Christoph Wagner: Der Klang der Revolte
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Drees, 17.09.2013
Christoph Wagner: Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground. Schott (Mainz) 2013. 386 Seiten. ISBN 978-3-7957-0842-9. D: 24,95 EUR, A: 25,95 EUR, CH: 36,90 sFr.
Thema
Im Zuge der politischen Protestbewegungen entstand während der Jahre 1967 bis 1973 in der BRD eine Underground-Musik, die eine radikale Abkehr von der biederen Unterhaltungskultur der Nachkriegsjahre markierte. In Rock, Jazz, deutschsprachigem Folk oder avantgardistischer Popelektronik bastelten die jeweiligen Protagonisten an neuartigen Klängen, indem sie einzelne Impulse der anglo-amerikanischen Szene mit explizit europäischen Einflüssen zu eigenständigen Stilformen verbanden und dabei musikalische Anstöße gaben, die bis heute weltweiten Widerhall finden. Dieser von Autor Christoph Wagner als „magische Jahre“ des Underground bezeichneten Zeit verdankt sich jedoch nicht nur die Entstehung einer eigenständigen deutschsprachigen Popmusik, sondern sie hinterließ ihre Spuren auch in jenem „subkulturellen Echoraum“, der – aus Bandkommunen, Drogen, den ersten internationalen Rockfestivals, lokalen Konzertinitiativen und Jugendclubs zusammengesetzt – Teil des gesellschaftlichen Umbruchs wurde.
Autor
Christoph Wagner lebt seit 1984 als freier Musikjournalist, Rundfunk- und Buchautor in England. Er ist Betreiber der „World Music Picture Archives“ (www.klang-records.co.uk/wmpa/), schreibt regelmäßig Beiträge für Zeitungen und Fachmagazine im In- und Ausland und hat zahlreiche CD-Anthologien herausgegeben. Seine Publikationen – beispielsweise
- Die Mundharmonika – ein musikalischer Globetrotter (1996),
- Das Akkordeon oder die Erfindung der populären Musik (2001) oder
- Auge & Ohr – Begegnungen mit Weltmusik (2004)
setzen sich auf unterschiedliche Weise mit populären Musikströmungen und ihren historischen Kontexten auseinander. Der Thematik des vorliegenden Buches widmete Wagner in der Vergangenheit bereits eine ganze Reihe von Aufsätzen, Rundfunksendungen und Interviews.
Entstehungshintergrund
Christoph Wagner, aufgewachsen in der süddeutschen Stadt Balingen, hat die von ihm thematisierte Zeitspanne als Jugendlicher miterlebt. Von diesen Erfahrungen ausgehend, richtet er den Blick nicht nur auf die bedeutenden Metropolen und Regionen wie Berlin, München und das Ruhrgebiet, sondern schildert die Entwicklungen der fraglichen Jahre auch aus dem Blickwinkel ihres zeitlich oftmals stark verspäteten Eintreffens in der schwäbischen Provinz. Das Buch selbst ist das Ergebnis einer fast zwei Jahrzehnte währenden Recherche- und Sammelarbeit, die ihre wesentlichen Impulse durch die eigene musikalische Prägung erhielt.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist aus einer ganzen Reihe von Einzelkapiteln aufgebaut, die sich jeweils einem bestimmten Thema widmen und in ihrer Abfolge einen historischen Abriss zur Entwicklung des deutschen Musik-Underground geben, anschaulich ergänzt durch mehr als 100 zum Teil äußerst rare Schwarz-Weiß-Fotografien. Im Zentrum der Ausführungen steht die Bemühung des Autors darum, „die Unterground-Musik als kulturelles Phänomen zu begreifen, in der sich der Zeitgeist, technischer Fortschritt, soziale Umbrüche und gesellschaftliche Trends spielgelten, die natürlich ihrerseits wieder von der Musik beeinflusst waren“ (S. 11). Da auf diese Weise die Umwälzungen innerhalb der Alltagskultur als Signum eines generellen kulturellen Wandels begriffen werden, verknüpft Wagner die jeweils dargestellten musikalischen Entwicklungen immer auch mit der Diskussion gesellschaftlicher und kultureller Themen.
Die einzelnen Kapitel folgen zwar im Großen und Ganzen dem Verlauf der historischen Entwicklung, sind jedoch zumeist in sich abgeschlossen oder fügen sich mit anderen Kapiteln zu einer größeren Einheit, die sich durchaus getrennt vom Rest des Buches lesen lässt. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:
- Im Kapitel Vor Udo (S. 39-55) wird die Geschichte der Verwendung deutschsprachiger Texte in Umrissen nachgezeichnet, die sich – ausgehend vom Bezug auf das Englische als Mittel einer Distanzierung vom „Schlagerkitsch“ (S. 41) – über eine politische Neuausrichtung des Inhalts von Songtexten etwa in „Anarcho-Liedern zum Mitsingen“ (S. 46) von Bands wie Ton Steine Scherben vollzieht und schließlich mit Künstlern wie Udo Lindenberg vollends im „Krautrock“-Mainstream ankommt.
- Eine Parallelgeschichte hierzu erzählt Wagner dagegen im Kapitel „Selten, seltener, selbstgemacht“ (S. 175- 189), das sich um die gleichfalls aus der Ablehnung des Schlagers gespeiste deutschen Liedermacherei, ihr Anknüpfen an amerikanische Folktraditionen und die Entstehung einer politisierten, „radikalen Straßenmusik“ (S. 175) dreht.
- In den Kapiteln Kosmische Sounds und sphärische Klänge (S. 71-88) und Elektronische Seligpreisungen (S. 89-104) zeigt Wagner die Unterschiede auf, die mit der Entwicklung der Elektronikszenen in Berlin einerseits und in Westdeutschland (mit einem Schwerpunkt auf dem Umfeld der Düsseldorfer Formation Kraftwerk) andererseits verbunden waren. Dabei erweist sich die jeweilige Infrastruktur vor Ort inklusive der vorhandenen Möglichkeiten im Zugriff auf die aktuelle Studiotechnologie als bedeutsam für die Herausbildung bestimmter ästhetischer Entwürfe.
- Gleich mehrfach widmet sich der Autor der Entstehung der Präsentationsformen von Rockkonzert und Festival, die er anhand bedeutsamer Stadien nachzeichnet: So beschreibt er im Kapitel Der Untergrund taucht auf (S. 191-202) die „Internationalen Essener Songtage von 1968“ als erste Manifestation popkultureller Subkulturen im deutschsprachigen Raum, vollzieht die Ereignisse um die provozierende, unter Mitwirkung von Perfomancekünstlern und Rockmusikern durchgeführte „Unterground-Explosion“-Tour von 1969 nach (Der Krieg findet im Saal statt, S. 202-212), betrachtet die Ereignisse um das „Internationale Essener Pop- und Bluesfestival 1969“ (Flüstern, beschwören, kreischen …, S. 212-224) und widmet sich in weiteren Kapiteln auch den teilweise chaotischen Bedinungen und dem Misslingen der Open-Air-Festivals von Konstanz (1970) und Fehmarn (1970). Dass er hierbei immer auch die schwierigen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen herausarbeitet, mit denen die Veranstalter zu dieser Zeit zu kämpfen hatten, macht diese Teile besonders lesenswert.
- Einzelne Kapitel befassen sich ausführlich mit den gesellschaftlichen Konsequenzen der neuen Rockmusik: Hier ist einerseits die alternative Lebensform der Musikerkommune zu nennen, die sich bei Bands wie Amon Düül (in Ammersse bei Herrsching), Embryo (in München), Bröselmaschine (in Duisburg), Guru Guru (im Odenwald) oder Ton Steine Scherben (in Berlin) als „originäre Lebensform des Rock-Undergrounds“ (S. 266) mit all ihren utopischen Entwürfen und Folgeproblemen herausgebildet hat (Vorsicht: Popkommune!, S. 265-279). Andererseits gehört hierzu aber auch die Thematik des – teils selbstzerstörerischen – Musizierens unter dem Einfluss von Drogen (Die Farben der Klänge, S. 318-336) mit dem Ziel einer Erschließung neuer kreativer Potenziale, die mit einer allgemein stärkeren Verbreitung entsprechender Rauschmittel einhergeht.
- Wieder andere Teile des Buches befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit bestimmten Musikrichtungen oder fokussieren den Blick gar auf einzelne Musiker: So zeigt Wagner im Kapitel Grenzen durchbrechen! (S. 123-158), welche radikalen Entwicklungen den Jazz in Westdeutschland – etwa unter Federführung von Persönlichkeiten wie Peter Brötzmann, Manfred Schoof und Wolfgang Dauner – verändert haben, während er sich in anderen Kapiteln eingehend und mit Bezug auf die jeweiligen musikalischen Wurzeln der Ästhetik von Bands wie Xhol Caravan (Meet the Bürgerschrecks, S. 349-359) und Can (Betongewölbe aus Klang, S. 361-371) widmet.
Ein roter Faden all dieser und weiterer Kapitel ist die immer wieder anhand zahlreicher Details dargestellte Wechselbeziehung zwischen den geschilderten Ereignissen und Entwicklungen und eine radikal im Umbruch befindliche Gesellschaft mitsamt der daraus resultierenden politischen Verhältnissen am Ende der 1960er Jahre.
Diskussion
Wagners Buch bietet ein umfassendes Kompendium zur Entwicklung der deutsprachigen populären Musik im Kontext ihrer kulturellen Verortung. Sehr positiv ist zu bewerten, dass der Autor alle wichtigen Themen übersichtlich anordnet und seine Ausführungen zu den musikalischen Entwicklungen auf die gegenseitigen Einflüsse von Jazz, Pop, Avantgarde und anderen Musikrichtungen ausdehnt. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Bandes ist die Darstellung der bislang eher vernachlässigten Entwicklungen in der deutschen Provinz, die einen Eindruck von der Verbreitung zentraler Phänomene jenseits der großen Metropolen mit ihrer den Entwicklungen entgegenkommenden Infrastrukturen geben. Dass Wagner häufig aus der Perspektive eines unmittelbar von vielen Ereignissen Betroffenen schreibt, verleiht ihm selbst die Aura eines Zeitzeugen, wird aber dort zum Problem, wo das persönlich Erlebte den kritischen Blick auf die beschriebenen Phänomene trübt. Hierzu gehört auch die Tatsache, dass sich der Autor vorwiegend journalistischer Quellen und Interviews bedient, also dem stark subjektiv gefärbten Blick insgesamt einen deutlichen Vorrang einräumt, während er die mittlerweile doch beachtliche wissenschaftliche Literatur zu einzelnen Themen kaum jemals befragt. Dies führt in einzelnen Fällen dazu, dass die Darstellungen in eine gewisse Schieflage geraten: Besonders deutlich wird dies dort, wo sich Wagner auf anekdotenreich ausgeschmückte Aussagen aus Interviews stützt und dabei gewisse Tendenzen zur Mystifizierung erkennen lässt, oder wo er – beispielsweise in Bezug auf den für die Entwicklung der deutschen Liedermacherszene bedeutsamen Aufeinanderprall polititischer und künstlerischer Haltungen während der Festivals auf Burg Waldeck in den Jahren 1968 und 1969 – die Darstellung einzelner Ereignisse stark verknappt und sie damit eher an den Rand rückt.
Fazit
Die Publikation eignet sich hervorragend zum Einstieg in die Thematik und bietet eine materialreiche Ausgangsposition für vertiefende Fragestellungen. Aufgrund des flüssigen, journalistisch geprägten Schreibstils bietet sie auch dem nichtwissenschaftlichen Publikum einen unkomplizierten Zugang zu allen diskutierten Schwerpunkten. Auch den wissenschaftlich interessierten Leserinnen und Lesern vermag das Buch wichtige Anhaltspunkte und Impulse zu geben, obgleich einzelne Details der Darstellung im Lichte der aktuellen Popularmusikforschung auch kritisch zu betrachten sind.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Drees
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Zitiervorschlag
Stefan Drees. Rezension vom 17.09.2013 zu:
Christoph Wagner: Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground. Schott
(Mainz) 2013.
ISBN 978-3-7957-0842-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15161.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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