Ingo Stützle: Austerität als politisches Projekt
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.08.2013

Ingo Stützle: Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2013. 399 Seiten. ISBN 978-3-89691-938-0. D: 36,90 EUR, A: 38,00 EUR, CH: 49,90 sFr.
Das politische Spannungsfeld zwischen privaten Interessen und staatlicher Politik
Nehmen wir die Prämisse Ernst, dass der Mensch als vernunftbegabtes, nach einem guten Leben strebendes Lebewesen und fähig ist, solidarisch und gerecht in Gemeinschaft mit den Mitmenschen zu existieren, kommt der Zuordnung, dass er gleichzeitig ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen ist, eine entscheidende Bedeutung zu (siehe dazu auch: Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11988.php). Zwar zeigt sich in der Geschichte der Menschheit, dass die Frage, ob der Mensch ein Wolf oder ein Lamm sei, nicht geklärt ist (Marcus Llanque, Geschichte der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14296.php) und dass wir Menschen noch einen erheblichen Nachholbedarf beim humanen und friedlichen Denken und Tun haben (John Rawls, Hrsg., Geschichte der politischen Philosophie, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/7642.php), weil der Zwiespalt zwischen Macht und Moral den Interessenwidersprüchen der Menschen unterliegt (Wolfgang Kersting, Macht und Moral. Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11429.php); doch gerade im aktuellen Diskurs um Friedfertigkeit, Gerechtigkeit und Werthaftigkeit des menschlichen Daseins auf der Erde zeigen sich Trends, die mehr hoffen als verzweifeln lassen, dass sich realisieren ließe, was in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorangestellt wird: Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bilden die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt (Joseph Nye, Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13126.php). Es wächst auch die Erkenntnis, dass jeder Mensch in seinem individuellen und gesellschaftlichen Denken und Tun tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit mit sich trägt (Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10879.php). Nicht dem Menschen gehört die Erde, sondern er ist ein Teil von ihr (Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php).
Dieser Perspektivenwechsel hat Konsequenzen; und zwar sowohl für das individuelle, als auch für das lokale und globale gesellschaftliche Dasein (Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php). Der Gedanke, dass die Eine Welt bei uns beginnt, muss ja zur Folge haben, dass wir Menschen lernen, selbst zu denken und nicht denken zu lassen (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php), dass wir unser alltägliches Denken und Handeln mit der Frage nach dem ökonomischen Ethos verbinden (Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12902.php) und Krisenkompetenz erwerben (Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15271.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Ob es der Kassandrarufe bedarf, um Lebens- und Weltbewusstsein zu erlangen (Detlef Horster, Hrsg., Untergang des Abendlandes? Die Zukunft der europäischen Kultur in der Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13651.php), oder ob eine Korrektur der menschlichen Hybris neue Ufer eines gemeinsamen humanen (Über-)Lebens der Menschheit anzeigt (Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt: Zäsuren abendländischer Epistemologie, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/14403.php) – braucht nicht alternativ gedacht werden; vielmehr kommt es darauf an, gegen die allseits vorfindbare strukturierte Verantwortungslosigkeit vorzugehen (Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hrsg.): Soziologie der Finanzmärkte, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14102.php). Dass dabei der ungezügelte und skrupellose Kapitalismus auf der Anklagebank sitzt, braucht niemandem zu wundern (Saral Sarkar, Hrsg., Die Krisen des Kapitalismus. Eine andere Studie der politischen Ökonomie, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12301.php). Die Argumentations- und Angriffsstrategien sind dabei durchaus unterschiedlich und nicht immer logisch (Jürgen Meier, „Amokläufe zum Ich…“. Der Kommunismus als Voraussetzung des Individualismus, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11802.php). Ein Gedanke zieht sich allerdings durch alle Diskussionsstränge: Die Sehnsucht nach Freiheit ist in uns (Bernd Ladwig, Moderne politische Theorie. Fünfzehn Vorlesungen zur Einführung, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7790.php; sowie: Bernd Ladwig / Timo Pongrac, Hrsg., Moderne politische Theorie. Materialband, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15227.php); und ein weiterer bestimmt den Diskurs, nämlich „die soziale Kooperation in durch Diversität gekennzeichneten Gesellschaften in der möglichen Einigung zwischen vernünftigen Bürgern über die Grundprinzipien ihrer politischen Gemeinschaft (zu) verankern“ (Jocelyn Maclure / Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12786.php).
Gewachsene, etablierte und hegemonial sich durchgesetzte politische Systeme bestimmen, nach der Theorie des dialektischen Materialismus, die Lebensbedingungen der Menschen in den jeweiligen Gesellschaften. Das strukturierende Prinzip einer Gesellschaft hängt demnach von den Verhältnissen in einer Gesellschaft ab: „Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Ihre materiellen Verhältnisse sind die Basis aller ihrer Verhältnisse“ (Karl Marx, 1846). Der Politikwissenschaftler Ingo Stützle outet sich als Kapitalismus- und Neoliberalismuskritiker. Seine differenzierte Betrachtungsweise und Argumentation hebt sich dabei wohltuend von den Alles-oder-Nichts-Vertretern der Pro- und Contra-Fronten im lokalen und globalen Gesellschaftsdiskurs ab: „Der Keynesianismus ist nichts anderes als das schlechte Gewissen des Kapitalismus, das Über-Ich der Bourgeoisie, das beständig mit der destruktiven Natur des Kapitals und der Profitlogik kollidiert. Statt aber die Lohnabhängigen mit hohen Löhnen und einer anderen Wirtschaftspolitik mit Wirtschaftswachstum zu versöhnen, die immer Lohnabhängigkeit und Profitlogik festschreibt, sollte eine breite gesellschaftliche Debatte darüber begonnen werden, wie jenseits von Staat und Profitlogik, Kapital und Lohnarbeit gesellschaftliche Reproduktion aussehen könnte“ (in einem blog vom 2. 5. 2013).
Der Diplompolitologe Ingo Stützle ist Redakteur bei ak – analyse & kritik und bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig. Er hat zum Thema „Ausgeglichener Staatshaushalt als hegemoniales Projekt“ promoviert. Seine darauf aufbauende und umfassendere Habilitationsschrift „Der ausgeglichene Haushalt als Paradigma und politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Euro-Krise“ hat er 2012 im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg eingereicht. Mit dem Titel „Austerität als politisches Projekt“ legt er nun die Arbeit vor.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit wird, neben der Einleitung, in sechs Kapitel gegliedert. Im ersten Teil wird die Thematik „Staatsverschuldung im Lichte der wirtschaftstheoretischen Paradigmen“ dargestellt; im zweiten geht es um den Zwiespalt „Zwischen ökonomischen Zwängen und politischer Kultur: Grenzen der Staatsverschuldung“; im dritten Kapitel wird „der lange Abschied vom Keynesianismus in Wissenschaft und Politik“ zelebriert; im vierten wird dargelegt: „Die Prämisse ‚gesunder‘ Staatsfinanzen: Die Wirtschafts- und Währungsunion als Bewegungsform für monetäre Konvergenz und ökonomische Divergenz“; im fünften wird aufgezeigt: „Vom ausgeglichenen Staatshaushalt zum Regime der Austerität“; und in der Schlussbetrachtung werden die sich daraus entwickelnden Ergebnisse und Konsequenzen angesichts der Weltwirtschaftskrise verdeutlicht.
Die sich in der politischen Ökonomie historisch herausgebildeten Entwicklungen und hegemonialen Paradigmen wirtschaftlichen Denkens und Handelns haben in den Industriestaaten vor allem in der Neoklassik zur Geburt des homo oeconomicus beigetragen und mit dem Keynesianismus eine bis heute andauernde Vormachtstellung – Nicht-Neutralität des Geldes und Hierarchie der Märkte – erreicht (vgl. dazu auch: Jacques Le Goff, Geld im Mittelalter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13533.php; sowie: Tilmann Moser, Geld, Gier & Betrug. Wie unser Vertrauen missbraucht wird – Betrachtungen eines Psychoanalytikers, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13080.php; siehe auch: Richard Edtbauer / Alexa Köhler-Offierski, Hrsg., Welt- Geld – Gott, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14494.php). Die – notwendige oder entbehrliche – Staatsverschuldung (siehe dazu auch: David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13486.php) stellt sich hier als eine scheinbar alternativlose Konsequenz monetären staatlichen Handelns heraus: „Zins und Tilgung für die Staatsanleihen werden durch Steuern finanziert – oder durch Neuverschuldung“.
Grenzen der Staatsverschuldung zeigen sich in unterschiedlicher Weise: gesetzlich-konstitutionell, ökonomisch und diskursiv-politisch. Die Entstehungs-, Entwicklungs- und Dominanzeffekte werden an den historisch-kulturellen und politischen Traditionen in Frankreich und Deutschland verdeutlicht, und zwar den einerseits unterschiedlichen, wie auch den andererseits gleich oder ähnlich verlaufenden Prozessen.
Das „Ende von Bretton Woods“, dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems Anfang der 1970er Jahre, hat die Dominanz des europäischen Währungssystems – mit der Leitwährung der D-Mark – begünstigt bzw. erst ermöglicht und bei den beginnenden europäischen Einigungsbestrebungen gewissermaßen Vorbildcharakter erhalten. Die Vorstellung vom „schlanken Staat“, der sich als Akteur aus den Finanzmärkten heraushalten soll, bestimmte die neoliberale Entwicklung, allen voran in Deutschland und Frankreich.
Der „schlanke Staat“ soll gleichzeitig ein „gesunder Staat“ mit „gesunden“ Staatsfinanzen sein. Diese Prämisse bestimmt die Gründung und Entwicklung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, die sich – das dokumentiert der Autor in dezidierter und akribischer Weise – einerseits in Dominanzauseinandersetzungen zwischen den europäischen (Groß-)Mächten, andererseits in der Abstinenz der (Verlierer-)Macht Großbritannien darstellte.
Die Gründung der Europäischen Zentralbank (1998), die bereits im Vertrag von Mastricht (1992) avisiert wurde, war Anlass, die Stabilität des gemeinsamen europäischen Geldes, des Euro, als Grundlage für „gesunde Staatsfinanzen“ festzulegen und einen Stabilitätspakt „als politisches Disziplinierungsinstrument“ zu beschließen „Resultat ist, dass Deutschland in Form des SWP (Stabilitäts- und Wachstumspakt) seine hegemoniale Position in Europa sicherte“.
„Das Leitbild des ausgeglichenen Staatshaushalts entspringt … keiner ökonomischen Notwendigkeit, sondern ist ein politisches Projekt, mit dessen Hilfe Deutschland im Zuge der Einführung der Gemeinschaftswährung seine Stabilitätskultur europäisierte“. Der Preis dafür ist, unter der Zielsetzung einer wirklichen, gleichberechtigten europäischen Einigung, hoch: Die Krise der europäischen Integration zeigte sich spätestens 2005/2006, als Frankreich und die Niederlande die Einführung der EU-Verfassung ablehnten, in deren Entwurf vom 20. Juni 2003 es in der Präambel u. a. heißt:„In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist… In der Überzeugung, dass ein nunmehr geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will…“ (Europäischer Konvent, Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, Luxemburg 2003, S. 5). Die sich verschärfenden und weiterhin andauernden globalen und europäischen Wirtschafts- und Finanzkrisen haben ihren Resonanzboden im Finanzmarkt-Kapitalismus (der mit den Schlagwörtern „Raubtierkapitalismus“ – Peter Jüngst: „Raubtierkapitalismus“? Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, 2004, www.socialnet.de/rezensionen/1787.php - und „Kamikaze-Kapitalismus – David Graeber, Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum herrschenden System, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13337.php – in das Repertoire der Kapitalismuskritik eingegangen ist ).
Fazit
Die bereits vor dem Ausbruch der Weltwirtschafts- und Eurokrise begonnene Arbeit zur Frage, welche Stränge, Schneisen und Zäune das finanzpolitische Regime der Austerität in den europäischen Einigungsprozess bringt, wie sich Dominanzen, Macht und Überheblichkeit bilden, Gewinner und Verlierer im euro- und global-ökonomischen Prozess entstehen, zeigt mit einer historischen Rekonstruktion die drei wichtigsten Phasen der europäischen Vergemeinschaftung auf: „Vom Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods zum Europäischen Währungssystem – Von diesem zum gemeinsamen EG-Binnenmarkt – Von dem zur Wirtschafts- und Währungsunion. Dabei legt der Autor den Finger in die vielen (Operations-)Wunden und verdeutlicht: Wie Europa wurde, was es (derzeit) ist!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.08.2013 zu:
Ingo Stützle: Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise. Verlag Westfälisches Dampfboot
(Münster) 2013.
ISBN 978-3-89691-938-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15280.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
Urheberrecht
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