargelegt, gehe ich mit Bourdieu (1999) davon aus, dass es sich bei dem relativ autonomen Theaterfeld – wie bei jedem anderen Feld der Kultur(re)produktion – um ein ‚Glaubensuniversum’ (ebd. 362) handelt, in dem konkurrierende (mehr oder weniger dogmatische) Definitionen nicht allein dessen kursieren, was Theater als Institution, Kunst- und Praxisform zu sein hat. Gleichermaßen umstritten ist, wer (und weshalb wer) als legitimer Repräsentant … eines dann eben so und nicht anders zu verstehenden Theaters zu gelten hat. Erst dieses Universum erzeugt, indem es an den Regisseur - und an den symbolischen Wert des von ihm erarbeiteten ‚Werks’ - glaubt, diesen als Künstler“ (109). Daher die „Definitionshoheit“, die „Konsekrationsmacht“ der Kritiker und Fachzeitschriften; Hänzi spricht sogar von einer „konzentrierten Konsekrationsmacht, welche die Zeitschrift Theater heute“ (288) mit ihren Journalisten hat. Zumal es „im Falle der Theaterkunst letztlich immer im Dunkeln“ bleibt, „inwieweit die Gestalt eines theatralischen Werks, die Qualität einer Aufführung tatsächlich und primär der Arbeit des Regisseurs zuzuschreiben oder aber nicht vielmehr dem Ensemble … zu verdanken ist“ (260) – oder vielleicht auch dem Text?

Und was ist mit dem Publikum und seinem Beitrag? „Das Theater- oder Konzertpublikum ist ein Produkt der Werke, deren Aufführung es, Beifall oder Ablehnung bezeugend, beiwohnt. … Indem aber das Publikum dermaßen das Erzeugnis des Künstlers ist, ist das Werk zugleich auch die Schöpfung des Publikums“. So hatte Arnold Hauser in seiner „Soziologie der Kunst“ (1974, 523) geschrieben; Hänzi zitiert ihn auf S. 33 in einer Fußnote. Ähnlich ist für Alphons Silbermann „das Theatererlebnis“, also die Interaktion Künstler-Inszenierung-Rezipienten, „als sozialer Tatbestand Ausgangspunkt und Mittelpunkt einer Soziologie des Theaters“ (in: Martin Hürlimann (Hg.): Das Atlantisbuch des Theaters, 1966, 390; weitere Silbermann-Zitate bei Hänzi 132 f).

Nun wird freilich das Publikum sehr schnell – gebildet – gegängelt – entmündigt – erzogen – zur Selbstbestimmung aufgerufen…; es brauche z.B. „zugespitzt formuliert“ für eine „‚adäquate’ Rezeption … das nötige Spezialwissen … eine hinreichende Kenntnis des Regietheater-Kanons“ (119); oder, negativ gewendet, habe, so Hänzi, schon Adorno (Ästhetische Theorie, 1970) Bestrebungen diagnostiziert, die „Kunst- und Kulturkonsumenten um die Last der ‚Bemühung um die Sache’ zu erleichtern, indem man sie mit der ‚Persönlichkeit’ des ‚produktiven Künstlers’ abspeist“ (416). Umgekehrt forderte Thomas Heinze (1972: 338 ff) in 68er-Terminologie apodiktisch auf, den „Herrschaftsanspruch“ der Kunst und sie selbst „als Vehikel der Verschleierung zu entlarven“; sei doch die „Bereitschaft zur Appropriation kultureller Güter … abhängig von einer spezifischen Erziehung, die erst das Kunstverständnis als Beherrschung der Instrumente zur Appropriation dieser Güter erzeugt“ (so zitiert bei Hänzi 137). Überschaut man alle diese Äußerungen, so lässt sich, wo nicht für das Publikum insgesamt, so zumindest für den je einzelnen Besucher, die je einzelne Besucherin die Möglichkeit einer autonomen Position festhalten – „das Theatererlebnis“ als ein „sozialer Tatbestand“ (Silbermann) mit der Möglichkeit einer individuell bestimmten, persönlichen Reaktion.

Der Eigensinn des einzelnen also gegen den Geltungs- und Herrschaftsanspruch von Experten; gegen „Definitionshoheit“ und „Konsekrationsmacht“ von Kritikern und Fachzeitschriften das individuelle „Geschmacksurteil“, das „nicht anders als subjektiv sein kann“ (Kant); als Ergebnis ein eigenes, selbstbestimmtes „Glaubensuniversum“ ohne dogmatische Definitionen. Es müsste sich als ein „sozialer Tatbestand“ (Silbermann) - d. h. das Publikum als (mit)gestaltende Theaterkraft – auch soziologisch untersuchen lassen.

Fazit

„Die Ordnung des Theaters“ ist ein Buch für Soziologen; in langen, komplizierten Sätzen wird pointiert und sorgsam dargestellt, wie ‚man’ im „Feld“ des Theaters durch Habitus, Charisma (bzw. Charismatisierung), auch durch eigene Anstrengungen Regisseur geworden ist, wie also „bestimmte primärsozialisatorische Konstellationen“ bzw. „Ausgangslagen“ zu Positionen führen (können). Hänzi greift also die Weber´sche „Frage der Auslese der führenden Berufe innerhalb der modernen Gesellschaft“ auf, exemplifiziert sie am Beispiel des Regisseurs und versucht, sie durch eine umfassende Feld-Analyse, durch Interviews mit Regisseuren und Analyse dieser Interviews zu beantworten. Durch diese „Untersuchung des Felds und des Berufs der Theaterregie … ließen sich“, so Hänzi, „recht persistent wirkmächtige Formen und Mechanismen der Status- und Geltungsproduktion ausmachen“ (411). Wobei sicherlich auch allgemein-gesellschaftliche Entwicklungen (z.B. die 68er und das Studententheater) wie Zu-Fälle eine wichtige Rolle spielen.

Jedenfalls ist „Die Ordnung des Theaters“ auch für theater- und allgemein kulturinteressierte LeserInnen ein interessantes Buch; freilich gehen die vielen Erläuterungen und Bemerkungen zu Theater, Theatergeschichte, Theaterpersonen, kulturellen Entwicklungen in den Textmassen unter und werden, sehr zu bedauern, nicht durch ein Register erschlossen.


[1] Interessant in diesem Zusammenhang, dass in der DDR 1965 „Wolf Biermann (*1936) … gemeinsam mit der Schauspielerin und Regisseurin Brigitte Soubeyran (* 1932) das Berliner Arbeiter- und Studententheater“ gründete (107).

[2] Haunschild (2009, 149) bedauert, „wie viele intrinsisch motivierte angehende Schauspieler es gibt, die nicht zum Zuge kommen“ (417).

Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Es gibt 60 Rezensionen von Hans Wolfgang Nickel.

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Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 03.12.2013 zu: Denis Hänzi: Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie. transcript (Bielefeld) 2013. ISBN 978-3-8376-2342-0. Reihe: Theater Bd. 54. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15115.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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