Ulrike Petry: Die Last der Arbeit im ASD
Rezensiert von Prof. Dr. rer. hort. habil. Herbert Schubert, 26.07.2013

Ulrike Petry: Die Last der Arbeit im ASD. Belastungen und Entlastungen in der Sozialen Arbeit.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
250 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2283-4.
D: 34,95 EUR,
A: 36,00 EUR,
CH: 46,90 sFr.
Reihe: Koblenzer Schriften zur Pädagogik.
Thema
Wenn das Thema „Arbeitsbelastung im ASD“ bei Google gesucht wird, werden 10.600 Web-Einträge aufgeführt (Stand: 23.06.2013). Im Fachdiskurs stellt die Last mit der Sozialen Arbeit einen Dauerbrenner dar. In den vergangenen Jahren fand die Auseinandersetzung mit der Arbeitsbelastung im Allgemeinen Sozialen Dienst eine große Resonanz: Das Spektrum reicht vom Jugendhilfebarometer des DJI über Fachtagungen von Landesjugendämtern bis hin zur Thematisierung im Rahmen der Kindeswohlgefährdung, der Qualitätsentwicklung und der Personalbemessung. Aber bei der näheren Inaugenscheinnahme dieser Quellen wird offensichtlich, dass die Belastung überwiegend behauptet und nicht tiefenscharf transparent gemacht wird. Vor diesem Hintergrund war es höchste Zeit, die Arbeitsbelastung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) empirisch aufzuklären. Mit der Publikation von Ulrike Petry wird nun Licht in das Dunkel der Last im ASD geworfen. Sie gibt über die Theorieentwicklung und die Forschung einen Überblick und eröffnet methodisch begründete Einblicke in die Realität der ASD vor Ort.
Autorin
Ulrike Petry ist Diplom-Pädagogin und leitet eine Abteilung im Jugendamt der Stadt Offenbach. An der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) wirkt sie als Lehrbeauftragte im Wahlpflichtmodul „Kinder- und Jugendhilfe als exemplarisches Praxisfeld“ des Bachelor-Studiengangs „Pädagogik“ mit.
Entstehungshintergrund
Die Publikation basiert auf einer Forschungsarbeit, die an der Universität Koblenz-Landau als Dissertation angenommen wurde. Nach der erfolgreichen Promotion von Ulrike Petry wurde die Arbeit in der Reihe „Koblenzer Schriften zur Pädagogik“ veröffentlicht.
Aufbau
Das Thema der „Belastungen und Entlastungen in der Sozialen Arbeit“ wird in 12 Kapiteln entwickelt:
- Einleitung
- Was „macht“ der ASD und was macht ihn aus?
- Professionalisierung und Profession im ASD
- Historische Dimension der Arbeitsbelastung im ASD
- Aktuelle Studien / Forschungsstand
- Arbeitsbelastung – wie kann sie erfasst werden?
- Anlage und Durchführung der empirischen Untersuchung
- Differenzierte Untersuchungsergebnisse der inhaltsanalytischen Auswertung
- Ergebnisse der vertiefenden Auswertung: Typologie
- Einordnung der Ergebnisse
- Zusammenfassung der empirischen Befunde
- Kritische Forderungen und Ausblick
Inhalt
Das Konstrukt „ Arbeitsbelastung“ wird aus rechtlichen Aufgaben, strukturellen Bedingungen, konzeptionell-methodischen Orientierungen sowie individuellen Wahrnehmungen und Bewertungen gebildet. Bei der Annäherung an das Konstrukt wird zuerst die innere Widersprüchlichkeit des ASD „zwischen Akzeptanz von Lebensentwürfen und Kontrolle von Lebensumständen, zwischen präventiver und begleitender Beratung und intervenierender Entscheidung, zwischen Schutz des Kindes und Widerstand der Eltern (und der Kinder), zwischen (steigenden) Bedarfen und (knapper werdenden) Mitteln und zwischen Einzelfall und Gemeinwesen“ (S. 21) betrachtet. In einem zweiten historischen Blick zurück werden die Entstehung des Allgemeinen Sozialen Dienstes und die Ausdifferenzierung seiner Aufgaben bis hin zum Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1924 nachgezeichnet. Es wird deutlich, dass die Belastungen in der Geschichte des ASD „untrennbar mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Notlagen verbunden“ sind (S. 30). Ein dritter Blick kreist um den aktuellen ASD: Die Autorin setzt sich mit den Charakteristika der „Allzuständigkeit“, des „zielgruppenübergreifenden“ Arbeitsansatzes und mit dem Selbstverständnis des ASD als „Basisdienst“ auseinander. Dabei wird vermittelt, dass die Anforderungen des New Public Management seit den 90er Jahren und die rechtlichen Novellen zum Kinderschutz nach dem Jahr 2000 den ASD unter einen verstärkten Druck gesetzt haben. Die Aufstellung in der Breite („Auffangbecken für alles Unerledigte“) und die Differenzierung der Organisationsform („keine Möglichkeit, ein fachliches Profil zu entwickeln“) führten zu einer „Identitätskrise des ASD“ (S.33).
In einem weiteren Baustein setzt sich Ulrike Petry mit der Professionalisierung und dem Professionsverständnis im ASD auseinander. Aus der professionssoziologischen Forschung werden die vier theoretischen Perspektiven der machtorientierten, funktionalistischen, indikatorisch-merkmalsorientierten und interaktionistischen Ansätze angeführt, um die Durchsetzung der Zuständigkeitsansprüche der Sozialen Arbeit als Profession zu beleuchten. Unter Bezugnahme auf die professionspolitische Diskussion wird dargestellt, dass die Soziale Arbeit wegen der Unterwerfung unter staatlich regulierte Systeme auf strukturelle Grenzen der Professionalisierung trifft (S. 42). Im weiteren Diskurs werden Professionstheorien der Sozialarbeitswissenschaft (u.a. Staub-Bernasconi, Engelke, Heiner), der stellvertretenden Lebenslagen- und Lebenswelthermeneutik (Ferchhoff), der stellvertretenden Deutung und des typologischen Verstehens (Haupert/Kraimer), des dienstleistenden Professionshandelns (Dewe/Otto), der Katalyse von Veränderung im Alltag (u.a. Erath, Lutz), der bescheidenen Profession (u.a. B. Müller), der postmodernen Profession (Kleve), der handlungstheoretischen Orientierung (Heiner) und der Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi) referiert. In der Zusammenschau resümiert die Autorin, dass es „keinen Königsweg der Professionalisierung gibt“ (S.56). Es sei schwierig, in einem Arbeitsfeld eine professionelle Rolle zu finden, das nicht durch eine eindeutige Identität charakterisiert sei.
Danach wendet sich Ulrike Petry der Arbeitsbelastung im ASD zu und stellt fest, dass sie unter historischer Perspektive kein neues Phänomen sei. Unter Bezugnahme auf Beispiele aus den 20er, 50er, 60er und 80er Jahren wird deutlich, dass das Belastungsthema einen weit zurückreichenden „roten Faden“ aufweist. In den verschiedenen Quellen scheinen immer wieder Belastungshinweise in Folge „administrativer Tätigkeiten“ und „Überlastung mit Fällen“ auf (S.60f.). Auf dieser Grundlage stellt die Autorin den aktuellen Forschungsstand dar, den verschiedene Autorinnen und Autoren einschlägig zusammengetragen haben (u.a. Blüml, Merchel et al., Rudow, Seckinger/DJI). In diesen Studien wird die Arbeitsbelastung im ASD zwar nachgewiesen und tätigkeitsbezogen konkretisiert, aber es fehlt die Tiefenschärfe: Ulrike Petry fragt weiterreichend, ob es individuelle oder kollektive Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Belastung und das Belastungserleben gibt, in welchem Zusammenhang entlastende und belastende Faktoren stehen und was dazu beiträgt, sich im Arbeitsfeld ASD gesund zu halten. Von diesen Fragestellungen aus entwirft sie ein Untersuchungsdesign, um auf dem Weg einer qualitativen Inhaltsanalyse und mit dem Ansatz der theorieorientierten (Typen bildenden) Grounded Theory Antworten zu generieren (S.73ff.). In diesem Kontext klärt die Autorin auch, wie Arbeitsbelastung empirisch erfasst werden kann. Aus verschiedenen erprobten Verfahren stellt sie den Leitfaden für die telefonischen Interviews zusammen, die über Kontakte zu Mitarbeiter/innen von großstädtischen ASD im KGSt-Vergleichsring Jugendhilfe erhoben wurden.
Im Hauptteil der Publikation werden die Untersuchungsergebnisse differenziert dargestellt. Zuerst werden die Faktoren der Be- und Entlastung in einen Zusammenhang gebracht. Ulrike Petry entwickelt diese Übersicht weiter zu einem Systemzusammenhang von Selbst-, Welt- und Fremdsicht (S.87). Mit der Allegorie der „Waage“ wird die Balance von Helfersystem, Klientensystem, Organisationssystem und Öffentlichkeit veranschaulicht: Nicht objektive Relationen von Belastungen bringen Fachkräfte aus dem Gleichgewicht, sondern die individuellen Potenziale, die be- und entlastenden Faktoren in der alltäglichen Situation zu koordinieren. Die „Faktoren der Belastung und der Entlastung / Motivation“ werden von den Fachkräften selbst austariert – den einen gelingt das, den anderen nicht .
Die Leserin und der Leser kann dies relativ tiefenscharf nachvollziehen; denn die Autorin gibt die Gespräche mit den befragten Fachkräften des ASD in 20 Interviewporträts ausführlich wieder. In der zusammenfassenden Auswertung wird deutlich, dass ständig „die Aufträge, einerseits Klienten zu beraten und zu unterstützen, andererseits Kontrolle auszuüben und ein Wächteramt innezuhaben“, ausbalanciert werden müssen (S.126). Die Praxis des ASD bewegt sich fortwährend zwischen Gegensätzen. Ein weiteres Spannungsfeld, das die Interviews abbilden, ergibt sich „aus der Fallarbeit mit den Klienten und der vorgeschriebenen Dokumentation und Verwaltung der Fakten, Vorgänge und Prozesse“, die damit einhergehen (S.127). Der steigende Aufwand der Dokumentation hängt auch mit der Notwendigkeit der persönlichen Absicherung in der gestiegenen Zahl der Kinderschutzfälle zusammen. Der gelingende Umgang mit diesen Belastungen korrespondiert nach Ulrike Petry mit privaten Ausgleichsformen wie Sport, Zeit mit der Familie (und Kindern), Supervision und reflexiver Austausch im Team. Eine bedeutende Rolle spielt auch die Wertschätzung der ASD-Arbeit durch Andere.
In einer vertiefenden Auswertung erarbeitet die Autorin eine Typologie der Strategien und Handlungsmuster, mit dem Belastungsempfinden umzugehen. Die sechs Typen sind (S.162ff.):
- Verwaltungsmanager – sind gut in das Organisationssystem integriert und erleben als Belastung, aushalten zu müssen, dass nicht alles abgearbeitet werden kann. Quelle der Anerkennung ist die Leitungsebene; Vorschriften werden als hilfreich wahrgenommen.
- Progressive Berater im Team – orientieren sich am traditionellen Leitbild der Beziehungsarbeit und stehen der modernen Datenverarbeitung kritisch gegenüber. Sie sind teamorientiert, stehen der Leitungsebene aber kritisch gegenüber. Die Belastung resultiert aus Verwaltungsaufwand und Defiziten der Leitungskräfte.
- Berater im Team retrospektiv (old school) – ähnlich wie bei Typ 2, aber die Belastung wird eher von der Multiproblematik der Klienten her wahrgenommen.
- (ungewollte) Einzelkämpfer – arbeiten überwiegend nach eigenem Stil und persönlichen Erfahrungsmustern. Die Vorschriften und die Leitungsebene werden als unübersichtlich und lästig empfunden. Die Hauptbelastung resultiert aus Überforderungen von den Problemen der Fälle.
- Retter – sehen sich bildlich als „Feuerwehr“ und bekommen von allen Seiten Anerkennung. Belastend ist für sie das Ohnmachtserleben bei schwierigen, komplizierten Fällen, für die es keine Handlungsoptionen gibt.
- Aussteiger – nehmen ihre Tätigkeit als von den Vorschriften fremdbestimmt wahr und sehen sich der emotionalen Anstrengung, zwischen Nähe und Distanz im Beruf die Balence zu wahren, nicht gewachsen.
In dieser Typologie kommt das „Leitmotiv der Ambivalenz im ASD“ zum Tragen: Die Wertschätzung von Organisation und Klienten auf der einen Seite und die Belastung durch die Fallarbeit auf der anderen Seite stellen das zentrale Spannungsmotiv dar, mit dem die Typen unterschiedlich umgehen (S.183).
Zum Abschluss ordnet Ulrike Petry die Ergebnisse professionstheoretisch, empirisch und historisch ein.
Diskussion
Die Studie rückt den Habitus der Sozialen Arbeit in den Blickpunkt. Denn die Haltung der ASD-Fachkraft, die aus persönlichen Dispositionen, biographischen (beruflichen) Erlebnissen und Ausbildungsprägungen der (Fach-)Hochschulen resultiert, erweist sich als wesentlich für die Entwicklung von der Fähigkeit, selbstwirksam mit den Belastungen der alltäglichen ASD-Praxis umzugehen. So betrachtet gibt die Studie von Ulrike Petry den Hochschulen, den Jugendämtern, der Kommunalpolitik und den Führungskräften im ASD wertvolle Anregungen, wie die richtigen Impulse gegeben werden können, damit sich eine belastbare professionelle (resiliente) Haltung unter den Fachkräften der Sozialen Arbeit herausbilden kann.
Auf der anderen Seite belegt die Publikation nachdrücklich, dass die steigenden organisatorischen Anforderungen der Dokumentation und rechtlichen Absicherung durchweg über alle individuellen Typen als Belastung empfunden werden. Damit werden die in den vergangenen Jahren durchgeführten Studien und Forschungen weitgehend bestätigt. Im fachlichen Diskurs muss folglich vermehrt eine ressourcen- und motivationsorientierte Haltung gegenüber den Klienten gefördert werden – flankiert von der Vermittlung von Handlungssicherheit im ASD und Wertschätzung in der ASD-Umwelt. Besonders nützlich ist deshalb das Buch für Leitungskräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD). Denn es wird plausibel herausgearbeitet, welche Haltung die Organisation einnehmen muss, damit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Team Sicherheit im Handeln vermittelt und ein Maximum an Handlungsfähigkeit garantiert wird.
Zu empfehlen ist die Publikation auch für die Lehre in Bachelor-Studiengängen der Sozialen Arbeit sowie für die begleitende Lektüre in Traineeprogrammen von Jugendämtern. Denn die Studie verdeutlicht den Studierenden und Trainees, dass es – neben organisationalen Rahmenbedingungen und Führungsqualitäten – auf austarierte persönliche Handlungsstrategien ankommt, um den Belastungen im ASD gewachsen zu sein.
Fazit
Das Ergebnis der Publikation von Ulrike Petry ist verblüffend: Es scheint weniger angemessen zu sein, quasi objektivierend die Arbeitsbelastung im ASD zu fokussieren, sondern sinnvoller, die subjektiv realisierten Muster zu differenzieren, wie damit umgegangen wird. Genau das gelingt der Autorin hervorragend! Das Buch kann Ruhe in das aufgeregte Beklagen der allgemeinen Belastungen im ASD bringen. Denn es lenkt den Blick hin zum individuellen Belastungserleben sowie zum gelingenden Umgang mit entlastenden Faktoren. Es vermittelt, mit welchen selbstwirksamen Strategien sich Fachkräfte im Arbeitsfeld ASD gesund halten, aber auch durch welche Dispositionen sich Fachkräfte schutzlos der Überforderung ausliefern.
Rezension von
Prof. Dr. rer. hort. habil. Herbert Schubert
Ehem. Direktor des Instituts für angewandtes Management und Organisation in der Sozialen Arbeit (IMOS) an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln
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