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Peter A. Berger, Heike Kahlert (Hrsg.): Institutionalisierte Ungleichheiten

Rezensiert von Prof. Dr. Dirk Plickat, 06.12.2013

Cover Peter A. Berger, Heike Kahlert (Hrsg.): Institutionalisierte Ungleichheiten ISBN 978-3-7799-1590-4

Peter A. Berger, Heike Kahlert (Hrsg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2013. 3. Auflage. 256 Seiten. ISBN 978-3-7799-1590-4. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.
Reihe: Bildungssoziologische Beiträge.

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Thema

Obwohl die Reproduktion und Kumulation von Segregationsprozessen im Bildungswesen der Bundesrepublik Dauerthema in Verlautbarungen öffentlicher Unzufriedenheit und wissenschaftlicher Fachdiskurse ist, zeigen sich Kultuspolitik und Bildungsverwaltungen beharrlich beratungsresistent. Wie bereits seit dem ersten OECD Länderexamen „Bildungswesen mangelhaft“ aus dem Jahre 1973 werden anhaltend auch Mängelrügen ausgesessen und ignoriert, bis der Bevölkerung von Strukturdefiziten ablenkende Erfolge gemeldet werden können. Das eherne Festhalten an der vordemokratischen Architektur unter nunmehr neoliberalen Vorzeichen wird nur selten von verantwortlicher Politik mit Argumentationsfiguren legitimiert, die mehr bieten als Trivialkonstrukte in der Verlängerung von Motiven aus der Tradition der „volkstümlichen Bildung“. Gern wird zudem kultuspolitisch auf das Festhalten an Bewährtem verwiesen, zumal ja die Standortentwicklung Deutschlands den Kurs eingeleiteter Reformen bestätigen würde. Ausgeblendet bleiben sog. Versager und Verlierer ebenso wie auch die unbequeme Frage nach den Gewinnern struktureller Ungleichheit. Das dogmatische Mantra deutscher Kultuspolitik wird gern damit unterlegt, dass der deutsche Weg in seiner Richtigkeit auch wissenschaftlich belegt sei. Auch wenn damit an scheibenförmigen Weltbildern festgehalten wird – und „Kultuspolitik noch (immer D.P.) nicht in der Demokratie angekommen ist“ (Hamm-Brücher), stabilisieren sich doch aufgeklärte Kreise, die massive Glaubwürdigkeitsprobleme unterstellen und sich dem optimistischen Mantra pädagogischen Fortschritts verweigern.

Die nunmehr 3. Auflage dieser Studien ist symptomatischer Beleg dafür, dass sich Dank Soziologie und Erziehungswissenschaft auch bildungspolitische Fragen nicht einfach für beendet erklären lassen können.

Herausgeber und Herausgeberin

Die Herausgeber, Peter A. Berger ist Hochschullehrer für Allgemeine Soziologie -Makrosoziologie an der Universität Rostock und Heike Kahlert arbeitet als promovierte Soziologin in der Funktion einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin ebenfalls an der Universität Rostock, sind seit gut einer Dekade durch gehaltvolle und ausgeprägt kritisch-reflexive Studien zu aktuellen sozialen Syndromen ausgewiesen. Für die vorliegende Publikation ist es den beiden Herausgebern gelungen, dreizehn weitere und zum Teil weit über Fachkreise hinaus bekannte Kolleginnen und Kollegen aus Hochschulen, Bildungs-, Arbeitsmarkt und Berufsforschung sowie Forschungsfeldern sozialer Ungleichheit einzubinden.

Aufbau und Inhalt

Die Bestandsaufnahmen und Verhandlungen zur Kumulierung sozialer Ungleichheiten im Bildungswesen erfolgen in dieser Schrift in drei Abschnitten. Anknüpfend an die Einführung der Herausgeber dient der erste Teil einer Näherung an die aktuellen Grundstrukturen sozialer Ungleichheit.

Im ersten Teil „Bildung als Institution: (Re-)Produktionsmechanismen sozialer Ungleichheit“ führen die Herausgeber in die Studie ein und weisen die Zielsetzung der Lückenschließung in der verknüpfenden Einbindung organisationssoziologischer Fragen mit Betrachtungen zur sozialen Ungleichheit im Bildungswesen aus. Erläutert wird vor dem Hintergrund der strukturellen Verfestigungen von Disparitäten, welches Fragegerüst an die weiteren Autorinnen und Autoren herangetragen wurde. Zu diesen Fragen gehören Rolle und Funktion von Institutionen bei der Herstellung oder beim Abbau ungleicher Bildungschancen im Hinblick auf Kategorien wie Geschlecht, soziale Herkunft oder ethische Zugehörigkeit, Identifikation und Bedeutung von zentralen individuellen und kollektiven Akteuren, segregierend wirkenden organisatorischen Handlungsmustern, Filtern und Zerrbildern in der Wahrnehmung von chancenbezogenen Disparitäten sowie Ansatzpunkte und Träger von sozialen Wandlungsprozessen in Richtung von mehr Chancengleichheit.

Heike Solga entmystifiziert in ihrem Beitrag „Meritokratie – die moderne Legitimation ungleicher Bildungschancen“ das immer wieder kultuspolitisch gern bemühte Märchen des Erfolges durch Leistung.

Die sozialen Schieflagen in Ausbau und Ausgestaltung des Bildungswesens werden von Michael Vester unter dem Titel „Die selektive Bildungsexpansion. Die ständische Regulierung der Bildungschancen in Deutschland“ thematisiert. Herausgearbeitet wird in diesem Beitrag die Fortschreibung von Bildung als bürgerliches Standesprivileg unter modernen Vorzeichen unter Nutzung sozial exkludierender Rahmensetzungen.

Rainer Geißler greift die Veränderungen in der Sozialstruktur in der Frage der Teilhabe an Bildung auf. Unter dem Titel „Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn: Zum Wandel der Chancenstruktur im Bildungssystem nach Schicht, Geschlecht, Ethnie und deren Verknüpfungen“ bietet dieser Beitrag Erklärungen zu den Hintergründen und Mechaniken in der Überwindung „klassischer“ bei gleichzeitiger Generierung neuer Formen der Bildungsbenachteiligung.

Im zweiten Teil „Institutionelle Barrieren und soziale Selektivität in der Schule“ dienen drei Studien der exemplarischen Konkretisierung zur institutionalisierten Verankerung sozialer Ungleichheit.

Daniel Dravenau und Olaf Groh-Samberg zeigen in ihrem Beitrag „Bildungsbenachteiligung als Institutioneneffekt. Zur Verschränkung kultureller und institutioneller Diskriminierung“ vor dem Hintergrund älterer und neuerer Theoreme zu Schule und sozialer Ungleichheit u.a. auf, wie selbst eigentlich egalisierende und kompensatorische Konzepte als Folge eines unterkomplexen Denkens der Ungleichheitsmechanik der Institution Schule letztlich auch wieder nur eine Fortschreibung von Bildungssegregation befördern. Ausgesprochen hilfreich und befruchtend für Fachdiskussionen erscheint die präzise und anschaulich von den Autoren aufgegriffene Trennung zwischen kulturellem und institutionellem Kapital; vor allem als möglicher Ansatzpunkt in der ausstehenden Demokratisierung dessen, was und wie für welche Klientel in Schule ‚erfolgreiche‘ Leistung unter der Perspektive der Unterordnung unter ein Patronat oder der Teilhabe bemessen wird.

Dorothee Kaesler verhandelt zum Thema „Sprachbarrieren im Bildungswesen“ eine Thematik, die heute vergessen scheint, obwohl die Problemlagen, die Basil Bernstein und mit ihm die Soziolinguistik bereits vor Jahrzehnten thematisierte, von ungebrochener Aktualität sind. Es mag bezeichnend für die Fachdebatten um heutige Sprachförderung sein, dass eine soziologische Erinnerung an die „Klassik“ notwendig erscheint.

Steffen Hilmert und Marita Jacob gehen in ihrem Beitrag „Zweite Chance im Schulsystem? Zur sozialen Selektivität bei ‚späteren‘ Bildungsentscheidungen“ der Frage nach, inwieweit Nachholmöglichkeiten in späteren Lebensphasen Benachteiligungen in Bildungsbiografien ausgleichen können und kommen zu dem Ergebnis, dass sich die für Legitimationen der hoch selektiven Strukturen gern herangezogenen Argumentationsfiguren der grundsätzlichen kompensatorischen Offenheit späterer Bildungsmöglichkeiten nicht bestätigen lassen. Vor diesem Hintergrund verweisen die Verfasser auf die bislang trotz Kritik nach PISA noch deutlich unterschätzte soziale Segregation des gegliederten Bildungswesens.

Der dritte Teil der Publikation „Institutionalisierung von Ungleichheiten in Wissenschaft und Hochschule“ bietet wieder drei Einzelstudien.

Regula Julia Leemann entwickelt in ihrem Beitrag „Geschlechterungleichheiten in wissenschaftlichen Laufbahnen“ eine differenzierte Analyse zur Situation in der Schweiz. Neben Präzisierungen und Nachjustierungen in den Förderungen für Nachwuchswissenschaftlerinnen scheint es jedoch bis heute wohl vorrangig eine Frage sozialer und politischer Leitwerte, inwieweit Geschlechtergleichheit gewollt und mit welchen, vorrangig an Statuspassagen ausgerichteten Instrumenten sie realisiert wird. Obwohl sich eine Reihe von Aussagen wohl durchaus auch auf die Situation in Deutschland beziehen lassen, ist ein eigentlicher Transfer der Befunde letztlich nur auf Grundlage einer ähnlich präzisen Untersuchung für die Hochschullandschaft der Bundesrepublik möglich.

Kerstin Felker und Stefan Fuchs bieten mit ihrer eingrenzenden Betrachtung „Geschlechterdifferenzierungen und Prozesse der Re-Institutionalisierung: Karrieren von Wissenschaftlerinnen in der Tiermedizin“ Bestandsaufnahmen dazu, warum trotz hochschul- und forschungspolitischer Verlautbarungen in der Tiermedizin die traditionelle männliche Dominanz in Spitzenpositionen reproduziert wird. Wie auch im Beitrag von Regula Julia Leemann wird deutlich, dass wohl viele bisherige Förderkonzepte einer Gleichstellung zu kurz greifen; nicht zuletzt weil das komplexe Nebeneinander von partikularisierenden und egalisierenden Tendenzen in Hochschulen und Forschungsinstituten in Verbindung mit den Potentialen professioneller Ausdifferenzierung bislang kaum erfasst scheint.

Karsten König und Reinhard Kreckel verhandeln im letzten Beitrag dieser Publikation unter dem provokanten Titel „Die vereinbarte Abdankung. Zur ungleichheitspolitischen Bedeutung von Zielvereinbarungen zwischen Landesregierungen und Hochschulen“ die neue soziale Asymmetrie als Folge des grundlegenden Kurswechsels in Hochschulpolitik. In einer sehr klaren und pointierten Aussageführung werden soziale Segregationsmechanismen der neuen Steuerungsmodelle herausgearbeitet. Hierbei dient eine konstrastive Gegenüberstellung zwischen Geschlechtergleichstellung, Frauenförderung und Konzepten des Gender Mainstream mit fiktiven Strategien der Förderung bildungsferner Schichten und einkommensschwacher Studierender als konkretisierende Matrix für eine mögliche alternative und stärker sozial inkludierende Hochschulpolitik. Am Ende des Bandes bieten kurze Informationen Hinweise zu den Forschungsprofilen der Autorinnen und Autoren.

Diskussion

Die Publikation zentriert mit ihrer thematischen Ausrichtung auf ‚klassische‘ Kardinalfragen sozialer Ungleichheit im Bildungswesen. Die ausgesprochen gehaltvollen und durchgehend gut lesbar gehaltenen Beiträge hinterlassen bei Einzellektüre bleibende Eindrücke zu Glaubwürdigkeitsproblemen deutscher Kultus- und Hochschulpolitik. Im Gesamteindruck verdichtet sich das Bild einer Ernte ohne Saat. Letztlich erscheint ein Umsteuern in Richtung Abbau von sozialen Ungleichheiten nur über eine Repolitisierung der Bildungsfrage im Sinne von ‚mehr Bildung für alle wagen‘ möglich. Mit den neuen Steuerungsmodellen im Bildungswesen gehen Strukturwandlungen einher, welche zu Kumulierungen ‚alter‘ sozialer Disparitäten unter neuen Vorzeichen führen. Statt Innovationsgewinnen zeichnen sich tendenziell Partizipationsverluste, Monopolisierungen und voranschreitende soziale Segregationsprozesse ab. Bezeichnenderweise erscheint sogar trotz politischer Präferenzen die Leistungsbilanz in Frauenförderung rsp. Gender Mainstreaming mehrfach gebrochen, wobei betont wird, dass hier die eigentlichen Impulse bereits deutlich vor der Etablierung der neuen Steuerungsmodelle vorzufinden waren. Mit der neuen Auflage ist davon auszugehen, dass Herausgeber sowie Autorinnen und Autoren an ihren damaligen Grundaussagen für den damaligen Zeitraum auf Basis der ihnen seinerzeit verfügbaren Daten festhalten. Die Kernaussage als Kritik an der seinerzeitigen sozialdemokratischen Politik, die stärker bildungsbeschränkend denn bildungsbeteiligende Effekte beförderte, ist und bleibt eine historische Aussage. Spannend und lohnend wäre nun, nach fast einer Dekade, die Überprüfung möglicher Fortschreibungen sozialer Disparitäten bis hin zu der Frage, ob unter christdemokratischen Vorzeichen Wandlungen oder sogar neue Formen sozialer Segregation konstantierbar sind. Gerade auch angesichts der kultuspolitischen Verlautbarungen zur jüngsten PISA-Runde erscheint ein Umsteuern als wohl wenig wahrscheinlich und damit bleiben kritische Nachfragen zur demokratischen Legitimation der Strukturen im Bildungssystem, wie beispielhaft in dieser Publikation, Daueraufgabe aufklärender Wissenschaft.

Fazit

Die Publikation hat durch Lesbarkeit, Fassbarkeit und Prägnanz in der Aussageführung die Qualität eines neuen Klassikers. Sie erscheint als besonders geeignet, um Studierenden für Bildungsberufe und Soziale Arbeit profunde Einblicke in Grundfragen sozialer Ungleichheit im Bildungswesen Deutschlands zu vermitteln; nicht zuletzt, da sie Folgefragen aufwirft und zum eigen kritischen Weiterdenken anregt. Ausgewiesen werden exemplarisch Wirkungen bildungspolitischen Agierens in der Phase der Einführung und Etablierung der neuen Steuerungsmodelle im Bildungssystem, die vielfach in Zunahmen sozialer Ungleichheit mündeten. Über aktuelle Entwicklungen zu informieren, kann nicht Aufgabe einer Publikation sein, die in der ersten Auflage im Jahr 2005 erschien. Zu hoffen bleibt, dass es den Herausgebern möglich ist, unter Beibehaltung der besonderen Qualitäten dieser Publikation eine neue, auf die aktuellen Entwicklungen ausgerichtete Untersuchung zur Blockierung von Chancen in und durch das Bildungswesen zu leisten.

Rezension von
Prof. Dr. Dirk Plickat
Ostfalia, Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbuettel, Campus Suderburg, Fakultät Handel und Soziale Arbeit, Forschungs- und Lehrfeld: Bildung und Beschäftigung. Nach langjähriger pädagogischer Praxis in Jugendhilfe und Schule als Erziehungswissenschaftler in Hochschule in Schnittfeldern von Schule, Kinder- und Jugendhilfe sowie beruflicher Bildung (auch historisch und vergleichend) tätig
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Es gibt 31 Rezensionen von Dirk Plickat.

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ISSN 2190-9245