Leopold Klepacki, Jörg Zirfas: Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 10.02.2014
Leopold Klepacki, Jörg Zirfas: Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
210 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1271-2.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 27,90 sFr.
Reihe: Beiträge zur pädagogischen Grundlagenforschung.
Thema
Klepacki/Zirfas formulieren gleich mit ihrem ersten Satz eine Warnung: „Die folgenden Überlegungen werden all diejenigen enttäuschen, die eine Theatrale Didaktik mit der Erwartung lesen, hier praktische Anleitungen oder gar konkrete Empfehlungen für einen guten, erfolgreichen und wirkungsvollen Theaterunterricht zu erhalten. … Denn Didaktik“, so postulieren die Autoren, „ist nicht die unmittelbare Verknüpfung von Praxis und Theorie; ihre Resultate und Überlegungen bestehen nicht in Handlungen, sondern in wissenschaftlichen Ergebnissen und Reflexionen“ (S. 7).
Entstehungshintergrund
An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gibt es seit einigen Jahren ein von der Heidehofstiftung Stuttgart unterstütztes Forschungsprojekt zum Schultheater (Veröffentlichungen u.a. in: Erlanger Beiträge zur Pädagogik).
Autoren
Prof. Dr. Zirfas war bis 2013 Geschäftsführender Vorstand des Instituts für Pädagogik der Uni Erlangen-Nürnberg, Dr. Klepacki ist dort Akademischer Rat.
Aufbau und Zielsetzung
In der Einleitung (7 ff) geht es zunächst um „Bedeutung und Funktion der Didaktik“. Dabei verstehen Klepacki/Zirfas den „Begriff Didaktik … als übergreifende Bezeichnung für die Theorie- und Modellbildung des Zusammenhangs von intentionalen und reflektierten Lehr-Lern-Prozessen … Diesen Prozessen liegt als allgemeingültiges Schema das sog. Didaktische Dreieck zugrunde: Denn um etwas zu lehren, braucht es einen Lehrenden oder Unterrichtenden, einen Lernenden oder auch mehrere Lernende und schließlich – nicht zu vergessen – auch einen Gegenstand der Vermittlung und Aneignung; dieses (sic!) drei Komponenten stehen in einem pädagogischen Zusammenhang, d.h. diese Struktur ist durch die Intentionalität des Lehrens und Lernens gerahmt … Gelingt diese Struktur, so gibt es einen kreativen pädagogischen Austauschprozess der Lehrziele der Lehrenden mit den Lernzielen und Lernergebnissen der Lernenden…“ (11 f). In den die Einleitung abschließenden Erläuterungen „Zum Aufbau des Bandes“ (38 f) unterstreichen Klepacki/Zirfas noch einmal: „Didaktiken … umfassen … im Kern immer den prinzipiellen Zusammenhang einer Lehrer-, Schüler- und Sachorientierung.“ Dabei wollen die Autoren „gegen die oftmals vorherrschende didaktische Lehrerorientierung ganz besonders auf die Schüler eingehen, und gegenüber der derzeit vorherrschenden Tendenz zur formelhaften Beschreibung von Kompetenzen soll das Theater als Lern-, Bildungs-, Unterrichtsprinzip, -medium und -gegenstand ganz besonders in den Blick kommen“ (38).
Kapitel I (40 ff) führt in „didaktische Selbstverständlichkeiten ein, die dann das Fundament für die weitere Konzeption des Theaterunterrichts bilden soll“ (sic!) (38).
In Kapitel II „Pädagogische Bezugshorizonte des Theaterunterrichts“ (48 ff) „soll zunächst immer (sic!) gesagt werden, was unter Erziehung, Entfaltung, Lernen und Bildung verstanden wird“ (50); freilich beginnt das Kapitel entgegen der Ankündigung zunächst mit einem ersten Unterkapitel „Lehren im Theaterunterricht“ (51 ff).
Während die „Überlegungen“ der ersten beiden Kapitel „sehr stark auf die Schülerseite und im Kontext der Darstellungen der Allgemeinen Pädagogik“ des Kapitels II „auch auf die Lehrerseite bezogen“ waren, steht in Kapitel III, dem deutlich längsten Kapitel (79 – 135), „der Gegenstand, nämlich das Theater im Zentrum. … die dritte Seite des Didaktischen Dreiecks“ (79).
„Die These von“ Kapitel IV „Theaterunterricht im Blickwinkel der Allgemeinen Didaktik“ (136 ff) „besteht darin, dass sich wichtige Prinzipien und Bestimmungen für den Theaterunterricht aus den Theorien und Modellen der Allgemeinen Didaktik herausarbeiten lassen“ (38).
Kapitel V behandelt „Pädagogische Perspektiven des Theaterunterrichts“ (166 ff) „unter der Fragestellung, welche Effekte und Leistungen man auch und gerade mit dem Theaterunterricht in Verbindung bringt bzw. bringen kann“ (166).
Das abschließende Kapitel VI „Ein Ausblick: Auf dem Weg zu einer performativen Didaktik“ (181 – 198) präsentiert „einige Überlegungen …, die zu einer allgemeinen performativen Didaktik führen sollen“ (38). Freilich zeigt die genauere Lektüre, dass Klepacki/Zirfas den Aufbau durch vielfache Themenwechsel mehr verwirren als bereichern; häufig ist unklar, was eigentlich behandelt wird.
Das Ziel der Untersuchung, so die beiden Autoren, besteht „zum einen in einer Herausarbeitung und Fruchtbarmachung theatraler Strukturen von Unterricht allgemein und zum anderen in einer ersten didaktischen Fassung des Phänomens Theaterunterricht, die jedoch noch weiterer schulart-, schulstufen- und schulfachspezifischer didaktischer und methodischer Ausarbeitungen bedarf“ (20). Dabei legen die „Überlegungen nahe, aus der Vielfalt didaktischer Einsichten eine eigenständige Theatrale Didaktik zu entwickeln. … Es geht nicht mehr darum, ein hier präsentiertes didaktisches Modell nur pädagogisch umzusetzen, sondern darum, diese theoretischen Überlegungen als Anregung dafür zu benutzten (sic!), eine eigenständige Form Theatraler Didaktik zu bestimmen, zu entwickeln oder zu fokussieren“ (8 f). Die „Überlegungen sollen … zunächst einmal v.a. dazu beitragen, in theoretischer Hinsicht ein systematisches Problembewusstsein für die didaktischen Eigenheiten, Potentiale und Herausforderungen von Theaterunterricht zu generieren.“ Dabei „erscheint es in einer didaktischen Perspektive als unumgänglich, zunächst einmal in einer systematisch ausdifferenzierten, theoretisch-deskriptiven Art und Weise zu bestimmen, was Theater bzw. Theaterspiel als ein schulischer Gegenstand überhaupt ist bzw. sein kann“ (80) – ein Versprechen, das, wie sich zeigen wird, durchaus nicht eingehalten wird.
Inhalt
Zunächst geht es um Bedeutung und Funktion von Didaktik, um Unterschiede zwischen allgemeiner und Fachdidaktik, zwischen Theaterdidaktik und theatraler bzw. performativer Didaktik, um das Verhältnis von Didaktik und Methodik. Dem „uneinheitlich gebrauchten Begriff“ nähern sich Klepacki/Zirfas mit immer neuen Auflistungen. Unter „Didaktik wird durchaus Unterschiedliches verstanden: eine Theorie des Lehrens und Lernens, eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft, eine praktische Pädagogik, ein Curriculum bzw. eine Curriculumtheorie, eine Unterrichtslehre bzw. -methodik oder auch eine Unterrichtspsychologie“ (9) – also acht unterschiedliche Möglichkeiten, Didaktik zu verstehen.
„Wissenschaftliches didaktisches Wissen, um das es hier geht, wird nach unterschiedlichen wissenschaftlichen Verfahren theoretisch, historisch, empirisch, vergleichend oder pragmatisch gewonnen. Das theatrale didaktische Wissen ist ein Reflexions-, Beurteilungs- und Risikowissen, kein Handlungswissen“ (7). Außerdem findet man „heute … eine ganze Reihe von Bindestrich-Didaktiken, die je unterschiedliche Wissenschafts- und Theoriehintergründe haben, wie die bildungstheoretische, die transzendental-kritische, kybernetische, lehr-lern-theoretische, die kritisch-kommunikative, die evolutionäre, die kritisch-kommunikative (sic!), die Bildungsdidaktik und noch einige mehr“ (9) – wiederum acht Möglichkeiten, wobei eine doppelt aufgeführt wird [1].
„Insofern lässt sich Didaktik auch wissenschaftstheoretisch unterschiedlich verstehen: als praktische Berufswissenschaft der Lehrerinnen und Lehrer, als Teildisziplin der Pädagogik und der Schulpädagogik oder auch als Differenzdisziplin zur Pädagogik; als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft mit empirischer, theoretischer, historischer etc. Forschungspraxis, als Integrationstheorie von bedeutsamen Nachbardisziplinen, die sich mit Fragen des Lehrens und Lernens auseinandersetzen“ (10) – noch einmal fünf Möglichkeiten mit zusätzlichen Differenzierungen. Dazu kommt „die unterschiedliche Verwendungsweise“ des Begriffs; er „wird einerseits analytisch-deskriptiv gebraucht … und andererseits findet er eine normativ-präskriptive Verwendung“ (10). Dann die „besonderen Didaktiken … die sich auf verschiedene Fächer …, verschiedene Inhalte bzw. Bereiche …, verschiedene Schulformen … und verschiedene Bildungsstufen … beziehen“; dagegen „konzentrieren sich allgemeine Didaktiken auf alle Lehr- und Lernformen“ (10) - sie konzentrieren sich auf alle? „Denn sie müssen sich im Vergleich zu den Bereichs- oder Fachdidaktiken einer genaueren Beschreibung des Gegenstandes, die (sic!) Klientel oder auch der Methodik enthalten“ (10 f).
Nicht genug damit. Denn man kann die Didaktiken „auch pragmatisch nach Gegenstandsfeldern differenziert ordnen. … 1. als Wissenschaft vom Lehren und Lernen, 2. als Wissenschaft vom Unterricht bzw. als allgemeine Unterrichtstheorie, 3. als Theorie der Bildungsinhalte oder Bildungskategorien, 4. als Theorie der Verbesserung von Lehre oder Lernen und 5. als Anwendungsbereich von für die Pädagogik bedeutsamen Disziplinen, insbesondere der Psychologie in Form der Entwicklungs-, Lern- oder Instruktionspsychologie.
Zudem nimmt die Didaktik verschiedene Ebenen in den Blick und erscheint somit 1. als Theorie der kulturellen, sozialen, anthropologischen Voraussetzungen von Lehr-Lern-Prozessen, 2. als Theorie der Ziele und Werte des Unterrichts, 3. als Konstruktion und Analyse des Lehrplans und 4. als Handlungsmodell der Analyse, Planung, Kontrolle und Reflexion des Unterrichts“ (11) – wiederum vier Möglichkeiten mit jeweils zwei bis vier Untergliederungen.
„Die Funktionen der Didaktik sind, wie schon angedeutet, vielfältig. Bezogen auf den Zusammenhang von Lehr-Lernverhältnisse (sic!) dienen sie: normativ der Begründung und Legitimation, analytisch …“ (es folgen sozial, praktisch, methodisch, hermeneutisch, reflexiv, systematisch, dann noch) „kritisch der Weiterentwicklung in Theorie und Praxis und individuell der pädagogischen Anregung und Phantasie“ (12) – auf wenig mehr als zwei Seiten eine Reihung von zehn Adjektiven („Funktionen“), vier „Ebenen“, fünf „Feldern“, sieben „Bindestrich-Didaktiken“ usw. Aus diesem Durcheinander erlöst eine Erklärung, die zunächst überraschend simpel erscheint, denn: „In Bezug auf das Wort Didaktik lässt sich allerdings eine Klärung des Begriffs anbahnen. Denn der Begriff der Didaktik geht auf das griechische Wort ‚didaskein‘ zurück, ‚(sic! [2]) das sowohl lehren, zeigen und unterrichten wie auch lernen, belehrt und unterrichtet werden und schließlich auch den medialen Zustand des aus sich selbst lernen, sich aneignen, meint. … In diesem Sinne fokussieren didaktische Theorien allgemein formuliert Ausgangsbedingungen, Ziele, Inhalte, Formen, Methoden, Medien und Auswirkungen von Lehr-Lern-Zusammenhängen. Didaktik beschäftigt sich mit Fragen der Planung, Durchführung, Evaluation und Optimierung schulischer wie außerschulischer Lehr-Lernprozesse.
Im Folgenden wird der Begriff Didaktik dementsprechend als übergreifende Bezeichnung für die Theorie- und Modellbildung des Zusammenhangs von intentionalen und reflektierten Lehr-Lern-Prozessen verstanden. Diesen Prozessen liegt als allgemeingültiges Schema das sog. Didaktische Dreieck zugrunde.“ (11 f; die Fortsetzung des Zitats wurde bereits oben unter „Aufbau“ mitgeteilt).
Nun zum „Gegenstand der Vermittlung und Aneignung“ (12), dem Theater in der Schule. Seine gegenwärtige Situation ist problematisch, so Klepacki/Zirfas, weil „es bis zum heutigen Zeitpunkt keine eigene, systematisch aufgebaute Fachwissenschaft im engeren Sinn als explizite Bezugsdisziplin“ (16), „keine eigenständige Fachwissenschaft besitzt“ (20). Unterschiedliche Bezeichnungen sind für die „verschiedenen Gegenstandsebenen: Theaterspiel in der Schule, Theaterunterricht, Theater als Unterrichtsmethode“ in Gebrauch: „Schultheater, Theater (in der Schule), Darstellendes Spiel, Darstellen und Gestalten, Schulspiel, szenisches Lernen usw.“ (24). Zu verzeichnen „ist eine Bedeutungszunahme von Kooperationen zwischen Schulen und Theatern bzw. Künstlern …, die dazu führt, dass vermehrt außerschulische Theaterprofis wie Theater- und Tanzpädagogen, Schauspielern (sic!) oder Regisseuren (sic!) in schulischen Kontexten tätig werden“ (25). „Aktuell“, so die beiden Autoren, konzentrieren sich „die Bemühungen um die professionelle und institutionelle Weiterentwicklung … hauptsächlich auf folgende Bereiche …: die institutionelle Verankerung, (sic! [3]) der systematischen Lehreraus- und Lehrerweiterbildung (z.B. durch eigene Studiengänge), die inhaltlich-konzeptionelle Fundierung und Verfachlichung (z.B. durch Lehrpläne und Schul- bzw. Unterrichtsbücher), die Intensivierung wissenschaftlicher Erforschung der Potentiale ästhetisch-kultureller Bildung sowie der (sic!) Erwerb von Schlüsselkompetenzen durch das Theater in der Schule und die grundsätzliche legitimatorische Stärkung der Künste in der Schule“ (27). -
Dabei geht es um „Theatrales Lernen“ (67) und „Theatrale Bildung“ (73). Klepacki/Zirfas diskutieren „die fünf maßgeblichen pädagogischen Begriffe der Neuzeit – Lehre, Erziehung, Entfaltung, Lernen und Bildung“ (78), erläutern sie begrifflich, inhaltlich und historisch, nutzen sie als „Pädagogische Bezugshorizonte des Theaterunterrichts“ (48). Theatrales Lernen spezifizieren sie als „Wissen-Lernen oder die theatrale Alphabetisierung“ (68), „Können-Lernen oder die theatrale Pragmatik des Schultheaters“ (69), „Leben-Lernen oder theatrale Biographik im Schultheater“ (70), „Lernen-Lernen oder theatrale Methodik“ (72).
Im Zusammenhang mit „Leben-Lernen“ greifen die Autoren zurück auf antike Traditionen und verweisen mit einigem Stolz auf ihr exaktes Seneca-Zitat (das sich freilich auch bei Wikipedia richtig findet) „Non vitae sed scholae discimus“ - verkehren freilich wiederum den Sinn durch den Hinweis, „dass ‚scholae‘ bei Seneca nicht ‚Schule‘, sondern ‚Muße‘ bedeutet“ (71) – ein mehrfacher Unsinn [4].
Die drei (oder vier) theatralen Kompetenzen, Grundformen, Lerndimensionen, Gegenstandsformen, Ebenen werden mehrfach wieder aufgegriffen. „Die Kunstform Theater beinhaltet Wissensformen, Könnensformen und Wahrnehmungsformen. Somit wäre es also möglich, in einer ersten, tentativen inhaltlichen Annäherung von einer theoretischen Problemebene, von einer performativen Problemebene und von einer sinnlichen oder aisthetischen Problemebene zu sprechen“ (83); demnach „lassen sich drei theatrale Gegenstandformen (sic!) bestimmen: eine theoretisch-(historisch-)wissenschaftliche, eine ästhetisch-rezeptive bzw. darauf aufbauend eine ästhetisch-analytische und eine ästhetisch-produktive Form“ (86). „Drei strukturell je eigenständige Grundarten eines Theaterunterrichts ließen sich also hiermit offensichtlich unterscheiden: ein theoretischer, d.h. vermittelte Aneignung von Theaterwissen, ein rezeptiver, d.h. vermittelte Aneignung von theatral-ästhetischen Wahrnehmungsweisen und ein praktischer, d.h. vermittelte Aneignung einer theatral-ästhetischen Handlungsfähigkeit, Theaterunterricht“ (88). „Wenn Theater erstens als theoretisch-systematisch und historisch zu behandelnde Kunstform, zweitens als ästhetisch und analytisch zu rezipierende Kunstform und drittens als ästhetisch-produktiv zu erhandelnde bzw. zu erspielende Kunstform unterrichtlich behandelt werden kann, dann ändert sich von Fall zu Fall nicht nur der Gegenstand Theater – auch wenn bis jetzt noch nicht geklärt ist, ob es den Gegenstand Theater überhaupt gibt – sondern zudem die Art und Weise seiner Aufarbeitung …“ (90).
Noch einmal ausführlicher werden die drei „theatralen Lerndimensionen“ im Kapitel III.5 dargestellt unter der Überschrift „Ebenen theatraler Entfaltungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten“ (111 ff): „eigentlich wäre es präziser zu sagen, … dass sich drei bzw. vier gegenstandsbezogene Lernfelder eröffnen lassen, nämlich zunächst Lernen über Theater, Lernen für bzw. zum Theater und Lernen im Theater. Das Lernen durch Theater“ weist „über den eigentlichen Gegenstand“ hinaus, weil hier das Theater „zu einer Art Vermittler für etwas anderes wird“ (111). „Der Inhalt der zu initiierenden praktischen theatralen Lernprozesse ist somit stets als ein grundsätzlich zweifacher anzusehen: Einerseits geht es um den theatralen Inhalt in einem weiten performativen Sinn, d.h. um das Theaterspiel in Form von Übungen, Improvisationen usw. …; und zweitens steht der Inhalt des theatralen Spiels, also der Inhalt einer Übung oder der dramaturgische Inhalt, das ‚Stück‘ im Mittelpunkt“ (115). Denn: „Dadurch, dass es Theaterspiel nicht an sich, sondern nur in einer inhaltlichen Konkretion geben kann, ist die Frage danach, anhand welcher Spielinhalte sich die Schüler theatral bilden, durchaus notwendigerweise zu stellen“ (118) – ein wichtiger Hinweis; allerdings verblüfft der seltsame Gebrauch des Begriffs ‚Dramaturgie‘. [5]
Schließlich lassen sich die von Klepacki/Zirfas genannten Lerndimensionen auch in den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer finden: es geht „immer um theatrales Wissen, theatrales Können, theatrale Sozialität und theatrale Methoden … Diese kompetenzbezogenen Lehrplanhinweise sind in hohem Maße kompatibel mit dem oben [6] vorgeschlagenen vierdimensionalen Modell des Lernens“ (170). Klepacki/Zirfas fassen das Modell noch einmal in einer Tabelle zusammen: „Theater verstehen … (Wissen-Lernen) Theater gestalten … (Können-Lernen) Theater reflektieren … (Lernen-Lernen) an Theater teilhaben … (Leben-Lernen)“ (170).
Ergänzend betrachtet wird der „Theaterunterricht im Blickwinkel der Allgemeinen Didaktik“ (Kapitel IV, 136 ff). Dort heißt es: „Kurz: Die Betrachtung der Theatralen Didaktik im Lichte Allgemeiner Didaktiken stellt für die Theaterlehrer ein konzeptuelles, heuristisches, problematisierendes und perspektivisches Wissen zu (sic!) Verfügung“. Sieben allgemeine Didaktiken werden geschickt, auch tabellarisch, zusammengefasst; Klepacki/Zirfas gehen insbesondere auf die bildungstheoretische Didaktik (Klafki [7], 138 ff) sowie die lehr- und lerntheoretische Didaktik (Heimann, Otto, Schulz, 144 ff) ein.
Durchweg störend in den komplizierten, mit Substantiven beladenen Sätzen: Theater ist nur als Begriff präsent, „der Anschauung entgegengesetzt“ (Kant, Logik I,1,§ 1). Theater ist jedoch weder als Raum abstrakt zu denken (Klassenraum, Spielpodest, Schulaula oder Mensa, Haustheater in wechselnden Räumen, Freilichttheater, die große Bühne des Stadttheaters …) noch als Ereignis: eine improvisierte Szene in der eigenen Schulklasse, Schulaufführung, lokale, regionale bis internationale Theatertreffen (d.h. Begegnung mit anderen Gruppen, Diskussionen, Workshops, Ortswechsel, auch Wettbewerb, Konkurrenz, „Sieger“ …). Auch die Realität der unterschiedlichen Formen wird im Allgemeinbegriff ‚aufgehoben‘; es gibt keine weiteren Informationen zu Tanz in der Schule (Tanztheater, Tanzpädagogik), nichts zu Kinderzirkus, Zirkuswerkstätten, Zirkuspädagogik …
Diskussion
Mit Recht weisen Klepacki/Zirfas mehrfach auf die Offenheit der Theaterarbeit hin [8]. Wenn schon der ‚normale‘ Unterricht charakterisiert ist durch „das kaum standardisierbare Lehren, das immer mit situativen Fallspezifiken konfrontiert ist und das insofern immer Probehandeln bleibt“ (51 f), dann gilt das für Theater umso mehr. „Viele Leistungen in der Auseinandersetzung mit dem Theater sind zunächst einmal weder vorhersehbar noch planbar“ (45), weil „das Theater einen Raum an Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, der auf Entscheidungen angewiesen ist. Insofern generiert sich das Theater aus Zufällen und Einfällen“ (126). Also „produziert der Darsteller als Darstellender … ‚nur‘ konsequenzverminderte Möglichkeitsformen von artifiziellen Wirklichkeiten. Dies schließt nicht aus, dass das Theaterspielen für den Darsteller nicht enorm bedeutsam ist und insofern auch, lebenspraktisch betrachtet, konsequenzsteigernd erfahren werden kann“ (127) [9]. „Das Theater ermöglicht dem Darsteller freie Variation und zwingt ihn gleichzeitig zu einem produktiven Umgang mit dem Ungewissen, dem Vorläufigen und dem Unfertigen. Eine ständige Selbstverortungs- und Selbstvergewisserungsnötigung der Akteure ist die Folge … Man kann daher also völlig zu Recht behaupten, dass das eigentliche pädagogische Potential des Theaters in der Möglichkeit der subjektiven, performativ-ästhetischen Aneignung einer Kontingenzformungskompetenz liegt“ (127). „Die Prinzipien des Anfangs, der Suche, der Variation, des Umkreisens des nicht Fixierbaren und die Offenheit des Gestaltungsprozesses sind es, die das Theater zu einer Kunstform der Probe (vergl. Matzke 2012) machen, die von sich aus pädagogisch wirksam ist“ (127 f). Überdies ist „der Prozess der theatralen Darstellung unausweichlich mit Krisen verbunden … stößt immer wieder an Grenzen, die wieder und wieder neue Fragen aufwerfen …“ (128). „Anders formuliert erscheint das Theater als Spielfeld anthropologischer Bestimmungs- und Handlungsmöglichkeiten, auf dem neue Varianten von Subjektivität, … andere Perspektiven auf Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten menschlicher Existenz, oder kurz: Menschenbilder ausprobiert und aufs Spiel gesetzt werden“ (129) – die Offenheit also „eines komplexen (ästhetisch-performativen) anthropologischen Handlungsphänomens …, das als solches keinen monadischen bzw. archimedischen ‚Nullpunkt‘ besitzt, von dem ausgehend kausal zusammenhängende Arbeitsschritte formuliert werden können“ (131) [10]. „Anders ausgedrückt scheint es in diesem Kontext für Theaterlehrer grundsätzlich bedeutsam zu sein,“ sich „auf unvorhersehbar Spontanes in den Darstellungen der Schüler und damit auf die Veränderbarkeit eigener theatraler Vorstellungen einlassen zu können. Insofern ist auch die Position des Theaterlehrers grundsätzlich einem ästhetischen Befremdungspotential ausgesetzt, welches nachlegt (sic!, wohl: nahelegt), dass auch Lehrende selbst als Lernende zu begreifen sind“ (122 f). Eigentlich, so würde ich denken, gehört zur Offenheit theatraler Arbeit auch die Offenheit von Ziel und Ergebnis. Klepacki/Zirfas sind hier zögerlicher. „Ob man“, schreiben sie (fraglich, wer mit diesem ‚man‘ gemeint ist), „ob man Theaterunterricht in Schulen ein- und durchführt, weil man sog. Schlüsselqualifikationen vermitteln, soziale oder kulturelle Defizite bzw. Benachteiligungen ausgleichen, ein bestehendes schulisches Fächerangebot systematisch erweitern, theatrale Darstellungs- und Kommunikationsfähigkeiten ausbilden oder das Interesse der Schüler an der Kunst des Theaters fördern möchte, wird letztlich schul- und bildungspolitisch entschieden“ (106) – wird aber, denke ich, zunächst und konkret von Schülern und ihrem Lehrer, ihrer Lehrerin bestimmt; schließlich kann ‚man‘ erst einmal machen, was man und die Schüler wollen.
In diesem Zusammenhang werden die ‚theatralen‘ Vorerfahrungen (und Interessen!) der Schüler wichtig. Diese Vorerfahrungen werden von Klepacki/Zirfas zunächst negiert, dann vage formuliert und kaum konkretisiert. „Geht man davon aus, dass Schüler das kulturelle Phänomen Theater im Sinne einer Kunstform erst lernen müssen, so können sie bei einer angenommenen rezeptiven Erstbegegnung mit dem Theater die Aufführungssituation selbst und das in ihr sich ereignende performativ-ästhetische Geschehen nicht komplett erfassen“ (100 - wer kann das schon, möchte man fragen) [11]. Einige Zeilen später heißt es: „Eine Theateraufführung kann nicht ganz in den Blick genommen werden, all ihre Aspekte können nicht von einer Person wahrgenommen werden“ (100 – das gilt, möchte ich meinen, auch für Alltags- und Realsituationen; es gilt nicht nur für Schüler!). Später wird im Zusammenhang mit Klafki die „Analyse der konkreten, soziokulturell vermittelten Ausgangsbedingungen einer Lerngruppe“ (141) benannt; die lehr- und lerntheoretische Didaktik bedenkt in ihren Bedingungsfeldern „neben den anthropogenen Voraussetzungen, den Individuallagen, der Schul- und Klassensituation, auch die soziokulturellen Voraussetzungen“ mit; trotzdem fehlt die Diskussion außerschulischer Einflüsse bei Klepacki/Zirfas so gut wie ganz (also nichts zu Figurentheater, Film und Fernsehen, nichts zu Handy und Playmobil, kein Wort zum Theater für die Allerkleinsten, zu Spiel und Theater im Kindergarten, zum Rollenspiel und zum spontanen Theater von Kindern [12], nichts zu individuellem oder familiärem Zugang). „Denn erst eine Theaterdidaktik ermöglicht weitergehende, bildend wirksame Auseinandersetzungen der Schülerinnen und Schüler mit dem Theater“ (135).
Einen besonderen Akzent legen Klepacki/Zirfas auf die Körperlichkeit von Schule und Theater, also auch auf die „Leib- und Körperbildung“ (76) in der theatralen Bildung. Dabei geht es „auch um Aspekte des leiblichen Genießens, um die Lust am theatralen Wahrnehmen und am experimentellen Spiel mit Sinnlichkeit sowie um das Sich-Einlassen auf artifizielle Atmosphären und Situationen“ (89); Schülern soll ermöglicht werden, „sich die komplexe Struktur der Theaterrezeption im Sinne eines äisthetisch-ästhetischen Prozesses umfassend anzueignen“ (96). Allerdings: „Sinnliche und ästhetische Prozesse sind konstitutiv reflexiver Natur, d.h. diese Prozesse vollziehen sich … ausschließlich auf einer subjektiven Ebene“ (97); sie sind (nach Mollenhauer 1996, 15) „keinem evaluierbaren Lernzielbegriff“ (97) unterzuordnen; es kommt „darauf an, … sich auf das Spiel der Erscheinungen und ihrer Interpretationsmöglichkeiten mit seinen Empfindungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen einzulassen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fragen des kontemplativen Sich-Versenkens, des Sich-Erfreuens und Genießens oder auch der Ablehnung und des Ekels vor theatralen Objektivationen“, steht „die Frage nach dem sinnlichen und imaginativen Sich-Einlassen auf einen Gegenstand, das mit einem emotionalen, rationalen und imaginativen Spiel der Veränderung und Fremdheit verbunden ist“ (98). „Nur im Theaterunterricht … werden die Schülerinnen und Schüler … in einer eindringlichen Weise mit Erfahrungen der Fremdheit des Sinnlichen und Körperlichen konfrontiert“ (114).
Häufig und vielfach variiert wird, zum Teil in Anlehnung an Günther Bittner (1990), die Bezeichnung ‚Leib‘ gebraucht: „Nur im Theaterunterricht kann … eine intensive, differenzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit und Leiblichkeit erfolgen“ (114). „Die physischen Handlungen kann nur die Darsteller-Person selbst vollziehen“ (125). Dabei beginnt sie „unweigerlich, sich gedoppelt wahrzunehmen. Als Körper, der die physischen Bewegungen trägt, und als artifizieller Leib, der die theatralen Bedeutungen hervorbringt“ (125) – „im kognitiven Erkennen und leiblich-sinnlichen Erfahren dessen, was Theater als Kunstform bedeutet“ (129). Formelhaft zusammengefasst: „Theatrale Bildung ist … vor allem leibliche Bildung“ (174). „Im Schultheater geht es also zentral um Leibes- und Fiktionsübungen, um die Erfahrung von leiblicher Fiktionalität und fiktiver Leiblichkeit“ (175). „Verstehen des eigenen und des anderen bedeutet hier nicht rationale Durchdringung oder Akzeptieren von fremden Geltungsargumenten, sondern mit leiblichen Emotionen, räumlichen Atmosphären, ästhetischen Wahrnehmungen und szenischen Ereignissen verknüpftes körperliches Verstehen“ (175).
Ich habe den Eindruck, als suchten Klepacki/Zirfas noch nach einem stärkeren Ausdruck, um die Eindringlichkeit ihres Plädoyers für Körperlichkeit zu steigern, als seien sie mit den Adjektiven körperlich, sinnlich, leiblich, physisch, aisthetisch und deren wechselnden Kombinationen noch nicht zufrieden. Ein erster Versuch ist eher komisch missglückt: „Nicht zuletzt heißt öffentliche Aufführung auch, dass sich die Schüler im Schultheater buchstäblich auf eine Bühne begeben müssen“ (180) – fraglich, wie die armen Schüler „buchstäblich“ auf die Bühne kommen (‚leibhaftig‘ hätte schon gereicht!). Beim zweiten Versuch wird „der Spielprozess als ein spezieller Modus unmittelbarer physikalischer Bewegung erachtet, der durch das Zusammenwirken von Präsentativität, Verweishaftigkeit und Grenzbewegungen gekennzeichnet ist“ (179) – „physikalisch“ in diesem Zusammenhang ist schlichtweg absurd, behandelt die Physik doch Gesetzmäßigkeiten der unbelebten Materie. [13]
Das letzte Kapitel hat noch einmal einen besonderen Charakter. Klepacki/Zirfas widmen es einem „Ausblick: Auf dem Weg zu einer performativen Didaktik“ (181); es könne „nunmehr konstatiert werden, dass sich Unterricht als spezifische soziale Situation überhaupt erst in den körperlichen Handlungen der Beteiligten manifestiert“ (181). Nun hatten die Autoren schon in der Einleitung die „Differenz zwischen Dramendidaktik, Theaterdidaktik und theatraler bzw. performativer Didaktik“ (20) behandelt [14] und dabei angekündigt, dass eine performative oder theatrale Didaktik „Unterricht allgemein aus einem theatralen Blickwinkel … unter den Gesichtspunkten des körperlichen Vollzugs unterrichtlicher Handlungen, des materiellen Verkörperns unterrichtlich zu transportierender Bedeutungen sowie des inszenatorischen Charakters von Unterricht als eine (sic! [15]) spezifisch gerahmten sozialen Situation betrachtet“ (22). Eine solche „allgemeine Betrachtung von Unterricht aus einer performativen Perspektive“, so wurde angekündigt, könne „Aspekte“ aufgreifen, „die auch für die didaktische Fassung von Theaterunterricht zentral erscheinen, nämlich Leiblichkeit, Handlungsvollzug, Inszenierung, Darstellung, Emergenz, Mimesis etc.“ (23). Dabei werde „Theatralität bzw. Performativität als ein analytisches Betrachtungsprinzip von Unterricht herangezogen“ (23); so könne die Theatrale Didaktik also einerseits herausarbeiten, „was unter Theaterunterricht überhaupt verstanden werden kann; andererseits kann sie in allgemeiner Hinsicht verdeutlichen, dass und wie theatrale Strukturen, Dimensionen und Phänomene zur Beschreibung von Unterricht generell fruchtbar gemacht werden können“ (28). Auch in den anderen Kapiteln nehmen Klepacki/Zirfas immer wieder Bezug auf diese allgemeine „performative Didaktik“; allerdings sorgt die Parallelführung mit einer Fachdidaktik Theater häufig für Verwirrung – übrigens auch bei den Autoren –, die auch durch das eher nur wiederholende letzte Kapitel nicht beseitigt wird. Ich versuche eine Klärung in drei Schritten.
Zunächst: Schultheater formt Haltungen, bereitet öffentliches Auftreten vor. So sagte schon Luther in seinen Tischreden [16]: „Comödien zu spielen soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen, erstlich dass sie sich üben in der lateinischen Sprache, zum andern, daß … dadurch die Leute unterrichtet und ein Iglicher seines Amts und Standes erinnert und vermahnet werden …; ja, es wird darinnen fürgehalten und für die Augen gestellt aller Dignitäten Grad, Aemter und Gebühre, wie sich ein Iglicher in seinem Stande halten soll im äußerlichen Wandel, wie in einem Spiegel“. Schon bei Luther also, wie man sich „in seinem Stande halten soll“! Noch deutlicher wird das z.B. bei dem protestantischen Schulmeister Christian Weise, Rektor und Leiter der Schulbühne des Zittauer Gymnasiums; in der Widmung an seine „Patronen“ zum „Trauer-Spiel von dem neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello“ [17], uraufgeführt 1682, schreibt er: „Über dieß wie könte ich einen zukünfftigen Cavallier von meiner Hand wegziehen lassen / wenn er zwar das Gemüthe mit Lateinischen Gedancken / hingegen die Zunge mit keiner anständigen Beredsamkeit / viel weniger das Gesichte und den Leib zu keiner Leutseligen Mine disponirt hätte?“ Deutlich wird hier nicht nur die öffentliche „Beredsamkeit“ der antiken Rhetorik mit der actio als bedeutendem Mittel; greifbar wird auch die pädagogische Formung von „Gesichte“ und „Leib“, sodass „die Adeliche Jugend zu einer geziemenden hardiesse aufgemuntert“ wird. „Ja weil das Menschliche Leben an sich selbst einer immerwährenden Comödie vergliechen wird / so kann ich nicht besser thun / als wenn ich die Partheyen bey guter Zeit abzuschreiben gebe / welche sie anitzo in kurtzweil versuchen / bald aber im Ernste vor die Hand nehmen sollen.“
Dann: Theater lässt sich mit Schule vergleichen, kann als Analysemodell für Schule dienen. Auch das keine Neuigkeit. Johann Georg Hamann (1730-1788), bezeichnet in „Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend“ (1763) die „dramatische Kunst als ein außerordentlich bequemes und vortheilhaftes Werkzeug, vornämlich der öffentlichen Erziehung“; er spricht vom Schulmeister, „dessen ganzes Amt mit einem Schauspiele von fünf Aufzügen die meiste Ähnlichkeit hat“ (3. Brief). Schon Gottfried Hausmann (er wird bei Klepacki/Zirfas wenigstens in Klammern genannt [18]) hatte Hamann zitiert, dessen Anmerkung in seiner einflussreichen „Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts“ ausgeführt.
Schließlich Unterricht als körperlicher Vorgang; er wird von Klepacki/Zirfas noch einmal ausführlich in einer Reihe von Unterkapiteln dargestellt: „Unterricht als performatives Handlungssystem“ (190); „Vermittlung und Aneignung als performative, kulturell-soziale Handlungsprozesse“ (191); „Die Bedeutung des inszenatorischen Rahmens für unterrichtliche Vermittlungs- und Aneignungsprozesse“ (193); „Die Relevanz des Performativen für die Tätigkeit des Lehrers“ (196). „Bezieht man nun abschließend diese Erkenntnisse noch einmal auf die Frage nach den unterrichtlichen Anforderungen an den Lehrer, dann zeigt sich sehr deutlich, dass die Fähigkeit zum Unterrichten eine komplexe ist“ (196). Ein erstaunlich mageres, ungeschickt formuliertes ‚Ergebnis‘ einer immerhin fast 200 Seiten starken Untersuchung. Sehr schnell nachgeschoben von den Autoren wird, zusammen mit einem Hinweis auf Herbart, die salvatorische Klausel „Diese Erkenntnis ist nun wiederum keinesfalls neu“ (197). [19] Schluss-Satz des Buches:„Denn nicht nur die Welt, auch die Schule und der Unterricht sind performative Bühnen, auf denen man seinen Körper ins Spiel bringt“ (198). Womit wir immerhin bei Shakespeare angekommen sind: All the world‘s a stage.
Fazit
Ein ärgerliches, ein unnützes Buch - es sieht so aus, als ob die Autoren selbst ihren Text nicht mögen, so nachlässig gehen sie mit ihm um. Weder die Theaterdidaktik im engeren Sinne noch die angekündigte Performative Didaktik gewinnen Kontur; sie verbleiben im Allgemeinen, Ungefähren oder verlieren sich in der Beliebigkeit langer Substantivreihungen. Weil es kein Glossar gibt, können viele Begriffe undeutlich bleiben. Argumente werden nicht entwickelt, schon gar nicht differenziert diskutiert, sondern durch Flickwörter ersetzt (insofern, grundlegend/grundsätzlich, im Kern); die konkrete Realität des gegenwärtigen Theaters in der Schule kommt kaum zur Sprache.
[1] Nicht gerade selten geschieht es den Autoren, dass sie am Ende eines Satzes nicht mehr wissen, wie sie in den Satz hineingekommen sind bzw. was sie im Verlauf des Satzes alles mitgeteilt haben.
[2] Hier wird von den Autoren ein Zitat angekündigt; das Ende des Zitats ist nicht markiert; es gibt auch keine Quellenangabe. Hinzugefügt werden sollte, dass ‚didaskein‘ auch ‚ein Drama zur Aufführung bringen‘ heißt.
[3] Das Komma müsste gestrichen oder das nachfolgende „der systematischen“ durch „die systematische“ ersetzt werden.
[4] 1. ist ‚scholae‘ entweder Genitiv oder Dativ Singular oder Nominativ Plural; der Nominativ Singular heißt ‚schola‘. 2. Das lateinische „schola“ bedeutet ‚Schule‘ und NICHT ‚Muße‘. 3. Klepacki/Zirfas verwechseln das lateinische ‚schola‘ (bzw. scholae, wie sie fälschlich schreiben) mit dem griechischen ‚schole‘, dem Freisein von Staatsgeschäften und Arbeiten im Haus, bei Platon Bedingung für die ‚theoria‘, bei Aristoteles die höherwertige Lebensform der ‚Muße‘; das entsprechende lateinische Wort ist ‚otium‘. 4. Schaut man genauer in den Seneca-Text hinein, wird klar, was er mit ‚vita‘ und mit ‚schola‘ bezeichnen will: Weisheit, Tugend (vita) vs. überflüssige Subtilitäten, Gelehrsamkeit, Wissenschaft (schola). Ich zitiere: „Wir verwenden viel Scharfsinn auf ganz unnötige Dinge: das macht nicht tugendhaft, sondern höchstens gelehrt. (In supervacuis subtilitas teritur: non faciunt bonos ista sed doctos). … Die Weisheit ist etwas viel Klareres und Einfacheres. Zu tugendhafter Gesinnung braucht man nicht viel Wissenschaft. … man lernt nur für die Schule, nicht für das Leben. Lebe wohl! (Apertior res est sapere, immo simplicior: paucis [satis] est ad mentem bonam uti litteris, … non vitae sed scholae discimus. Vale!)“ (Seneca: Ad Lucilium epistolae morales, 106, 11 f).
[5] Ähnlich der Wortgebrauch auf S. 101 („Einerseits der theatrale Inhalt, d.h. das Theaterspiel in seinen elementaren Bausteinen, sowie der Inhalt des theatralen Spiels, also der dramaturgische Inhalt als Gegenstand des Spiels“) und auf S. 132 f; dort geht es um die „Differenzierung des Praxisunterrichts in zwei verschiedene inhaltliche Ebenen, nämlich die des Theaterspiels in einem weiten methodischen Sinn und die des konkreten (dramaturgischen) Spielinhalts“ (133). Vielleicht darf ich zum Gebrauch des Begriffs ‚Dramaturgie‘ auf Schwab/Weber (Theaterlexikon. Kompaktwissen für Schüler und junge Erwachsene, 1991, S. 94) verweisen: „Dramaturgie … die äußere Bauform und innere Struktur eines Dramas“. Also nichts da von Inhalt.
[6] Diese ungenauen Hinweise gibt es mehrfach; manchmal sind sie auch falsch. So heißt es S. 109 „(s. o.)“, es müsste aber heißen ‚siehe hinten‘ oder ‚siehe unten‘, nämlich auf S. 138.
[7] Klafki wird zweimal ausführlich zitiert (109 f, 130 f); es handelt sich in beiden Fällen um dasselbe Zitat – jedoch mit einigen Unterschieden. Klepacki/Zirfas geben zwar verschiedene Erscheinungsjahre an, gehen auf die Unterschiede jedoch nicht ein.
[8] Wie attraktiv diese Offenheit für Lehrer ist, lässt sich gut nachlesen in der Dissertation von Antonios Lenakakis: Paedagogus Ludens. Erweiterte Handlungskompetenz von Lehrer(inne)n durch Spiel- und Theaterpädagogik, 2004
[9] Wieder so ein verquirlter Satz. Wieso „nicht“ bedeutsam? Und was soll man sich unter „konsequenzsteigernd“ vorstellen? Und welche Konsequenzen werden da gesteigert?
[10] Hier liegt wieder eine peinliche Verwechslung vor. Bei Archimedes, dem Mechaniker und Mathematiker aus Syrakus (287 – 212), geht es nicht um einen „Nullpunkt“, sondern um einen Hebelpunkt, einen festen Punkt außerhalb der Erde. ‚Gebt mir einen Platz, wo ich stehen kann, und ich werde die Erde bewegen‘, soll er gesagt haben. Geradezu abstrus die Konstruktion eines „monadischen“ Nullpunkts (gr. monas, allein, einzeln, Einheit; bei den Pythagoräern auch Feuer) – und völlig unerfindlich, was der mathematische Begriff der Monade bei Euklid, die philosophischen Vorstellungen von Giordano Bruno oder Leibniz mit einem Nullpunkt zu tun haben sollen, den das Theater nicht „besitzt“.
[11] Zu ‚Erstbegegnung‘: „Wichtig erscheint hier, dezidiert vom Schüler und seinen Wahrnehmungsfähigkeiten und seinen bisherigen Erfahrungen bezüglich des Theatersehens auszugehen“ (100). Und: „Aufgrund von Vorerfahrungen (oder aber z.B. auch aufgrund medialer Prägungen) besitzen Schüler teilweise vorgefertigte Meinungen darüber, wie Theater ästhetisch oder methodisch zu sein hat. Insbesondere starr konventionalistische oder stark traditionalistische Vorstellungen von Theater müssen im Unterricht behandelbar gemacht werden …“ (121); es „heißt eben gerade nicht, dass die Schüler keine Vorerfahrungen mit Theater bzw. keine Vorstellungen über Theater – was es ist, was es sein kann und was es zu sein hat – hätten“ (159).
[12] Nachzulesen z.B. bei K. Wenzel: Arena des Anderen. Zur Philosophie des Kindertheaters, 2006
[13] „Auf eine ‚Normalform‘ von Theater bezogen“, so geht das Zitat weiter, „würde das heißen: Der Prozess der theatralen Produktion und der Prozess der theatralen Rezeption können nur unter der Vorbedingung der zeitlichen und örtlichen Synchronisierung der physikalischen Anwesenheit von Darstellern und Publikum in Kombination mit einer Synchronisation des unmittelbaren wahrnehmbaren äußeren Verhaltens bzw. des inneren Bewusstseins in die Konstitution einer Aufführungssituation münden“ (179). Schon auf S. 105 hieß es ähnlich kryptisch: „Zwar ist auch die theatrale Rezeption nicht von den wahrnehmenden Subjekten zu trennen …; jedoch kommt erst in den performativen Handlungsvollzügen die theatrale Doppelung der subjektiven Seinsweise in eine ästhetisch-leibliche und eine physikalisch-körperliche zum Tragen, die eine strukturelle Komplexität des reflexiven Ich-Selbst-Weltverhältnisses nach sich zieht.“ Halten zu Gnaden: ‚physikalisch‘ ist kein Komparativ von physisch sondern schlicht das, was Physiker machen, also Experiment und (mathematisch kodifizierte und minimalinterpretierte) Theorie. Zuschauer und Darsteller sind im Theater als physikalische Größen (als Materie) nur für Statiker und Bauingenieure interessant, wenn es um die Tragfähigkeit von Balkonen oder des Bühnenbodens, u.U. auch um Frischluftzufuhr, Fluchtwege u.ä. geht - also um Poppers Welt 1, die Welt der Dinge, der physikalischen Objekte.
[14] Dabei gilt die Aussage der Autoren, dass die Dramendidaktik „sehr deutlich eine Rückbindung und eine explizite Bezugnahme auf Aspekte der Deutsch- bzw. der Literaturdidaktik“ (21) aufweist, vor allem für Deutschland, nicht z.B. für Ungarn, England, die Türkei. Das englische ‚drama in education‘ hat noch den klaren Bezug auf altgriechisch ‚dran‘ (tun, handeln, vollbringen) und ‚drama‘ (Tat, Handlung, Schauspiel), zielt auf ‚doing‘, nicht auf ‚reading and writing‘: „drama a Greek word, meaning a dead or act. Peter Slade interprets ‚drama‘ as ‚doing‘“ – so Hilton Francis in seinem „Vocabulary of Educational Drama, a glossary of terms having special usage and significance“, 1973. Von englischer Praxis geprägt ist auch Manfred Schewe in seiner einflussreichen Publikation „Fremdsprache inszenieren. Zur Fundierung einer dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis“, 1993; DAF (Deutsch als Fremdsprache) hat diese Terminologie weithin übernommen (vergl. etwa Susanne Even: Drama Grammatik. Dramapädagogische Ansätze für den Grammatikunterricht Deutsch als Fremdsprache, 2003). Zur weiteren terminologischen Verwirrung trägt eine Wiener Sonderentwicklung bei. Der Wiener Landesverband ATHEATERWIEN bietet u.a. eine „Ergänzende Fortbildung im Bereich Dramapädagogik als ganzheitliche Unterrichtsform für alle Schularten“ an.
[15] Entweder ‚eine spezifisch gerahmte soziale Situation‘ oder ‚einer … Situation‘.
[16] Kindermann, Heinz: Theatergeschichte Europas, II. Band, Theater der Renaissance, 1959, 303
[17] Christian Weise: Masaniello, hg. und mit einem Nachwort von Fritz Martini, Reclam 1972 (Druckausgabe Zittau 1683).
[18] „Das Anregungspotential einer Theatralen Didaktik … liegt letztlich insbesondere auch darin, dass sie explizit auf die konstitutive Bedeutung von Theatralität und Performativität in Lehr-Lernsituationen hinweist (vergl. Hausmann 1959)“ (183). Hausmanns Ansatz wurde vielfach weiter geführt; ich erinnere nur an Heribert Heinrichs: Brennpunkte neuzeitlicher Didaktik; Heinrichs behandelt als dritten und letzten Brennpunkt das Dramaturgische.
[19] Neu ist auch die Konsequenz nicht, die Klepacki/Zirfas formulieren: „Die Lehrerausbildung müsste deshalb auch die Möglichkeit einer Reflexion von sinnlicher Wahrnehmung und körperlicher Handlung bieten“ (196). Schon einige Seiten vorher hieß es: „In logischer Konsequenz müsste deshalb auch die Lehrerbildung einen stärkeren Fokus auf die performativ-theatrale Ebene des Unterrichts entwickeln“ (182). Auch hier kein Bezug auf die gegenwärtige Situation; Realität wird ausgeblendet. Dazu nur wenige Beispiele: An der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien gibt es das Fach „Präsentation und Kommunikation (PUK)“, an der Pädagogischen Hochschule Zürich ist das Modul „Auftrittskompetenz“ verpflichtend für Erstsemester im Lehrerstudium. Vergl. auch Thomas Erne (Überlegungen zur Aufführungspraxis des Evangeliums, In: Jutta Helmke/Klaus Hoffmann (Hg): Begegnungen zwischen Kirche und Theater. Impulse, Dialoge und Projekte, 2011): „Pfarrer sind Textleser“ (32); sie sollten sich klar machen, dass sie den „Beruf eines Religionsdarstellers“ ausüben, dass sie für die „Aufführungspraxis des Evangeliums“, die „Darstellungspraxis der Religion“ zuständig sind, dass also „jemand, der Pfarrer werden will, auch ein Künstler werden sollte“ (33).
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
Mailformular
Es gibt 60 Rezensionen von Hans Wolfgang Nickel.
Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 10.02.2014 zu:
Leopold Klepacki, Jörg Zirfas: Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
ISBN 978-3-7799-1271-2.
Reihe: Beiträge zur pädagogischen Grundlagenforschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15203.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.