Gunter Lösel: Das Spiel mit dem Chaos
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 18.09.2014
Gunter Lösel: Das Spiel mit dem Chaos. Zur Performativität des Improvisationstheaters.
transcript
(Bielefeld) 2013.
380 Seiten.
ISBN 978-3-8376-2398-7.
33,80 EUR.
Reihe Theater Band 56.
Thema
In Lösels Dissertation „Das Spiel mit dem Chaos“ geht es weder um Improvisieren als „Warm-up“ noch „als Methode des Schauspieltrainings“ oder „Probenmethode“, auch nicht um praktisches Know-how, sondern um „Improvisation als Aufführungstechnik und Theaterform … (Frost & Yarrow 2007: 19-20)“ (S. 24). Dabei widmet Lösel seine „Arbeit … nicht der konkreten Einzelaufführung“, sondern, mit hohem Anspruch, „der Theorie des Improvisationstheaters“ (13), d.h. dem Prozess des Improvisierens, ist „doch der Prozess das Eigentliche“ (14) dieser seit geraumer Zeit höchst erfolgreichen Theaterform.
Autor
Gunter Lösel, Psychologe und Theaterwissenschaftler, lehrt an der Universität Hildesheim. Er ist „selbst seit vielen Jahren Improvisationsschauspieler“ (350), also ausgewiesener Praktiker mit eigenem „Erfahrungswissen“ (12); er leitet das Improtheater Bremen, das „sich ausschließlich ‚Impro-Langformen’ widmet, also dort agiert, wo Theatersport und Sketch-Comedy aufhören“ (7).
Aufbau
„Das Spiel mit dem Chaos“ zeichnet sich aus durch einen klaren und stringenten Aufbau. In der „Einleitung“ (7 ff) erläutert Lösel „Fragestellungen“, „Materialzugang und Methode“, „Stand der Theoriebildung“ und „Aufbau der Untersuchung“.
„Kapitel I: Grundlagen“ (23 ff) grenzt den Gegenstand ein und expliziert „Begriffe und Begriffsgeschichte“.
„Kapitel II: Konzepte der Produktion“ (47 ff) „ist der Geschichte des Improvisationstheaters aus der Binnenperspektive gewidmet, also so wie sie von den Produzierenden, den Schauspielern und Theatermachern beschrieben wird.“ Es konzentriert sich dabei auf „die Geschichte der Konzepte zur Produktion von improvisierten Aufführungen“ (21), bringt jedoch über die Konzepte hinaus eine Fülle von Details zur historischen Entwicklung und zu unterschiedlichen Formen des Impro-Theaters.
Die beiden folgenden Hauptkapitel ziehen zwei besondere theoretische Konzeptionen heran. „Kapitel III: Performativität des Improvisationstheaters“ (157 ff) nutzt „den performativen Ansatz der Theaterwissenschaft“, um „zu einer Außenperspektive auf das Improvisationstheater zu gelangen. Hierzu werden die einzelnen Aspekte dieses Ansatzes auf das Improvisationstheater angewendet: Die Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren, die Materialität, die Semiotizität und die Ereignishaftigkeit“. Ziel ist eine „Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters“ (21).
„Kapitel IV: Systemtheorien und Improvisationstheater“ (281 ff) versucht eine „Anwendung der Systemtheorie auf das Improvisationstheater“ (21); es greift neben Luhmann und anderen noch einmal auf den Emergenzbegriff zurück. „Angesichts der Heterogenität der systemtheoretischen Ansätze wäre es zu viel erwartet“, so Lösel, „hier eine stringente Theorie zu entwickeln“.
Zu Teilkapiteln gibt es jeweils ein „Fazit“; das Buch endet mit „Gesamtfazit und Ausblick“ (329 ff) sowie „Literaturverzeichnis“ (335 ff).
Inhalt
Schon in der Einleitung wird ein mehrfaches Ungenügen deutlich und der Wunsch nach theoretischer Reflexion. „Die Improvisationstheater-Bewegung hat … in den letzten 90 Jahren eine solche Menge an Theoriebildungen, Spielesammlungen und ‚How to improvise’-Büchern hervorgebracht, dass sie eine Ebene der Reflexion dringend braucht …“ (7). Auch „tut sich die Theaterwissenschaft mit dem Improvisationstheater bisher noch eher schwer, obwohl mit dem performativen Ansatz eigentlich ein Begriffssystem entstanden ist, das für eine prozessorientierte Theaterform wie das Improvisationstheater hervorragend geeignet sein müsste“ (8).
Hilfreich sollten zudem, so Lösel, „Systemtheorien“ sein; nur diese sind „wirklich geeignet, Prozesse zu modellieren, anstatt Inhalte zu analysieren – und das Improvisationstheater besteht letztendlich nur aus Prozessen, während die Inhalte flüchtig und wenig aussagekräftig sind“ (9 – eine Einschätzung, die ich noch diskutieren möchte, s.u.).
Als Material und Methode (10) nennt Lösel zunächst „Theorie-Praxis-Bücher … Die auf die Praxis zielende Literatur zum Improvisieren tendiert zu einer via negativa. Nicht der Prozess des Improvisierens selbst wird beschrieben, sondern das, was ihm im Weg steht. Nicht Techniken zur Hervorbringung von Spontanität werden dargestellt, sondern Techniken zur Beseitigung von Blockierungen“ (11). Erläutert werden in diesen Büchern „Fachsprache und Regelsystem der Improvisationsspieler“ (11), dazu gibt es in den „Spielesammlungen“ (12) eine Fülle von Spielen und Spielregeln. „Die Spielesammlungen sind beim improvisierenden Theater das, was beim inszenierenden Theater der Text ist, nämlich die wichtigste Produktionsquelle der Aufführung“ (12). Erst im Spielprozess wird vor Augen und Ohren der Zuschauer aus der Spielregel eine Szene. Um diesen Prozess „untersuchen zu können, reicht das gängige Instrumentarium der Theaterwissenschaft nicht aus. Vielmehr muss auf elaborierte Methoden der Prozessanalyse in angrenzenden Disziplinen, etwa den Sozial- und Kommunikationswissenschaften zurückgegriffen werden. … Als geeignet erweist sich beispielsweise die von Sawyer verwendete Methode der Gesprächsanalyse, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Situation des improvisierenden Schauspielers weit mehr der Situation eines Teilnehmers einer Alltagskommunikation gleicht als derjenigen eines Schauspielers im inszenierenden Theater“ (16). „Mit ‚Improvised Dialogues’ (SAWYER 2003) legte er eine kommunikationstheoretische Analyse der Dialoge beim Improvisationstheater vor“ und „schafft einen tragfähigen theoretischen Rahmen durch seine Bezugnahme auf die Gesprächsanalyse und die Emergenztheorien. Sein Augenmerk gilt jedoch nicht der Hervorbringung einer Aufführung, sondern Prozessen kollaborativer Kreativität allgemein“ (19).
Lösel schreibt keine Geschichte des Impro-Theaters, hat aber umfassende historische Kenntnisse und greift immer wieder auf die Geschichte zurück, um theoretische Anregungen und Ansätze aufzuspüren und aufzugreifen. Dabei geht es nicht um Improvisation allgemein, sondern um das Impro-Theater und seine direkten Vorformen. Lösel beginnt mit Morenos „Stegreiftheater“ von 1924 und Neva Boyd, dargestellt freilich nur in ihrem Zusammenhang mit Viola Spolin (also auch ohne Literaturangabe). Weil „Morenos Arbeit … nur wenigen Improvisateuren ein Begriff“ ist, geht er umfassender auf Moreno ein, um „seinen Beitrag stärker ins Bewusstsein zu rücken“ (17). Ausführlich behandelt werden zudem Spolin, Johnstone und Close, die drei „Klassiker“ (11); daneben eine Reihe anderer. Dabei geht es immer um das „Ideal … der freien Improvisation, das sich, wie dargestellt, vermutlich erst in der Frühromantik auszuformen begann“ (48) und, so formuliert Lösel als These, „starke Wurzeln in den historischen Avantgarden hat“ und überdies „von der modernen Vision eines freien, schöpferischen Individuums inspiriert ist“ (43).
Während Anregungen der „Commedia dell´arte durch Craig in England und Italien, Ivsewolod Meyerhold und Jewgeni Wachtangow in Russland und Jacques Copeau und Suzanne Bing in Frankreich“ aufgegriffen wurden, stand der „deutsche Expressionismus … Pate bei Morenos Stegreiftheater 1922-23 in Wien“ (49); Wachtangow wurde „eine wichtige Quelle für Johnstone“. Die Dada-Bewegung „kann für sich in Anspruch nehmen, die ersten Improvisationstheateraufführungen der Moderne hervorgebracht zu haben“ (49). Auf S. 52 findet sich zudem ein gelungener grafischer Überblick über die Geschichte des Impro-Theaters, der weitere wichtige Stationen und ihre Verbindungen deutlich macht. „Es haben auch weniger konkrete Einflüsse eine Rolle gespielt wie das Kinderspiel, der improvisierende Tanz, die Psychotherapie, die improvisierende Musik und andere (MEYER 2008)“ (53). „Der entscheidende Impuls für die Weiterentwicklung des Improvisationstheaters kam aus den Erziehungswissenschaften in Person von Viola Spolin … Hintergrund für Spolins Entwicklung war die erfahrungsorientierte Pädagogik von John Dewey und Maria Montessori, die schon für Copeau und Bing zur Inspiration geworden war“ (76); diese waren zudem beeinflusst durch die „praktische Umsetzung in der Walden Infant School durch Margaret Naumburg in New York (FROST & YARROW 2007, S. 279)“ (75), während Spolin entscheidende Impulse erhielt durch ihr Studium bei Neva Boyd. Spolin „erfand Dutzende von ‚Theaterspielen’, die bis heute in Schauspieltrainings breite Anwendung finden“ (77); 1973 unterstützte sie „ihren Sohn Paul Sills beim Aufbau des ersten professionellen Improvisationstheater (sic!), den Compass Players“ (77).
Improspieler lernen von einander durch Workshops, Festivals, Impro-Sport-Matches und nicht zuletzt aus ihrer umfangreichen Literatur. Das zeigt sich deutlich an Regelsystem und Fachsprache des Improvisationstheaters (103 ff). Dazu Lösel im Fazit: „Zusammenfassend kann man sagen, dass es ein ‚Grasswurzel-Level’ der Begriffsbildungen gibt, das von allen Improvisationsrichtungen geteilt wird. Angebot und Antwort bilden zusammen den turn und damit die Grundeinheit der Improvisation. Jeder Zug (turn) eines Spielers besteht aus dem Annehmen des vorigen Angebots und dem Hinzufügen eines eigenen Angebots. … Die Grundhaltungen sind ebenfalls schulübergreifend ähnlich. Im Zentrum steht die Bevorzugung von Einfachheit und Positivität vor Intellektualität, Originalität und Skeptizismus“ (119). „Die verschiedenen Improvisationsschulen legen übereinstimmend großen Wert auf die Herstellung einer Atmosphäre, die frei ist von Angst und Leistungsdruck, um das Ausweichen in simulierte Spontanität überflüssig zu machen“ (129).
Auch bei der historischen Bestandsaufnahme geht es Lösel nicht um eine Sammlung von Fakten, sondern vor allem um eine Theorie des Impro-Theaters. „Damit die Stegreifproduktion dem schöpferischen Akt möglichst nahe komme, müsse der Improvisateur einem (sic!) besonderen Schwebezustand zwischen Außen und Innen herstellen können, den Moreno ‚Ambizentrierung’ (MORENO 1970, S. 56) nennt. … Die Bewegung von Innen nach Außen ist dabei primär - wie es dem expressionistischen Kunstverständnis entspricht. … Sowohl Spolin als auch Johnstone betonen Techniken, die eine solche ambizentrierte Aufmerksamkeit herstellen. Bei Spolin ist dies das Konzept des Point of Concentration …, bei Johnstone sind es die Techniken der gesplitteten Aufmerksamkeit … Die Aufmerksamkeit darf dabei weder im Außen noch im Innen gebunden werden, sondern soll frei bleiben. Durch solche Techniken wird das Unbewusste zum eigentlichen Agens der Aufführung, während das Bewusstsein gebremst oder ausgeschaltet wird“ (67). Moreno (1970: 37) formuliert noch eine weitere Einsicht: „Im Stegreiftheater entscheidet … nicht das Gesamtwerk, das ‚Drama’, sondern die szenischen Atome. Kein deus ex machina hat vorgesorgt. Es wird nicht ‚Zeit’ gespielt sondern Momente. Die Akte des Stücks sind voneinander gelöst: sie bilden eine Schnur von je und je aufleuchtenden Impulsen“ (67). Dazu Lösel: „Die entsprechende Dramaturgie wird in der vorliegenden Arbeit als Dramaturgie der Augenblicke bezeichnet“ (67).
Ebenfalls bei Moreno findet sich der höchst brauchbare Begriff der Lage. Moreno stellte ihn „ins Zentrum seines Systems. Er bezeichnet damit ganz allgemeine (sic!) einen ganzheitlichen Zustand eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt und in Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Die Lage ist weder ausschließlich ein Merkmal des Individuums noch ein Merkmal der äußeren Situation, sondern entsteht durch die Begegnung der beiden im lebendigen Augenblick“ (70). D.h. „mit Lage ist nicht nur ein innerer Vorgang, sondern auch eine Beziehung nach außen gemeint – zur Lage einer anderen Person“ (71). Lösel kommentiert: „Das Konzept der Lage kann aus heutiger Sicht als systemtheoretisches Konzept verstanden werden“ (72).
Fasst man die Spielaufgabe eines Impro-Spielers kurz zusammen, so erhält er als Vorgabe eine Situation und eine Konstellation (von Moreno als „Lage“ bezeichnet) sowie meist ein bis zwei Besonderheiten; alle Informationen werden nur knapp benannt, häufig nur mit einem Wort. Er gestaltet also nicht eine spezielle Charakterrolle mit einer vielfach definierten Umgebung, sondern hat eine soziale Rolle zu übernehmen; er muss ‚sich’ (sich selbst) in die vorgegebene Situation/Konstellation versetzen und aus der eigenen Person heraus handeln (spielen). “In improvisation, your character is actually you, but with a few additional characteristics“, so Del Close, zitiert nach Johnstone von Lösel (188).
Bei Johnstone interessiert Lösel vor allem dessen „Theater an der Grenze des Bewusstseins“ (86) und dessen Arbeit „mit leichten Formen von Trance zur Freisetzung des Unbewussten“ (88). So erfolgt in der Maskenarbeit das „Erscheinen der Figur … nicht aus einzelnen Anweisungen und ist nicht auf diese zurückzuführen. Was genau in Erscheinung tritt ist unvorhersehbar, irreduzibel und neu – womit es den Kriterien von emergenten Phänomenen entspricht. Das Auftreten geschieht plötzlich - nach einer ausführlichen Vorbereitungsphase, was ebenfalls typisch für emergente Phänomene ist“ (91).
Bei Del Close findet Lösel geradezu eine „Fokussierung auf emergente Phänomene“ (103). Insbesondere bei der Langform des Harold entstehen Verbindungen („Connections“, 99) „sowohl in der Wahrnehmung der Zuschauer als auch in der Wahrnehmung der Akteure. Sie bilden dabei Muster (patterns). Sowohl der Prozess der Musterbildung als auch der der Mustererkennung geschieht dabei ‚von selbst’. … Solche Verbindungen sind mithin emergent, d.h. unvorhersehbar, irreduzibel und neu“ (100).
Den hier mehrfach gebrauchten Begriff der Emergenz hatte Lösel gleich anfangs in einer Fußnote erklärt: „Das Konzept der Emergenz wird in dieser Arbeit vielfach aufgegriffen und dargestellt. … Es wird hier verstanden als das Entstehen von makroskopischen Ordnungen aufgrund von Ordnungsbildungen auf einer mikroskopischen - also nicht direkt beobachtbaren – Ebene, sodass sie für den Beobachter ‚von selbst’ zu entstehen scheinen. Solche Phänomene sind unvorhersehbar, irreduzibel und neu, sie entstehen erst durch die Interaktion der Elemente eines Systems …“ (10). „Die Einführung und konsequente Anwendung des Emergenzbegriffs auf das Improvisationstheater verdankt sich Sawyer (2003). Er untersucht das gesamte Regelwerk des Improvisationstheaters und kommt zu dem Schluss, dass es die Hervorbringung von kollaborativen, emergenten Phänomenen unterstützt“ (124). Dabei übernimmt Sawyer und mit ihm Lösel die systemtheoretische Unterscheidung zwischen zwei Systemebenen: „Auf der Mikroebene findet sich das Verhalten der einzelnen Systemelemente … Hier herrschen größere Freiheitsgrade … Auf einer höheren Ebene, der Makroebene, führt dies zu einem beobachtbaren … Verhalten. Die entsprechende Kausalität bezeichnet Sawyer als ‚Mikro-Makro-Link’ (SAWYER 2003, S. 56-57). Sie steht im Mittelpunkt der Emergenztheorien“ (138 f) und scheint auch hilfreich zur Erklärung des Phänomens der Spontanität.
Bei Durchsicht des historischen Materials war Lösel nämlich „auf eine verblüffende Leerstelle“ gestoßen – der Begriff der Spontanität „findet überall Verwendung, ist jedoch kaum inhaltlich gefüllt“ (155). Zwar lassen sich „drei Kriterien“ herausarbeiten: “Fehlen eines Auslösers … Unmittelbarkeit (Plötzlichkeit) … Unvorhersehbarkeit“ (132) und eine besondere Situation (mit Morenos Begriff: eine besondere „Lage“), d.h. „ein Moment der plötzlichen Erfassung aller gegenwärtigen Möglichkeiten, eine Art Rundumschau auf die Potentiallandschaft, eine Entfaltung des Möglichkeitssinnes VOR dem Augenblick der Entscheidung“ (133). In dieser „Lage“ stellt die „Gleichwertigkeit von Handlungsoptionen … eine Bedingung dar, unter welcher winzige Fluktuationen des mikroskopischen Levels zu weitreichenden Wirkungen auf makroskopischem Level führen“ (139). Mit anderen Worten: die „Spontanitätslage“ ist eine “Entscheidungssituation, in der verschiedene gleichwertige Handlungsoptionen enthalten sind, nachdem zuvor eine Erwärmung stattgefunden hat. Die Gleichwertigkeit von Handlungsoptionen stellt eine Bedingung dar, unter welcher winzige Fluktuationen des mikroskopischen Levels zu weitreichenden Wirkungen auf makroskopischem Level führen“ (139). Der Improvisierende kann sich selbst überraschen. Denn: „Die Fluktuationen liegen im mikroskopischen Bereich, also außerhalb des vom Improvisator gewöhnlich wahrgenommenen bewussten Selbst“ (140). Dementsprechend schlägt Lösel vor, „die Spontanitätslage [1] als Mikro-Makro-Link im Sinne emergentistischer Theorien zu verstehen“ (155, vergl. 139).
Damit, so Lösel abschließend zu „Kapitel II: Konzepte der Produktion“, „liegt erstmals eine vollständige, schulenübergreifende Darstellung und Analyse der Binnenperspektive des Improvisationstheaters vor. Sie soll im nächsten Kapitel um die Außenperspektive durch den performativen Ansatz der Theaterwissenschaft ergänzt werden“ (155).
Dieses Konzept der Performativität „wurde in den 90-er Jahren von Fischer-Lichte in die Theaterwissenschaft eingeführt. Es betont den Vollzugscharakter der Aufführung und bedeutet eine Abkehr vom Werkbegriff, der in der Dramenanalyse und der Inszenierungsanalyse bis dahin dominierend war. Unter Rekurs auf die Sprechakttheorie von John Austin treten damit zwei Eigenschaften kultureller Handlungen ins Zentrum des Diskurses: sie sind selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend … Die performative Perspektive bietet sich als basale Perspektive der Kulturwissenschaft an, sie ist nicht auf die Theatersituation beschränkt, sondern kann grundsätzlich auf alle Handlungen mit Aufführungscharakter bezogen werden“ (157) – also auch auf das Impro-Theater.
Lösel macht deutlich, wie häufig „Performatives“ sich beim Impro-Theater findet: die „Leibliche Ko-Präsenz“ (159 ff) und Methoden zur Verstärkung der „Präsenz der Zuschauer“ (167 f) durch „Warm-up des Publikums: Mitbestimmung und Enthemmung“ (169 ff) und durch „Zuschauervorschläge“ (173 f); die Steigerung der „Ko-Präsenz„: „Das heiße Publikum“ (175 f), „Das responsive Publikum“ (177); das schon von Moreno formulierte „Konzept der Begegnung“ (178).
Auch die weiteren von Fischer-Lichte herausgearbeiteten Kennzeichen des Performativen, „Materialität“ (185 ff), „Semiotizität“ (219 ff) und „Ereignishaftigkeit“ (239 ff), bezieht Lösel auf das Impro-Theater und nutzt dabei immer wieder den Begriff Spiel „als eigene Ebene der Bedeutung“ (226) – wird doch beim Improvisationstheater „die Ebene des Spiels stärker betont als in anderen Formen des Theaters“ (230). „Akteure und Zuschauer teilen beim Improvisationstheater ein fluides, ludisches Bedeutungssystem, bei dem die Zeichen aus alten Kontexten herausgelöst werden …“ (220). Noch deutlicher bei der „Ereignishaftigkeit des Improvisationstheaters“. Sie „wurde in der bisherigen Literatur überwiegend unter dem Aspekt des Wettkampfes gesehen (z.B. Gerein 2004), was in dieser Arbeit kritisch hinterfragt wird“ (257). Lösel nämlich sieht das Improvisationstheater zwar auch als „Sportereignis … Leistungsshow oder als Wettkampfspiel“ (242), aber darüber hinaus als „‚offenes Kunstwerk’ im Sinne von Umberto Eco“ (235), „als (heilende) Begegnung“ (241), als „Fest“ (245), vor allem aber „als Spielereignis“ (247), d.h. als ein „Spiel mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit“ (256). Für Lösel haben alle hier aufgeführten „Auffassungen … einen gewissen Erklärungswert, jedoch erscheint nur das Spiel in der Lage, die Ereignishaftigkeit der improvisierten Aufführung umfassend zu beschreiben“ (257). Denn: „Im Gegensatz zum Text stellt das Spiel keinen konkreten Inhalt zur Verfügung, sondern zunächst lediglich ein Spielfeld und Spielregeln – wie sich die jeweilige Partie dann zeitlich entfaltet ist völlig offen“ (258). Dazu David Charles (2003, S. 225): „Whereas a text or ‚chart’ typically steers the players towards a desirous outcome while allowing (ideally) some freedom with the specifics of the journey, a game provides an area of focus, a rule or a consideration that informs an exploration but generally allows both the process and final destination to be generated through performance“ (so zitiert bei Lösel 258). Daraus folgt aber auch, dass Improvisationstheater „nicht als Text oder Werk zu erfassen“ ist. „Stattdessen muss es als Spiel begriffen werden und an die Stelle der Textanalyse muss beim Improvisationstheater die Spielanalyse treten“ (258). Das heißt: „Wenn man den Menschen versteht als ein Wesen, das permanent spielerisch soziale Realitäten konstruiert, dann entspricht das Improvisationstheater der Simulation solcher sozialkonstruktivistischer Prozesse“ (257). Allerdings ist es „als Regelspiel nicht vollständig beschreibbar. Stattdessen muss man sich das Improvisationstheater-Spiel als eine Spielform zwischen ungeregeltem und geregeltem Spiel vorstellen. In diesen Zwischenbereich“ gehören „Konstruktionsspiele … das Erbauen von Sandburgen … Schneemännern … Solche Spiele bedürfen keiner Regeln, sondern lediglich einer Absprache über das, was konstruiert werden soll. Aus diesem Grund wird hier vorgeschlagen, Improvisationstheater im Rahmen eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes als kollaboratives Konstruktionsspiel zu betrachten. Es wird daher die These aufgestellt, dass sich das Improvisationstheater am umfassendsten als Spiel mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit charakterisieren lässt“ (259), „bei dem Akteure und Zuschauer gemeinsam spielend eine Fiktion herstellen“ (256) – noch einmal leicht verändert herausgestellt als Merksatz auf S. 259: “Improvisationstheater ist ein Spiel mit den Prozessen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit.“
Nach dieser Materialdurchsicht unternimmt Lösel den „Versuch …, die unter performativer Perspektive gewonnnen Ergebnisse in eine Theorie der Aufführung des Improvisationstheaters zu integrieren“ (259). Dabei ist es zunächst „schwierig, durch die performativen Konzepte den eigentlich Prozess des Improvisierens zu erfassen. Es fällt auf, dass die Kategorien sich immer nur auf die Manifestationen der Improvisation beziehen – etwa deren Materialität oder die Organisation der leiblichen Ko-Präsenz – nicht jedoch auf den Prozess des Improvisierens selbst“ (264).
Hilfreich erscheint Lösel in diesem Zusammenhang die “autopoietische feedback-Schleife“, ist doch „das Konzept der autopoietischen feedback-Schleife … ein rein prozessuales Konzept“ (264). Dazu Fischer-Lichte: „Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinn lässt sich behaupten, dass die Aufführung von einer selbstbezüglichen und sich permanent verändernden feedback-Schleife hervorgebracht und gesteuert wird. Daher ist ihr Ablauf auch nicht vollständig planbar und vorhersagbar“ (265) [2].
Lösel belässt es nicht bei der „autopoietischen Feedback-Schleife“, sondern nutzt systemtheoretische Überlegungen für weitere Theoretisierungen des Impro-Theaters. Brauchbar ist zunächst Luhmanns Begriff der Anschlussfähigkeit, stellen doch „die Improvisationstechniken zunächst sicher, dass immer ein Anschluss hergestellt wird. Angebote werden grundsätzlich akzeptiert und durch das Yes-And-Prinzip aneinander angekoppelt“ (289). Sie sind also „im Vergleich mit alltäglicher Kommunikation mit maximierter Anschlussfähigkeit ausgestattet … In einem solchen System mit maximierter Anschlussfähigkeit finden deutlich mehr Selektionen statt und es wird damit mehr Kontingenz erzeugt als in einem alltäglichen sozialen System. … Die maximierte Anschlussfähigkeit bedeutet daher auch, dass es einen breiten Code geben muss, der nur sehr wenige Operationen als nicht-anschlussfähig aus dem System entfern (sic!)“ (291).
Weil Luhmann „Systeme als Abfolge von Entscheidungen einzelner Agenten“ konzipiert, eröffnet sich zudem eine Beziehung zur mathematischen Spieltheorie, damit wiederum „ein direkter historischer Bezug zum Improvisationstheater, da Close sowohl Norbert Weiners (sic! – gemeint ist Norbert Wiener) ‚Cybernetics’ als auch Neumanns ‚Game Theory’ gelesen und in seine Konzepte integriert hat (JOHNSON 2008,39). Das Improvisationstheater kann unter diesem Blickwinkel als ein Gesellschaftsspiel mit einer Verkettung von Entscheidungen aufgefasst werden“ (303).
Soweit mein Versuch, die auf umfangreichen Kenntnissen beruhenden, weitgespannten Überlegungen Lösels und die Vielfalt seiner Aspekte in ihren Grundzügen zu referieren. Einige weitere Gedanken möchte ich diskutieren.
Diskussion
(1) Beim Improvisationstheater werden „immer zwei Geschichten gleichzeitig erzählt, einerseits die Fiktion selber, andererseits die Geschichte der Produktion dieser Fiktion. Neben die gespielte Szene tritt die Wahrnehmung des Prozesses des Theatermachens. … Der Prozess des Theatermachens wird selber zum Aufführungsinhalt“ (214). Inhalt und Prozess, „gespielte Szene“ und „Produktion dieser Fiktion“ stehen in diesen Erläuterungen gleichberechtigt nebeneinander. Ähnlich heißt es unter der Überschrift „Zwei Bedeutungsebenen“ (223): „Im Gegensatz zur Performancekunst verzichtet das Improvisationstheater nicht auf eine fiktionale Ebene, auf welcher Figuren dargestellt, Geschichten erzählt und eine Als-Ob-Welt erzeugt wird. Ergänzt wird diese fiktionale Ebene aber um eine weitere Ebene, auf welcher der Spieler als Zeichenbenutzer sichtbar wird, als jemand, der diese Geschichte erzählt, diese Figuren erfindet, Theater spielt. … Salinsky beschreibt den bewussten Einsatz beider Darstellungsebenen … als eine Verdoppelung der Aufmerksamkeitsgegenstände des Zuschauers“, einerseits auf den “Inhalt der Szene“, andererseits auf den “Prozess des Improvisierens“, auf, so Salinsky, „content and process“. Auch hier werden also “Inhalt der Szene“ und “Prozess des Improvisierens“ als gleich wichtig angesehen.
Im Verlauf seiner Untersuchung aber stellt Lösel content and process, Inhalt und Prozess immer wieder, manchmal apodiktisch, wertend gegeneinander: was dann zählt, ist nur der Prozess. Impro-Theater „zeigt weder die ‚Wirklichkeit’, noch irgendeine Sicht auf die Wirklichkeit, sondern den Prozess der sozialen Konstruktion von Realität“ (238). Berichte über das Impro-Theater werden von Lösel kritisiert, weil sie sich „fast immer … auf die inhaltliche Zusammenfassung der gesehenen Szenen“ beschränken. „Hier wird das Produkt geschildert, während doch der Prozess das Eigentliche der Aufführung war“ (14). Auch den Zuschauern wird diese Aufgabe zugewiesen: „Als Beobachter des improvisierenden Spiels müssen die Zuschauer die Entscheidungen der Spieler innerhalb von deren Möglichkeitsraum rekonstruieren und damit einen Erwartungsrahmen generieren“ (182). Müssen sie?
Nun ist sicherlich richtig, dass „Schwierigkeiten und Hindernisse im Aufbau der Fiktion … den spielerischen Reiz und die Spannung dieser Theaterform“ ausmachen; das kann aber nicht bedeuten, dass schlichtweg das „Entstehen der Fiktion aus dem Spiel … das eigentliche Thema“ (263) ist. Und auch wenn Lösel „das Zustandekommen von sozial konstruierter Wirklichkeit als riskantes Spiel“ (262) richtig beschreibt, lässt sich daraus nicht folgern, dass „das Improvisationstheater kaum inhaltliche Aussagen machen kann“ (184). Ähnlich mit Bezug auf Johnstone unter der Überschrift „Moralische Indifferenz“ (152): „Neben der Auseinandersetzung mit externer Zensur spielt das Unterlaufen der inneren Zensur eine zunehmende Rolle … Ziel ist ein Akzeptieren aller aufsteigenden Impulse ohne Rücksicht auf kompromittierende Bedeutungen. Johnstone beschreibt, wie er nach und nach zu einer Haltung fand, in der die gespielten Inhalte bedeutungslos wurden“ (153 f). Was für Johnstone gelten mag, wird von Lösel verallgemeinert: „Letztendlich entspricht dies einer grundlegenden Haltung beim Improvisationstheater: Es kümmert sich wenig um die dargestellten Inhalte und die damit vermittelten Werte, sondern fokussiert stattdessen auf den Prozess der Improvisation … Das Kriterium für die Qualität der Aufführung ist daher nicht der Inhalt der Aufführung, sondern die Qualität des improvisatorischen Prozesses … Wenn beim Improvisationstheater überhaupt Werte vermittelt werden, dann liegen sie nicht in den improvisierten Inhalten, sondern in der besonderen Qualität des Zusammenspiels der Schauspieler und in der Partizipation der Zuschauer“ (154). Weil die Schauspieler „beim improvisierenden Theater … fortwährend Spielentscheidungen“ treffen müssen, ist die „Wahrnehmung und Würdigung dieser [3] Spielentscheidungen … essentiell; sie stellt das eigentliche Spannungsmoment für die Beobachter des Spiels dar“ (181). Also identifiziert sich der Zuschauer nach Lösel „mit dem Spieler als Rollenspieler und eben nicht mit den von ihm gespielten Figuren“ (178); überdies sind seine „Erwartungen … beim Improvisationstheater vor allem auf Komik und leichte Unterhaltung gerichtet“ (168); sie „unterscheiden sich … offensichtlich kaum von denen anderer Unterhaltungstheater“ (169). Freilich findet im Improvisationstheater, so Lösel im „Fazit: Leibliche Ko-Präsenz“ die „Begegnung idealerweise unter den Bedingungen einer gesteigerten Ko-Präsenz statt“ – so weit so gut. Dann aber heißt es sofort anschließend: „Da das Improvisationstheater kaum inhaltliche Aussagen machen kann …“ (185). Lösel kommt, so scheint mir, hier wie andernorts, in Gefahr, eigene Rezeptionsvorlieben als natürliche, übliche oder sogar einzig mögliche anzusehen und zu verabsolutieren: DER Zuschauer - DAS Publikum – DAS Improvisationstheater.
Anders Spolin: „Wenn Übereinstimmung besteht, dass alle an der Theaterarbeit Beteiligten eine persönliche Freiheit zum Erleben haben müssen, dann schließt das auch das Publikum mit ein – jeder Zuschauer muss die Möglichkeit des persönlichen Erlebens haben, es darf keine künstliche Reizung stattfinden. (Spolin 2002, 27)“ (176). Und Lösel selbst mit Verweis auf Spolin: Wird das Publikum „nicht als fremdes Außen erlebt, sondern als lebendiger Teil des Theater-Spiels“, dann bedeute das auch „einen Verzicht auf Kontrolle über das Publikum. Ebenso wie die Schauspieler besitze jeder Zuschauer das Recht auf Freiheit seines persönlichen Erlebens. Der Freiheit der Akteure steht mithin eine Freiheit der Zuschauer gegenüber, beide sind Teilnehmer einer freien Kommunikation“ (84). Das heißt doch: auch im Impro-Theater darf ein Zuschauer primär an Inhalten (und Werten!) interessiert sein.
Das gilt übrigens, wie Lösels historische Beispiele zeigen, auch für eine Reihe von Impro-Machern.„Während die Johnstone-Schule auf gemeinschaftliche, emotionale Erlebnisse abzielt, bevorzugt die Chicagoer-Schule individuelle – im Fall von Close auch oft intellektuelle – Wirkungen“ (177). Bei Johnstone „bleibt immer ein Hang zur Groteske und alle von ihm eingeführten Techniken unterstützen die spontane Produktion von surrealistisch anmutenden Szenen. Hierin liegt ein deutlicher Unterschied zur Chicagoer Schule der Improvisation, die einen intellektuelleren, satirischeren Stil hervorbringt“ (88). Bei Del Close etwa werden die „frei assoziiertenElemente … im Rückblick auf Muster untersucht, etwa bestimmte Themen oder Themenkomplexe. Das Muster bildet sich also auf der inhaltlichen Ebene“ (der inhaltlichen Ebene!), „beispielsweise wenn Themen wie Trauer oder Sexualität die Assoziationen durchziehen. Die Kunst des ‚Find the Game’ besteht darin, diese Muster der Interaktion herauszuhören, zu verstärken und miteinander zu verknüpfen“ (102). Und als Del Close und die St. Louis Compass Players „den politischen Anspruch von Sills und Shepherd hinter sich“ ließen, distanzierte sich Shepherd „von den St. Louis Compass Players mit den Worten: ‚You´ve turned it into entertainment. You´ve ruined my dream’.“ (96) Und während Johnstone sich über den tabufreien Raum freut und „die gespielten Inhalte bedeutungslos“ findet, wird in „den USA … der tabufreie Raum … zunächst zur Schaffung einer politischen Gegenkultur genutzt. … in den 50-er und 60-er Jahren in Chicago gab es eine starke Überlappung von politischer Satire und Improvisationstheater“. Auch später „hat die Persiflage einen festen Platz behalten und es werden regelmäßig alte und neue Autoritäten lächerlich gemacht“ (247). – Und noch einmal Spolin: „Vorausgeplant wird das (Spiel-)Feld, auf dem das Spiel stattfindet. ‚Wie’ das Spiel abläuft, können nur die Spieler auf dem Spielfeld wissen.“ Lösel kommentiert: „Dadurch befreit das jeweilige Game auch von der Notwendigkeit, inhaltliche Absprachen zu treffen, was als qualitativer Sprung gewertet werden muss: Die Commedia dell´arte und auch Moreno hatten sich auf Scenarios oder Vorabsprachen verlassen, die inhaltliche Aspekte des Spiels festlegten. Spolin dagegen verließ sich auf formale Absprachen zwischen den Spielern und Spielerinnen, die sich nur auf die Interaktionsregeln bezogen und als Games in der Lage waren, ständig neue Inhalte hervorzubringen, ohne selber inhaltliche Vorgaben zu machen“ (83). Also “formale Absprachen“, besondere „Interaktionsregeln“ als Ausgangspunkt, „neue Inhalte“ als ein Ergebnis und damit obligatorisch Werte und Wertentscheidungen!
Noch zwei Ergänzungen: Formale Regeln sind auch dazu geeignet, emotional betreffende Inhalte frei zu legen, sie nicht kognitiv bestimmt auszuwählen (und damit wahrscheinlich zu zensieren). Und: es gibt eine Reihe von Impro-Gruppen, die auf unterschiedlichen Tagungen zum jeweiligen Tagungsthema spielen – sie machen also einen spezifischen Inhalt zu einem Teil der Spielregel. -
(2) Nur eine kurze Bemerkung zum Thema Emergenz. Mir scheint, Menschen können Zufall und Sinnlosigkeit nicht gut aushalten; sie neigen dazu, den Zufällen einen Sinn zu GEBEN. Wenn also zu „Beginn der Aufführung“, wie es bei der Impro-Form des Harold geschieht, „vom Publikum ein einziges Wort eingeholt“ wird, „das alle Teile der Improvisation inspiriert, auch wenn sie sonst nicht das Geringste miteinander zu tun haben“ und dann „Verbindungen emergieren während des Harold sowohl in der Wahrnehmung der Zuschauer als auch in der Wahrnehmung der Akteure“ und „dabei Muster (patterns)“ bilden, dann sind solche „Verbindungen“ durchaus zu erwarten. Man kann sie „emergent, d.h. unvorhersehbar, irreduzibel und neu“ (100) nennen; eine spezifische Erklärung, denke ich, liefert eine solche Benennung nicht. Ähnlich offen formuliert Lösel unter der Überschrift „Semiotizität“: „Die Zuschauer werden durch die Neutralität …, durch Lücken im Sinn … oder durch die dialogische und polyphone Aufführungsform … zu einer aktiven Bedeutungsgenerierung angestiftet“ (219). Jeder Zuschauer für sich, würde ich meinen, kann den Zufall mit (eigenem) Sinn erfüllen, als Unsinn abwehren oder sich am Unsinn erfreuen.
(3) Impro-Gruppen legen Wert auf die Information „Wir improvisieren“, häufig schon durch ihren Namen, dezidiert in ihren Ankündigungen. Lösel diskutiert das Wissen um den improvisatorischen Charakter „als Wahrnehmungskategorie“ (33 ff); er zitiert unterschiedliche Meinungen und vertritt in seiner „Arbeit die These …, dass das Wissen der Zuschauer über die improvisierte Qualität des Theaterspiels ein konstitutives Merkmal des Improvisationstheaters ist“ (36). „Erst dieses Wissen, so die hier vertretene These, stellt die Grundlage für die spezifische Zeichenerzeugung und Bedeutungsgenerierung dar, die für Improvisationstheater typisch ist“ (37), wird doch erst durch eine solche Information „hinter dem Bühnengeschehen die ‚Zweite Geschichte’ sichtbar“ (33). Mir fehlt in dieser Begründung der Bezug auf die Regel, unter der eine Impro-Szene steht – wird dem Spieler doch durch die Regel eine bestimmte Aufgabe gestellt. Ob und wie er die Aufgabe erfüllt, sorgt für ein besonderes Spannungsmoment! Also nicht nur: Wir improvisieren! – sondern: Wir improvisieren unter Erfüllung von spezifischen Auflagen! -
(4) In seiner umfang-, material- und detailreichen Untersuchung arbeitet Lösel noch ein spezifisches Kennzeichen heraus, das sich als Beitrag zur Soziologie des Improvisationstheaters einordnen lässt: „dass es sich im Wesentlichen um eine Laienspielbewegung handelt … Zum einen ist die Improvisationstheaterbewegung programmatisch als Laienspielbewegung angelegt, zum anderen ist es ökonomisch schwierig, davon zu leben.“ Impro-theater, so Lösel, war „in Chicago zu einem normalen, akzeptierten Hobby geworden“ und hat inzwischen beinahe überall „eine enorm ausgeweitete Kurstätigkeit“ (161) entfaltet. Es „ruht auf einem Sockel von leidenschaftlichen Laienspielern … Oft ist es für professionelle Spieler nicht einfach, sich von diesem Angebot abzusetzen. Ohne Zweifel sind die Bedingungen des Laienspiels für die Improvisation günstiger als die Bedingungen des professionellen Theaters. … Nahezu alle Gruppen arbeiten im Spannungsfeld zwischen Amateurtheater und professionellem Theater und durchleben die entsprechenden Konflikte“ (162). In einer Fußnote weist Lösel auf das “Annoyance Theatre in Chicago“ hin. „Die Spieler … verzichten aus philosophischen Gründen auf jegliches Honorar und erhalten damit den Spielcharakter der Vorstellung“ (162).
Inzwischen haben einige professionelle Theater, insbesondere Kinder- und Jugendtheater Improtheater-Formen erfolgreich übernommen (wie etwa das Berliner Jugendtheater Strahl). Damit kehrt das Impro-Theater gewissermaßen zu einer der Ursprungsformen zurück, dem Kinderspiel. Lösel nähert sich diesem Zusammenhang in seinem Passus über „Improvisationstheater als (heilende) Begegnung“ (241): „Verschiedene Versionen dieser Position findet (sic!) sich bei Moreno, Spolin, Sills (besonders in seinen späten Jahren), Fox und Johnstone. Sie alle haben die therapeutischen Effekte der Improvisation erkannt und Formen entwickelt, die man dem Paratheater zuordnen kann. Die primäre Intention ist die transformierende Wirkung der theatralen Aktion auf die Spielenden“ – eine Wirkung, die ein Kind gleichsam spielerisch entdeckt und nutzt. Kein Wunder, dass z.B. Spolins „Ansatz bis heute eine starke Wirkung in den Bereichen Theaterpädagogik und Kommunikationstraining“ entfaltet. Insgesamt geht die „umfangreiche Workshoptätigkeit im Bereich Improvisationstheater … auf diesen heilenden, selbstverwirklichenden Aspekt der Begegnung zurück und befindet sich in einer Überlappungszone zwischen Theater, Pädagogik und Therapie“ (241).
Dazu zwei Bemerkungen: Zum einen sollte man den Begriff „Laienspiel“ als historischen Begriff auf die Jugendbewegung und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts (und kurzzeitige Wiederaufnahmen nach 1945) beschränken und danach vom Amateurtheater sprechen (wie es Lösel zeitweilig auch tut).
Zum anderen sehe ich eine deutlich stärkere Beziehung des Impro-Theaters zum Kinderspiel. Lösel thematisiert das unter der Überschrift „Improvisation als Spielereignis“ (247 ff): „Sowohl Moreno als auch Spolin gingen in ihren Theoriebildungen vom Kinderspiel als Ideal aus … Aus diesem Grundverständnis hat Spolin die Theatre-Games in den Mittelpunkt ihres Ansatzes gestellt. Der Spielcharakter bestimmt sowohl die Interaktion mit dem Publikum als auch die Interaktion der Spieler untereinander. Weiterhin hat sich um das Improvisationstheater als Aufführungsform eine ausufernde Spielkultur gebildet [4]: Die entwickelten Spiele sind in der Theaterpädagogik ubiquitär, prägen viele Schauspielausbildungen, werden auf Partys, Schulhöfen, Freizeiten usw. gespielt. Improvisation und Spiel sind also untrennbar miteinander verbunden“ (248). „Auch der Rückbezug von Moreno, Spolin und Johnstone auf das Kinderspiel verknüpft das Improvisationstheater mit dem Wunsch nach ursprünglicher, ganzheitlicher Erfahrung“ (249).
Fazit
Lösels Arbeit beruht auf umfassender Kenntnis von (Vor)-Geschichte, Struktur, Literatur und Praxis des Impro-Theaters. Durch die Konfrontation mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen wird es in vielen Facetten deutlich und immer wieder auf den Begriff gebracht. Also ein Muss für Impro-Spieler und noch mehr für Impro-Lehrende und von hohem Interesse für Theaterwissenschaftler. Wegen der engen „Beziehung des Improvisationstheaters zum Spiel“ (247), die Lösel vielfach aufgreift und vertieft, ist es zudem für Spielpraktiker jeder Art und Spieltheoretiker nützlich.
[1] Nach „Spontanitätslage“ folgt bei Lösel ein unverständlich-sinnloses „wurde“; ich habe es aus dem Zitat gestrichen.
[2] Ich halte das einerseits für banal, weil selbstverständlich (in jeglicher Interaktion von Menschen spielen gegenseitige geplante und ungeplant-unbewusste Beeinflussungen mit), andererseits für übertrieben (das Ergebnis der Interaktion wird von diesen Beeinflussungen nicht „hervorgebracht und gesteuert“). Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis Lösels auf Copeaus „Konzept der Neutralität“ (76). „Die Impulse dazu kamen aus den neuen Körpertechniken von Émil Jacques Dalcroze (sic! muss heißen Émile Jaques-Dalcroze)und Frederick Mathias Alexander“ (76).
[3] In Lösels Text folgt nach „dieser“ ein sinnloses „der“; es ist hier gestrichen.
[4] „Möglicherweise ist es auch anders herum: Das Improvisationstheater hat sich aus einer theatralen Spielkultur heraus entwickelt. Siehe hierzu beispielsweise die Ausführungen in DÖRGER & NICKEL 2008, S. 46 ff.“ (Nota bene: Dies ist ein Zitat aus Lösel, 248).
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Zitiervorschlag
Hans Wolfgang Nickel. Rezension vom 18.09.2014 zu:
Gunter Lösel: Das Spiel mit dem Chaos. Zur Performativität des Improvisationstheaters. transcript
(Bielefeld) 2013.
ISBN 978-3-8376-2398-7.
Reihe Theater Band 56.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15262.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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