Stephanie Witt-Loers, Birgit Halbe: Kindertrauergruppen leiten
Rezensiert von Dr. Mechthild Herberhold, 25.02.2014
Stephanie Witt-Loers, Birgit Halbe: Kindertrauergruppen leiten. Ein Handbuch.
Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
(Gütersloh) 2013.
255 Seiten.
ISBN 978-3-579-06845-9.
D: 24,99 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 35,50 sFr.
Mit CD-ROM.
Thema und Entstehungshintergrund
Wenn Eltern, Großeltern, Geschwister oder SchulkameradInnen sterben, finden sich Kinder vielfach unvorbereitet in Trauerprozessen wieder. „Anders als Erwachsene haben Kinder oftmals aber nur wenige persönliche, emotionale und kognitive Möglichkeiten, das Erfahrene zu deuten, weil das Reservoir ihrer Kenntnisse und Lebenserfahrungen noch klein ist“ (15). Viele Kinder reagieren sehr sensibel auf die Trauer der Erwachsenen, wollen sie entlasten und ziehen sich zurück. Zudem verändert sich das Bild von Tod und Trauer im Kindes- und Jugendalter sehr deutlich. Bei der Bewältigung von Trauersituationen brauchen Kinder daher besondere Unterstützung, um sich und andere zu verstehen, sich der Trauer zu stellen und das Leben mit dieser Erfahrung neu zu gestalten.
Familienmitglieder sind in der Regel mit ihrer eigenen Trauer befasst und können Kinder nicht immer ausreichend unterstützen. Gruppen mit Gleichaltrigen in ähnlichen Situationen, die von ausgebildeten TrauerbegleiterInnen geleitet werden, sind hier eine wertvolle Ergänzung.
Das im Buch vorgestellte DellTha-Konzept ist aus der Zusammenarbeit des Instituts für Trauerbegleitung „Dellanima“ in Bergisch-Gladbach und des Kindertrauerzentrums „Thalita“ in Olpe entstanden. Es verbindet das Angebot für trauernde Kinder mit der Begleitung ihrer Bezugspersonen.
Autorinnen
Die beiden ausgebildeten Trauerbegleiterinnen ermöglichen in ihrem Buch einen Einblick in ihren theoretischen Hintergrund und ihre praktische Arbeit.
Stephanie Witt-Loers (geboren 1964) war mehrere Jahre in der Hospizarbeit tätig. Seit 2008 begleitet sie in ihrem Institut Dellanima (Bergisch-Gladbach) Trauernde einzeln und in Gruppen. Einer ihrer Schwerpunkte ist Kindertrauer. Von ihr sind bereits mehrere Fachbücher und Artikel zur Trauer von Kindern und Jugendlichen erschienen. Zudem bietet sie Fortbildungen zum Bereich Sterben, Tod und Trauer für verschiedene Berufsgruppen an, die mit der Begleitung Trauernder befasst sind.
Birgit Halbe (geboren 1953) ist von Hause aus Erzieherin, in Jeux Dramatiques ausgebildet und war Leiterin einer heilpädagogischen Einrichtung sowie eines Regelkindergartens. Sie hat das erste Deutsche Kinderhospiz Balthasar in Olpe mit aufgebaut und ist seit 1998 dessen Pädagogische Leiterin. Im dortigen Kindertrauerzentrum Thalita begleitet sie Kinder, die um Eltern, Geschwister oder andere wichtige Menschen trauern. Auch sie führt Veranstaltungen zu Kindertrauer und weiteren verwandten Themen durch.
Aufbau
Nach einem Vorwort von Joachim Windolph und einer Einleitung der beiden Autorinnen besteht das Buch aus zwei großen Teilen, von denen der erste die Arbeit mit Kindern, der zweite die Arbeit mit Eltern und Bezugspersonen thematisiert.
Auf der beiliegenden CD-ROM finden sich das vollständige Buch in pdf-Form und die (im Buch nicht abgedruckten) Literaturlisten zu beiden Teilen. Darüber hinaus enthält die CD-ROM Musik- und Filmhinweise, weiterführende Literatur, Sachinformationen sowie Bildbetrachtungen, Fantasiereisen, Fotos und weitere Materialien als Anregungen für die Arbeit mit trauernden Kindern.
Zu Teil 1 „Kindertrauergruppen leiten – Theorie und Praxis“
Im ersten Teil (17-204) führt Stephanie Witt-Loers in die Theorie und Praxis der Leitung von Kindertrauergruppen ein. Unter der Überschrift „Kinder und Trauer“ (Kapitel 1, 18-91) informiert sie zunächst über „Grundsätzliches zur Trauerarbeit mit Kindern und Familien“ (18-24) und geht auf die „Themen Sterben, Tod, Trauer in der Entwicklung von Kindern“ (25-39) ein. „Kinder trauern wie Erwachsene so schwer, so lange und doch nicht gleich. Weil sich ihre Trauer anders ausdrückt, wird sie oft als solche nicht erkannt, gewürdigt und begleitet“ (19f). So brauchen etwa Kinder immer wieder „trauerfreie Räume und Zeiten“ (21), die von anderen Menschen oft als Nicht-Trauer fehlinterpretiert werden. Witt-Loers vertritt einen systemischen Ansatz und nimmt die weiteren Familienmitglieder, deren Trauer und die Rollenveränderungen ebenfalls in den Blick. „Selten haben alle Familienmitglieder gleichzeitig mit der gleichen Traueraufgabe zu tun“ (22). Ihre Hinweise auf ein altersentsprechendes Todesverständnis will die Autorin lediglich als ungefähre Anhaltspunkte verstanden wissen und empfiehlt, „jedes einzelne Kind, seine Lebensgeschichte und seine persönlichen Todesvorstellungen“ (30) wertzuschätzen.
Witt-Loers stellt „Traueraufgaben und Trauerprozesse“ im Allgemeinen (40-57) und „Trauerreaktionen und Trauerprozesse bei Kindern“ im Speziellen vor (58-67). In ihre Arbeit fließen insbesondere das „Duale Prozessmodell der Bewältigung von Verlusterfahrungen (DPM)“ und das von Chris Paul erweiterte „Aufgabenmodell nach James William Worden“ ein. Trauerreaktionen bei Kindern drücken sich auf der körperlichen, der psychischen, der sozialen und der Verhaltensebene aus. Kein Kind trauert wie das andere, biografische Faktoren und Vorerfahrungen mit Verlusten beeinflussen den Trauerprozess ebenso wie die Beziehung zu der verstorbenen Person oder die individuelle Resilienz. Auf drei Gruppen geht die Autorin etwas ausführlicher ein: trauernde Geschwisterkinder (68-74), trauernde Kinder nach vorausgehender Trennung der Eltern (75-86) und trauernde Kinder nach dem Suizid eines Angehörigen (87-91).
Zahlreiche Praxisbeispiele finden sich vor allem in diesem ersten Kapitel: Fragen, Aussagen, Schwierigkeiten, Verhaltensweisen und Erkenntnisse von Kindern in verschiedenen Situationen veranschaulichen die theoretischen Ausführungen.
Das DellTha-Konzept versteht sich als „eine Art ‚Handwerkskoffer‘, der ein den Kindern angepasstes Arbeiten ermöglichen soll“ (93). Stephanie Witt-Loers erläutert es ausführlich im zweiten Kapitel (92-128). Die Kindertrauergruppe ist eine mögliche Begleitungsform unter vielen anderen; nichtsdestotrotz kann sie einen wesentlichen Beitrag im Trauerprozess der Kinder leisten. „Kindertrauergruppen haben das Ziel, das gegenseitige Verständnis und den Prozess des Trauerns im System Familie zu fördern und dabei die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit des individuellen Umgangs mit dem Verlust zu ermöglichen“ (98). An die BegleiterInnen stellt die Leitung von Kindertrauergruppen hohe Anforderungen. Sie brauchen Sachwissen, um Informationen weiterzugeben, Flexibilität, um auf aktuelle Situationen zu reagieren, Respekt vor den individuellen Trauerprozessen, um auf jedes Kind einzugehen, und sie müssen um ihre Grenzen wissen, um ggf. eine therapeutische Unterstützung anzuregen. Mit kreativen Methoden, Gesprächen, Filmen, Ritualarbeit, Rollenspielen und vielen weiteren Ansätzen lädt das DellTha-Konzept die Kinder ein, ihre Trauer auszudrücken, Fragen zu stellen und eine neue Beziehung zu Verstorbenen zu entwickeln. Das DellTha-Konzept bezieht dafür die oben genannten Traueraufgaben nach J.W. Worden auf die Begleitung von Kindern. Für die praktische Umsetzung der inhaltlichen Anregungen weist Witt-Loers auf hilfreiche Rahmenbedingungen wie die Struktur der Trauergruppe, geeignete Räume und Materialien hin und gibt Tipps zur Vorbereitung etwa für Vorgespräche, Gruppenzusammensetzung, Dokumentation und Qualitätssicherung.
Das dritte Kapitel erläutert die „Voraussetzungen für die Praxis der Arbeit in der Kindertrauergruppe“ (129-203) und geht ausführlich auf Inhalte und Methoden ein. Witt-Loers hat Fragen zusammengestellt, die vor dem Start zu klären sind – etwa zu Bedarf, Zielsetzung und Finanzierung. Sie formuliert wesentliche Grundhaltungen der Begleitenden wie Wertschätzung, Selbstkongruenz und Klarheit. Zahlreiche Praxisbausteine und Ausführungen zu Ritualen machen anschaulich, wie die Autorin selbst arbeitet: „In der Trauergruppe bekommen Kinder (…) viele Möglichkeiten, sich selbst als tatkräftig, erfindungsreich und selbstmächtig zu erfahren“ (140). Die Gruppentreffen verlaufen nach einer festen Struktur, die den Kindern Sicherheit gibt und gleichzeitig offen bleibt für spontanen Ausdruck. Exemplarisch stellt die Trauerbegleiterin acht Gruppenstunden mit je eigenem thematischen Schwerpunkt vor. Zu jedem Treffen nennt sie das Ziel, gibt Hinweise zur Vorbereitung und füllt die gleich bleibende Struktur mit den jeweils relevanten Inhalten. Texte, Fotos und weitere Anregungen finden sich auf der beiliegenden CD-ROM. Ein Schlusswort schließt die Ausführungen von Stephanie Witt-Loers ab.
Zu Teil 2 „Ergänzende Eltern- und Bezugspersonenarbeit im DellTha-Konzept“
Die Arbeit mit Eltern und Bezugspersonen stellt Birgit Halbe im zweiten Teil vor (205-255). Ausgangspunkt für dieses Angebot ist die Beobachtung, dass häufig „Familienmitglieder bemüht sind, sich gegenseitig zu schonen… Nicht selten kann dies zu Missverständnissen oder Vorwürfen führen und die familiäre Atmosphäre tiefgreifend stören“ (206). Für die Bezugspersonenarbeit haben sich die Autorinnen unter anderem zum Ziel gesetzt, die „Familienmitglieder darin zu bestärken und zu befähigen, sowohl ihren persönlichen als auch ihren gemeinsamen Trauerweg zu finden“ (208). Die Begleitung der Erwachsenen unterstützt somit die Bezugspersonen selbst, indirekt aber auch wiederum die Kinder in den Familien.
Halbe geht im ersten Kapitel zunächst auf „grundsätzliche Aspekte zur Trauer bei Erwachsenen“ ein (209-221) und bezieht sich dafür auf die Trauerphasen nach John Bowlby und die Traueraufgaben nach James William Worden. Dass ein Kind stirbt, fühlt sich für die Eltern falsch an. Ein solcher Tod „löst … Schock, tiefe Verzweiflung und Hilflosigkeit aus und führt viele Eltern an die Grenzen ihrer Belastbarkeit“ (214). Eigens weist die Autorin auf die Trauer von Großeltern hin, die vielfach unterschätzt wird. Das Kindertrauerzentrum begleitet auch pädagogisches Fachpersonal aus Jugendhilfeeinrichtungen, die wichtige Bezugspersonen trauernder Kinder sein können.
Im DellTha-Konzept werden mehrere Angebote für Eltern und Bezugspersonen kombiniert (zweites Kapitel, 222-228). So können Interessierte zunächst an offenen Informationsveranstaltungen teilnehmen. Wenn die Kinder bereits für eine Trauergruppe angemeldet sind, gibt es eine geschlossene Informationsveranstaltung für Bezugspersonen. Diejenigen Bezugspersonen, die nur unregelmäßig kommen können, finden im offenen Elterncafé Austauschmöglichkeiten und Begleitung. Parallel zu den Treffen der Kinder wird eine geschlossene Trauergruppe angeboten. Öffentlichkeitsarbeit und Kooperation mit weiteren Institutionen ermöglichen es, die Eltern und Bezugspersonen auch zu erreichen bzw. ggf. weitergehende Hilfe anzubieten.
Thema des dritten Kapitels sind die erforderlichen Rahmenbedingungen. Von entscheidender Bedeutung ist auch hier die Ausbildung und Qualifikation der TrauerbegleiterInnen. Die Räume sollten so weit voneinander entfernt sein, dass sie beiden Gruppen ein vertrauliches Arbeiten ermöglichen, und gleichzeitig so nah sein, dass die Kinder wissen, wo ihre Bezugspersonen sich befinden. Zudem geht Halbe hier auf Anmeldemodalitäten und Kosten ein.
Das vierte Kapitel gibt „praktische Anregungen zur Arbeit mit Eltern und Bezugspersonen im DellTha-Konzept“. Birgit Halbe erläutert, welche Erfahrungen und Kompetenzen eine Leitung haben sollte, und stellt die Grundstruktur von acht Treffen vor, die - angelehnt an die Treffen der Kinder – verschiedene Themenschwerpunkte setzen. Ähnlich wie im ersten Teil sind auch hier die Treffen skizziert, verschiedene Materialien sind auf der beiliegenden CD-ROM enthalten.
Diskussion
„Kindertrauergruppen leiten“ überzeugt durch die Verbindung von Theorie und Praxis, genauer gesagt durch ausführliches Hintergrundwissen, organisatorische Hinweise, konkrete Anregungen zur Durchführung und eine Fülle an Materialien. Explizit weisen die Autorinnen darauf hin, dass für die Trauerbegleitung von Kindern eine qualifizierte Ausbildung erforderlich ist; sie richten sich also mit ihrem Buch in erster Linie an KollegInnen. Fachlich fundiert, praxisnah und verständlich stellen die beiden Trauerbegleiterinnen vor, wie Unterstützung für trauernde Kinder aussehen kann. Quellennachweise finden sich an ausgewählten Stellen, die Literaturliste auf der CD-ROM ermöglicht eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema. Durchgehend ist spürbar, mit welch großer Wertschätzung Stephanie Witt-Loers und Birgit Halbe trauernden Kindern und Erwachsenen begegnen. Im Zentrum des Buches steht wie der Buchtitel nahe legt die Begleitung von Kindern; entsprechend ist der erste Hauptteil deutlich umfangreicher als der zweite.
Die beiden Hauptteile sind aufeinander bezogen, jedoch jeweils in sich abgeschlossen. Das führt insbesondere in den Theorieteilen zu Redundanzen, was verzichtbar erscheint, wenn man das ganze Buch liest. Für LeserInnen, die sich auf ausgewählte Kapitel konzentrieren, ist jedoch gerade das von Vorteil.
Fazit
Das beeindruckende Buch sei allen empfohlen, die mit trauernden Kindern arbeiten. Für TrauerbegleiterInnen ermöglicht es einen interessanten Einblick in die Arbeit der Kolleginnen von Dellanima und Thalita. Aber auch alle anderen Berufsgruppen, die mit der Trauer von Kindern konfrontiert werden – etwa in der Schule, in Heimen und Kindertagesstätten, in Jugendämtern, in Kinderkrankenhäusern, in der Kirchengemeinde etc. – erhalten hilfreiche Informationen über Trauerprozesse und wertvolle Impulse für konkrete Begegnungen. Die beiliegende CD-ROM enthält eine wahre Fundgrube an kreativen Methoden.
Rezension von
Dr. Mechthild Herberhold
Ethik konkret, Altena (Westf.).
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Es gibt 16 Rezensionen von Mechthild Herberhold.
Zitiervorschlag
Mechthild Herberhold. Rezension vom 25.02.2014 zu:
Stephanie Witt-Loers, Birgit Halbe: Kindertrauergruppen leiten. Ein Handbuch. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
(Gütersloh) 2013.
ISBN 978-3-579-06845-9.
Mit CD-ROM.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15294.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
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