Sabine Hering (Hrsg.): Was ist Soziale Arbeit?
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 22.01.2014

Sabine Hering (Hrsg.): Was ist Soziale Arbeit? Traditionen - Widersprüche - Wirkungen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2013. 252 Seiten. ISBN 978-3-8474-0082-0. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 38,90 sFr.
Thema
Wer verstehen will, was Soziale Arbeit ist, muss den historischen Prozess begreifen, aus dem sie hervorgegangen ist. Es zeigt sich dann, dass von Anfang an ein Riss durch die Soziale Arbeit ging, der zur Herausbildung ganz unterschiedlicher Professionsverständnisse führte. Diesen widersprüchlichen Traditionen, Wirkungsweisen und Selbstverständnissen widmet sich der von Sabine Hering herausgegebene Sammelband.
Herausgeberin
Kaum jemand hat sich der Anamnese der Genese Sozialer Arbeit so intensiv gewidmet wie Sabine Hering. Ihre Bücher zur Geschichte Sozialer Arbeit gehören schon heute zu den Standardwerken, an denen kein Sozialarbeitsstudierender vorbeikommt. Bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2012 war sie als Professorin für Sozialpädagogik, Gender und Wohlfahrtsgeschichte an der Universität Siegen tätig.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in vier Kapitel, die jeweils von der Herausgeberin eingeleitet werden.
- Die Beiträge des ersten Kapitels – C. W Müller, M. Kappeler, R. Münchmeier und S. Hering – behandeln die gesellschaftsgeschichtliche Genese moderner Sozialer Arbeit.
- Im zweiten Kapitel mit Beiträgen von P. Hammerschmidt / G. Stecklina, R. Bauer und L. Wagner wird die organisationsgeschichtliche Entwicklung beleuchtet.
- Die Ebene der Akteure und insbesondere das Verhältnis von Professionellen und Ehrenamtlichen behandelt das dritte Kapitel, das Beiträge von Ch. Paulini und A. Engel umfasst.
- Das vierte Kapitel, das den theoretischen Grundlagen Sozialer Arbeit gewidmet ist, enthält Beiträge von E. Kruse, B. Dollinger, K. Eilers, C. Frey, S. Staub-Bernasconi, I. Miethe und R. Huisinga.
Inhalt
Am Anfang standen die sozialen Verwerfungen – massenhafte Verelendung, Armut und Schutzlosigkeit der Lohnarbeitenden – im Zuge der kapitalistischen Industrialisierung im 19. Jahrhundert. C. W. Müller zeigt in seinem Beitrag, dass moderne Soziale Arbeit in Reaktion auf die daraus resultierende „soziale Frage“ entstand. So unterschiedlich die politischen Interessen, so unterschiedlich waren auch die Antworten. In Deutschland fanden sie ihren Ausdruck einerseits in der Bismarckschen Kombination aus „Sozialistengesetz“ und Sozialgesetzgebung und den entsprechenden bürgerlich-paternalistischen Fürsorgekonzepten, andererseits in der Arbeiterbewegung und den Konzepten der Solidarität mit notleidenden „Klassengenossen“. Damit sind grundlegend verschiedene Entwicklungspfade vorgegeben, die bis heute die Selbstverständnisse und Perspektiven Sozialer Arbeit in widersprüchlicher Weise bestimmen.
Im hegemonialen Selbstverständnis Sozialer Arbeit dominiert auch heute noch der Mythos von der „helfenden Profession“. Angesichts der blutigen Verstrickungen von Sozialarbeitenden in die Makroverbrechen des 20. Jahrhunderts ist nichts hohler als dieser Mythos. Im „Zeichen der Hilfe“ hat Soziale Arbeit aktiv an ihnen mitgewirkt, wie Manfred Kappeler in seinem Beitrag an den Beispielen der Eugenik und dem Paradigma der Sesshaftigkeit zeigt. Dass klassifizierende Denkformen und sozialhygienische Traditionsbestände auch heute in der Sozialen Arbeit virulent sind, dafür geben die aktuell grassierenden Aktionspläne zur sog. „Armutszuwanderung aus Südosteuropa“ nur ein Beispiel unter vielen ab, allerdings ein besonders abschreckendes. Dagegen hilft nur Selbstaufklärung. Soziale Arbeit muss „dem eigenen Verstricktsein und der eigenen Komplizenschaft (…) mit den Strukturen“ innewerden, „die die Aufrechterhaltung von Herrschaft und die Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums bestimmen“ (S. 33).
Soziale Arbeit war stets fester Bestandteil im gesellschaftspolitischen Prozess der Sozialdisziplinierung, der mit den städtischen Polizei-, Armen- und Bettelordnungen zu Beginn der Neuzeit einsetzte. Aus diesem Prozess ist auch die Doppelstruktur des deutschen Sozialstaats hervorgegangen, an die Richard Münchmeier in seinem Beitrag erinnert. Während die materielle Absicherung in Notlagen durch Gesetze zur Sozialversicherung und Sozialhilfe stattfindet, konzentriert sich Soziale Arbeit in ihrer hegemonialen Gestalt auf pädagogisch-psychologische Dienstleistungen. Ihre Entwicklung könne „als eine Geschichte immer weiter voranschreitender Pädagogisierung und Psychologisierung beschrieben werden“ (S. 42). Soziale Probleme werden in pädagogische und psychologische Probleme umdefiniert, die dann durch personenbezogene Interventionen korrigiert werden sollen. Trotz der strukturellen Erfolglosigkeit dieser Interventionslogik sei, so betont Münchmeier, in der sozialstaatlichen Doppelstruktur die Möglichkeit einer relativen Autonomie der Sozialpädagogik enthalten, die sich zeitweise in der Orientierung an aufklärerischen Erziehungsidealen zum Ausdruck bringen konnte. Damit sei es in Zeiten des aktivierenden Sozialstaats und des Hartz IV-Reglements vorbei: „Soziale Arbeit wird nunmehr für die Zwecke einer auf arbeitsmarktliche Vermittlungsfähigkeit ausgerichteten Verhaltenskontrolle in den Dienst genommen. Eigenverantwortlichkeit, persönliche und örtliche Flexibilitätsbereitschaft, aktive Selbsthilfeanstrengungen sind die neuen Sozialisations- und Erziehungsziele und (…) können mit repressiven Mitteln (…) erzwungen werden“ (S. 40).
Dem Beitrag der Frauenbewegung zur Genese moderner Sozialer Arbeit widmet sich der Aufsatz von Sabine Hering, die den Widerspruch zwischen „weiblich gefärbter“ Fachlichkeit und „männlich gefärbter“ Verwaltungslogik in den Mittelpunkt rückt. Es gehört zu den bitteren Erfahrungen der Protagonistinnen Sozialer Arbeit, dass die von ihnen entwickelten Konzepte der Professionalisierung immer wieder durch die institutionelle Struktur der Sozialbürokratien behindert, wenn nicht verhindert wurden (und werden). Nach Hering sollte dies aber kein Grund zur Resignation sein: „Die Netzwerke der engagierten Frauen haben nicht aufgegeben, sondern sie haben (…) den ‚langen Marsch durch die Institutionen’ angetreten, mit dem Bewusstsein, dass sie als Frauen in Führungspositionen vordringen müssen, dass sie Einfluss auf die Politik nehmen müssen und dass ihre Solidarität über die nationalen Grenzen hinweg sie befähigen wird, Unkenntnissen und Kleingeist entgegenzuwirken“ (S. 65).
Leonie Wagner knüpft daran an. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen emanzipatorischen sozialen Bewegungen und kritischer Sozialer Arbeit. Dieser lasse sich, so Wagner, sowohl für die alten als auch für die neuen sozialen Bewegungen nachweisen. In der Kritik dieser Bewegungen an der herrschaftsstabilisierenden Funktion traditioneller Sozialer Arbeit konstituierte sich ein kritisches, politisches Selbstverständnis von Sozialarbeitenden. Dies allerdings steht immer in Gefahr, dem gesellschaftlichen Konformitätsdruck geopfert zu werden. Nach dem neoliberalen Umbau der Sozialbürokratie in den letzten Jahrzehnten ist dieser Konformitätsdruck keineswegs geringer geworden. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass sich die Soziale Arbeit – wie Wagner beobachtet – für die politischen Diskurse der globalisierungskritischen Bewegungen unserer Zeit bislang wenig offen gezeigt hat – weder in der Wissenschaft noch in der Praxis.
Für das Projekt einer kritischen Sozialen Arbeit wäre diese Öffnung wichtig, ja notwendig. Denn kritische Soziale Arbeit versteht sich als eine soziale Praxis, die die Menschen, ausgehend von deren Leid- und Unrechtserfahrungen, nicht nur in ihrer alltäglichen Handlungsfähigkeit stärken, sondern auch die gesellschaftlichen Ursachen verletzter Menschenrechte öffentlich skandalisieren und bekämpfen will. Eine Ausnahme stellt auch hier Silvia Staub-Bernasconi dar, die schon seit langem die eurozentristische Borniertheit Sozialer Arbeit kritisiert. Kaum jemand hat über die Notwendigkeit einer Transnationalisierung Sozialer Arbeit so substanziell und differenziert nachgedacht wie sie. Dass diese Öffnung nur über die Entwicklung einer praxisbezogenen Idee der Menschenrechte möglich ist, stellt sie in ihrem Beitrag einmal mehr zur Diskussion. Menschenrechte sind Realutopien, so Staub-Bernasconi, „kollektiv geteilte Bilder des Wünschbaren“ (S. 214), die auch für die Lehre und Praxis Sozialer Arbeit orientierend sind: „Die sich zunehmend inter- und transnational vernetzende – kurz globalisierende – Soziale Arbeit muss als Antwort darauf betrachtet werden, dass es kaum ein soziales Problem gibt, das in Bezug auf sein Vorkommen, seine Ursachen, aber auch seine Milderung oder gar Lösung, nicht auf die Struktur und Dynamik der Weltgesellschaft zurückgeführt werden muss (…). Viele davon stellen geringfügige, mittlere bis gravierende Menschenrechtsverletzungen dar. Schon allein Armut, wo sie auch immer festgestellt wird, ist eine millionenfache Menschenrechtsverletzung“ (S. 213).
Diskussion
Der Band hat das, was Sammelbände selten haben: einen roten Faden. Die Kapitel bauen schlüssig aufeinander auf, so dass der Leser tatsächlich eine gute Einführung in die Geschichte, die Strukturen und das Selbstverständnis Sozialer Arbeit bekommt. Dass dabei dennoch manches zu kurz kommt, ist unvermeidlich. Einzig das vierte Kapitel, das den theoretischen Fundamenten der Sozialen Arbeit gewidmet ist, hält nicht, was es verspricht. Die Auswahl der theoretischen Positionen bleibt zu schmal, wichtige Traditionslinien bleiben unerwähnt.
Fazit
Ein lesenswertes Buch, das besonders Anfängern einen guten Einstieg bietet. Studierenden der Sozialen Arbeit ist es wegen seines historisch-systematischen Aufbaus sehr zu empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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