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Bernd Dollinger, Michael Schabdach: Jugendkriminalität

Rezensiert von Gesa Bertels, 04.12.2013

Cover Bernd Dollinger, Michael Schabdach: Jugendkriminalität ISBN 978-3-531-17696-3

Bernd Dollinger, Michael Schabdach: Jugendkriminalität. Springer VS (Wiesbaden) 2013. 284 Seiten. ISBN 978-3-531-17696-3. 24,95 EUR.
Reihe: Lehrbuch.

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Thema

„Jugendkriminalität sollte kontrovers diskutiert werden“ (S. 7). Dies ist das Anliegen, dass die beiden Autoren mit ihrem Lehrbuch zum Thema Jugendkriminalität einlösen möchten. In ihrem Werk nähern sie sich dem Thema aus sozialwissenschaftlicher bzw. sozialpädagogischer Perspektive. Geprägt ist das Buch von einer konstruktivistischen Sichtweise, die Jugendkriminalität nicht als objektive Tatsache, sondern kulturelle und soziale Interpretationsleistung verschiedener Akteure versteht.

Autoren

Prof. Dr. Bernd Dollinger ist Professor für Sozialpädagogik an der Fakultät II der Universität Siegen, Department Erziehungswissenschaft – Psychologie, Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen: Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik, Sucht- und Devianzforschung, Professionalisierung, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. Gemeinsam mit Prof. Dr. Henning Schmidt-Semisch hat er vor drei Jahren das Handbuch Jugendkriminalität herausgegeben, das mittlerweile in der 2. Auflage erhältlich ist (vgl. die Rezension).

Michael Schabdach, Diplom-Pädagoge, ist an derselben Fakultät der Universität Siegen als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Der berufliche Hintergrund der beiden Autoren wird in ihrer Perspektive auf das Thema Jugendkriminalität deutlich spürbar.

Aufbau

Insgesamt ist das Werk in sechs inhaltliche Kapitel gegliedert.

Besonders leserfreundlich sind die Abschlüsse der Kapitel zwei bis fünf (Einführung und Fazit sind hier sinnvollerweise ausgenommen), an deren Ende jeweils neben einer kurzen Zusammenfassung Diskussionsfragen, die zur eigenen Reflexion anregen, und Lektüreempfehlungen aufgeführt sind.

Das Werk schließt mit einem sehr ausführlichen Literaturverzeichnis ab.

Inhalt

Das angenehm knapp gehaltene Vorwort ermöglicht der Leserschaft eine gute Einstimmung und sorgt zudem dafür, dass man sich im Anschluss vom sperrigen Titel des einführenden 1. Kapitels „Jugendkriminalität als diskursive Konstruktion“ nicht allzu sehr abschrecken lässt. In diesem Kapitel machen die Autoren die Reichweite und den Anspruch ihrer Publikation deutlich. Sie betonen: „ein Wissenskanon existiert im Phänomenbereich Jugendkriminalität nur teilweise“ (S. 9). Unterschiedliche Akteursgruppen, wie z.B. Politik und Medien, seien an der Konstruktion von Jugendkriminalität beteiligt. Gerade deshalb müsse man sich bei der Beschäftigung insbesondere mit strittigen Aspekten des Themas immer wieder vergewissern, ob man es jeweils mit sicherem oder unsicherem Wissen zu tun habe und in welchen Diskurs man gerade eingebunden sei.

Schon der Titel des 2. Kapitels „Erziehung im Jugendstrafrecht“ weist darauf hin, dass das Jugendstrafrecht Erziehung als zentrales Mittel ansieht, um eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erreichen. Erziehung umfasst dabei nicht nur pädagogische, sondern auch strafende Maßnahmen. Diese Ambivalenz – sofern es denn eine ist – wird sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart nachgezeichnet. Die Autoren weisen auf damit einhergehende Spannungen hin und betonen, dass der jugendstrafrechtliche Erziehungsbegriff anders gefüllt ist als z.B. der Erziehungsbegriff in der Sozialgesetzgebung. Im enger gefassten jugendstrafrechtlichen Erziehungsbegriff ist z.B. das Ziel, den Beschuldigten von weiteren Straftaten abzuhalten, wohingegen der weiter gefasste Begriff die Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation im Allgemeinen zum Ziel hat. Es scheint daher nicht nur ein kritischer Blick auf das jeweilige Verständnis von Erziehung angebracht zu sein; die Autoren plädieren dafür, (sozial-)pädagogische Erkenntnisse im Jugendstrafrecht insgesamt stärker zu berücksichtigen.

Im 3. Kapitel „Theoretische Annäherungen“ widmen sie sich dann einigen wesentlichen Theorieansätzen. Als Auswahlkriterium diente ihnen dabei der Grad der Aufmerksamkeit im deutschen Theoriediskurs. Unter der Überschrift „klassische Theoriepositionen“ werden Lern-, Kontroll, Subkultur-, Anomietheorien sowie der Etikettierungsansatz skizziert. Zwischen den klassischen und den eher modernen Positionen ist ein Abschnitt zu der Frage zu finden, inwiefern Kriminalität im Jugendalter mit der Suche nach Identität verbunden ist. Das ist schlüssig, denn diese Aspekte lassen sich sowohl in den klassischen wie auch den neueren Theorieentwürfen finden. Zudem erscheint es auch für zukünftige Forschung lohnenswert, diesen Strang weiter zu verfolgen. Es folgt ein Abschnitt zu relativ modernen Theoriepositionen. Konkret wird hier auf zwei Ansätze eingegangen, auf die Rational-Choice-Theorien und die Cultural Criminology, die in den letzten Jahren vermehrt auf Interesse stießen.

Das 4. Kapitel „Erscheinung und Verlauf von Jugendkriminalität“ widmet sich statistisch und empirisch gesichertem Wissen zu Erscheinungsformen, Umfang und Struktur von jugendlicher Delinquenz. Schwerpunkte werden dabei auf Lebensverlaufsforschung und Mehrfachtäterschaft gelegt. In angemessener Weise wird auf die Schwierigkeiten von Hell- und Dunkelfeldforschung sowie die begrenzte Aussagekraft der offiziellen Daten hingewiesen.

Institutionelle Bearbeitungsformen“ stehen im Mittelpunkt des 5. Kapitels. Dazu wird zunächst der Begriff der Professionalität einer näheren Betrachtung unterzogen. Anschließend werden einzelne Akteure betrachtet, Jugendstaatsanwälte und Jugendgericht sowie die Jugendgerichtshilfe. Denkbar wäre hier sicher noch eine Erweiterung um z.B. die Soziale Arbeit im Jugendstrafvollzug gewesen. In einem weiteren Schritt wird die Prävention von Jugendkriminalität einer kritischen Analyse unterzogen. Es wird deutlich, dass präventive Forderungen und Ansätze nur selten auf theoretisch und empirisch sicheren Füßen stehen; gleichwohl erfahren sie in der Regel eine starke Resonanz. Nicht ganz stringent wird das Kapitel mit verschiedenen Ausblicken fortgeführt, zur Schwierigkeit von Diagnosen und Prognosen, zur These einer zunehmenden Straflust sowie internationalen Perspektiven. Gerade hier ist die Zusammenfassung am Ende des Kapitels besonders hilfreich, um die vielen aufgenommenen Fäden wieder zusammenzubringen.

Im letzten, 6. Kapitel „Jugendkriminalität im Kontext“ wird ein Fazit gezogen. Es werden die verschiedenen Handlungslogiken von Sozialer Arbeit, Recht und Politik aufgezeigt, die teils zu deutlich unterschiedlichen Einschätzungen von und Reaktionen auf Jugendkriminalität führen. Abschließend greifen die Autoren nochmals den Erziehungsbegriff aus ihrem 2. Kapitel auf und warnen vor einer unreflektierten Verwendung. Mit Bezug auf die Inhaftierung von Jugendlichen machen sie deutlich: „Um Erziehung handelt es sich weder im pädagogischen noch im eingeschränkten jugendstrafrechtlichen Sinne, da weder ein bildungsförderliches Umfeld geschaffen noch Legalbewährung gefördert wird“ (S. 238). Statt dessen sprechen sie sich dafür aus, „Strafe als Strafe und Erziehung als Erziehung zu bezeichnen“ (S. 241). Mit diesem Vorschlag geben sie zum Schluss eine mögliche Antwort auf das von ihnen im 2. Kapitel skizzierte Dilemma um den Erziehungsbegriff im Kontext Jugendkriminalität.

Diskussion

Direkt zu Beginn des Buches wird im Vorwort darauf hingewiesen, dass in den Fachbuchhandlungen bereits einiges zum Thema Jugendkriminalität verfügbar ist, nicht zuletzt von Bernd Dollinger selbst (s.o.). Das Buch füllt also nicht etwa eine Lücke in der bestehenden Fachliteratur, sondern muss sich an bestehenden Werken messen lassen oder von diesen abheben. Die beiden Autoren sehen dieses Alleinstellungsmerkmal in einem „besonderen Blick“ (S. 7) auf das Thema Jugendkriminalität. Sie nähern sich dem Thema nicht aus einer juristischen, sondern einer sozialwissenschaftlichen Perspektive. Damit folgen sie konsequent der Überzeugung, dass der primäre Umgang mit Delinquenz bei Jugendlichen aus erzieherischen Maßnahmen bestehen sollte und machen deutlich, dass der Beitrag der Sozialen Arbeit bzw. der Sozialwissenschaften zu diesem Thema einen eigenen Wert hat, der nicht zu stark mit den Perspektiven des Rechts oder der Politik vermischt werden sollte.

In meinen eigenen Lehrveranstaltungen zur Kriminalsoziologie erarbeite ich mit den Studierenden oft zu Beginn eigene Definitionen der zentralen Begrifflichkeiten Devianz, Delinquenz etc. Dabei wird regelmäßig deutlich, was auch eine der Kernbotschaften dieses Buches ist: Das Verständnis von (Jugend-)Kriminalität ist stark vom jeweiligen Kontext sowie von politischen, gesellschaftlichen oder auch kulturellen Einflüssen abhängig. Nur konsequent erscheint es da, dass im Verlauf der Ausführungen in dieser Veröffentlichung immer wieder unterschieden wird, wo es sich um empirisch gesichertes Wissen handeln, wo offene Diskurse bestehen und wo Perspektiven durch die Handlungslogiken einzelner Professionen geprägt sind.

Beim Aufbau des Buches fallen insbesondere die Kapitelabschlüsse ins Auge. Die jeweiligen Zusammenstellungen von Zusammenfassung, Diskussionsfragen und weiteren Lektüreempfehlungen sind ausgesprochen gelungen und unterstreichen den Lehrbuchcharakter des Werkes. Teils überraschend sind die in den Kapiteln eingeschobenen Kästen. Meistens sind dort Originalzitate zum jeweiligen Kapitel zu finden, teils aber auch Hinweise auf inhaltlich passende Filme und Serien wie „A Clockwork Orange“ oder „The Wire“. Zur leichteren Orientierung wäre es gut gewesen, die dritte Gliederungsebene würde sich jeweils auch im Inhaltsverzeichnis wiederfinden.

Das Buch ist auch als E-Book erhältlich. Es richtet sich vorrangig an Studierende und Lehrende der Sozial- und Erziehungswissenschaften, der Sozialen Arbeit sowie der Kriminologie und Kriminalsoziologie. Auch im Beruf stehende Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Strafjustiz können bei der Lektüre sicher Erkenntnisgewinne mitnehmen. Gerade für Studienanfänger wäre teils eine etwas leichter verständliche Sprache wünschenswert gewesen. Auch der Satz hätte an der ein oder anderen Stelle sicher noch etwas aufgelockerter sein können.

Fazit

Ein ansprechendes Lehrbuch zum Thema Jugendkriminalität, das aus sozialwissenschaftlicher Perspektive einen guten Überblick über das Thema gibt und an verschiedenen Punkten – insbesondere zur Verwendung des Erziehungsbegriffs in diesem Zusammenhang – zur Diskussion einlädt.

Rezension von
Gesa Bertels
Soziologin (M.A.) und Diplom-Sozialpädagogin (FH), wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), München
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Es gibt 19 Rezensionen von Gesa Bertels.

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Zitiervorschlag
Gesa Bertels. Rezension vom 04.12.2013 zu: Bernd Dollinger, Michael Schabdach: Jugendkriminalität. Springer VS (Wiesbaden) 2013. ISBN 978-3-531-17696-3. Reihe: Lehrbuch. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15183.php, Datum des Zugriffs 05.11.2024.


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