Brigitte Schigl: Psychotherapie und Gender. Konzepte. Forschung. Praxis
Rezensiert von Dipl.-Psychologin Anne Spönemann, Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner, 23.08.2013

Brigitte Schigl: Psychotherapie und Gender. Konzepte. Forschung. Praxis. Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit im therapeutischen Prozess?
Springer VS
(Wiesbaden) 2012.
215 Seiten.
ISBN 978-3-531-18645-0.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 37,50 sFr.
Reihe: Integrative Modelle in Psychotherapie, Supervision und Beratung.
Thema
‚Mann‘ und ‚Frau‘ stellen zwei allgegenwärtige binäre Kategorien dar, die jedem Menschen alltäglich begegnen. Immer wieder wirken sie bewusst und unbewusst auf Entscheidungen und Handlungen ein. Die Eigenschaft ‚Geschlecht‘ wird in den neueren Geistes- und Sozialwissenschaften kaum noch als festgeschriebenes, biologisch determinierte und mit festen Fähigkeiten und Charakterzügen verbundenes Merkmal eines Menschen gesehen. Zunehmend wird Geschlecht dort als sozial konstruiertes Attribut erkannt, welches ständig in allen Interaktionen reproduziert wird. Die in den Genderstudies der Sozialforschung stattfindende Diskussion um die künstliche Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit hat immer mehr auch Eingang in gesellschaftliche Diskurse gefunden. Auch Ergebnisse aus der Frauenforschung rund um strukturelle Nachteile für Frauen und Mädchen sind an die Öffentlichkeit gelangt. Auf der individuellen Ebene haben Frauen wie Männer an Möglichkeiten gewonnen, sich mit den ihrem Geschlecht zugeordneten Rollenerwartungen auseinanderzusetzen und ihren je spezifischen Umgang damit zu finden.
Das klingt fortgeschritten, ist aber nur die halbe Wahrheit. Gender durchzieht als Querschnittsthema noch lange nicht alle Disziplinen und Professionen. Eine eingehendere Betrachtung des Bereichs der Psychotherapie unter Gender-Aspekten hat es bisher hauptsächlich im Rahmen der Entwicklung feministischer Therapie- und Beratungsansätze gegeben. Der Bereich in Bezug auf die Dyade zwischen TherapeutIn und KlientIn ist bisher eher unsystematisch erforscht. In dieser Beziehung haben Gender-Aspekte hinsichtlich der Dynamiken, Übertragungsmuster und gegenseitigen Erwartungshaltungen sowie in Hinblick auf die Thematiken, die in Therapien behandelt werden, eine enorme Brisanz inne.
Das vorliegende Buch fasst bestehende Forschung aus diesem Feld zusammen, macht auf Lücken aufmerksam und leistet einen ersten praktischen Beitrag, um Gender in Therapieprozessen mitdenken zu können.
Autorin
Dr. Brigitte Schigl Msc. ist Psychologin und Psychotherapeutin für Integrative Gestalttherapie und Integrative Therapie in freier Praxis in Wien und Krems. Sie lehrt als Professorin am Department für Psychotherapie und biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems sowie als Lehrbeauftragte am Psychologischen Institut der Universität Graz. Darüber hinaus ist sie als Lehrtherapeutin und Lehrsupervisorin tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Essstörungen, gendersensible Psychotherapie sowie Psychotherapie- und Supervisionsforschung.
Aufbau
Das Buch ist in insgesamt neun Kapitel unterteilt, in denen die Autorin als Hintergrundfolie für ihre Ausführungen das Beziehungsmodell der Integrativen Therapie nutzt. Im Aufbau orientiert sie sich am der Integrativen Therapie zugrunde liegenden „Tree of Science“ und nähert sich der Problematik um Therapie und Gender auf drei Ebenen – von metatheoretisch bis praxisorientiert.
Inhalt
Im ersten inhaltlichen Kapitel werden metatheoretische Aussagen zum Mann- bzw. Frau-Sein aus Sicht der Frauen- und Geschlechterforschung und anthropologische Grundlagen aus Sicht der Integrativen Therapie vorgestellt. Diese schließen mit der Aussage, dass die Ansicht neuerer Gender-Theorien, die Geschlechtsidentität als eine Konstruktion resultierend aus zwischenmenschlicher Interaktion ansehen, einen guten Anknüpfungspunkt für Verbindungen mit neueren Psychotherapieverfahren biete.
Die folgenden drei Kapitel behandeln die Middle Range Theories. Zunächst geht es dabei in Kapitel 3 um sozialpsychologische Theorien, wie Geschlechtsidentität und ihre Entwicklung sowie Geschlechterstereotypen und Forschungsergebnisse in verschiedenen Bereichen in Bezug auf Frauen und Männer. Sehr kurz wird als Letztes noch der Bereich der Berufe in Bezug auf Geschlecht thematisiert. Das vierte Kapitel thematisiert therapeutische Interaktionen und Beziehungen und definiert diese. An dieser Stelle wird ausführlicher auf das dem therapeutischen Prozess aus Sicht der Integrativen Therapie zugrunde liegende Interaktionsmodell, das „Ko-respondenzmodell“, eingegangen. Im fünften Kapitel wird die „Strukturvariable“ (S. 78) Geschlecht im psychotherapeutischen Prozess beleuchtet. Es werden einzelne Psychotherapieverfahren aufgegriffen und auf ihre Gender-Perspektive beziehungsweise ihre Möglichkeiten, Gender als Variable einzubringen, untersucht. Dabei wird unter anderem auch auf feministische Beratung und Psychotherapie sowie Ansätze aus der Männerberatung und genderspezifische und -sensible Ansätze Bezug genommen. Der letzte Teil des Kapitels widmet sich der Integrativen Therpaie und ihrem Verhältnis zu Frauen und Männern in Therapie und Beratung.
Die nächsten drei Kapitel behandeln die Small Range Theories und bilden damit den zweiten großen Teil des Buches. Kapitel 6 stellt ein „Kernstück“ (S. 105) der Überlegungen Brigitte Schigls zu Psychotherapie und Beratung in Bezug zu Gender dar. Hier werden Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis und Supervision exemplarisch vorgestellt und mit den zuvor erläuterten Hintergrundtheorien verbunden. Beleuchtet werden hier Aspekte wie Beziehungsaufbau und -gestaltung, die Diagnostik, der therapeutische Prozess und Heilungserfolge sowie Dynamiken in Bezug auf Atmosphären oder Übertragungsmuster unter der Grundfragestellung, welche Rolle das Geschlecht der beteiligten Personen dabei spielt. Dabei wird sowohl das Geschlecht der/des KlientIn als auch der/des TherapeutIn in die Überlegungen miteinbezogen. Beleuchtet werden die Aspekte des Überweisungskontextes, die Wahl der TherapeutIn/BeraterIn, der Erstkontakt, die Diagnostik und Zielvereinbarung, die therapeutische Beziehungen sowie spezielle Themen. Eine kurze Auseinandersetzung mit dem Einfluss von Geschlechterstereotypen auf das Gelingen einer Therapie/Beratung schließt das Kapitel ab. Deutlich wird hier in den vorgestellten Beispielen immer wieder: „Gender matters“ (S. 106). Ob das Geschlecht, wie beispielsweise bei der Auswahl des/der TherapeutIn, einen sehr offensichtlichen und bewussten Einfluss hat oder einen eher unbewussten wie z.b. im Umgang mit weinenden Männern oder Frauen, beruhend auf dem eigenen jeweiligen Geschlechterbild: „Es ist nicht möglich, eine PatientIn nicht als Mann oder Frau wahrzunehmen und einzuordnen. Es ist nicht möglich ‚neutral‘ – ohne Verwendung von Männer- und Frauenbildern, Konnotationen von Weiblichkeit und Männlichkeit – Psychotherapie oder Beratung durchzuführen.“ (S. 107)
Ergänzend zu den praktischen Erfahrungen werden in Kapitel 7 Daten aus der Epidemiologie und Psychotherapieforschung vorgestellt und zur Untermauerung und Diskussion der im vorangegangenen Kapitel dargelegten Praxisergebnisse genutzt. Insgesamt kommt Brigitte Schigl zu dem Schluss, dass die zentrale Überlegung – Gender matters – nur teilweise durch die vorgestellten Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung unterstützt werden kann. Gründe dafür sieht sie im uneinheitlichen Datenmaterial der Untersuchung sowie in den sehr quantitativ ausgerichteten Forschungsdesigns. Viele Studien differenzieren zudem gar nicht nach Geschlecht. Wenn doch, so sind die Untersuchungen meist differenztheoretisch angelegt und suchen explizit nach Unterschieden von weiblichen und männlichen KlientInnen oder TherapeutInnen. Als Abschluss greift Brigitte Schigl Ergebnisse aus der Forschung auf und diskutiert diese Beispiele aus einer gendersensiblen Perspektive, um „Implikationen von Gender-Denken in der qualitativen Psychotherapieforschung aufzuzeigen“ (S. 160).
Im anschließenden Kapitel folgt die Bündelung und Umsetzung der verschiedenen Abstraktionsniveaus. Zunächst stellt die Autorin, vom Ko-respondenzmodell als Basis der stattfindenden Interaktion ausgehend, verschiedene Überlegungen in Bezug zu Gender-Sensibilität im therapeutischen Prozess für die einzelnen Faktoren dieses Modells an. Daraufhin widmet sie sich der Frage nach der praktischen Umsetzung und Anwendung. Die Entwicklung und Gestaltung therapeutischer Dyaden wird mit den Ansätzen des Doing Gender aus den früheren Kapiteln verbunden, es werden die schon dargestellten Beispiele aus der Praxis als Muster für gendersensibles und -kompetentes Handeln veranschaulicht. Für TherapeutInnen wird außerdem ein Fragenkatalog bereitgestellt, um die eigene Sensibilität in Bezug auf Gender-Aspekte zu überprüfen bzw. in ihren therapeutischen Prozessen die Gender-Perspektive einzubringen. Eine Vorstellung verschiedener therapeutischer Werkzeuge zur Sichtbarmachung von Gender-Prozessen (auch als Anregung zur Selbsterfahrung) rundet das Kapitel ab.
Im neunten und letzten Kapitel finden sich Schlussfolgerungen und weitergehende Überlegungen sowie Forderungen der Autorin. Sie spricht sich für eine weitere Vertiefung der vorliegenden Thematik aus und fordert das ‚Gendern‘ von Therapietheorien sowie einen Ausbau der Gender-Kompetenz von therapeutischen Fachkräften und BeraterInnen.
Diskussion und Fazit
Brigitte Schigl befasst sich in ihrem Buch in einer akribischen Gründlichkeit mit dem Thema Psychotherapie und Gender. Selten zuvor hat jemand die Auseinandersetzung so eingehend und so nah an einem konkreten therapeutischen Vorgehen wie hier an der Integrativen Therapie geführt. Genderaspekte in Psychotherapie und Beratung kommen bisher deutlich zu kurz und tauchen auf Fachtagungen und in Standardwerken eher am Rande auf. Gut strukturiert, systematisch und pointiert führt die Autorin die LeserInnen an die Thematik heran und vermittelt dabei relevantes Grundlagenwissen und durch eine breite Literaturauswahl Anstöße zur weiteren, eigenen Vertiefung. Sowohl auf theoretischer Ebene als auch mit vielen Beispielen aus der Praxis gibt die Autorin relevante Hinweise zu Gender-Troubles und Dynamiken in der Psychotherapie. Obwohl das Buch auf die Integrative Therapie bezogen ist, lassen sich auch für TherapeutInnen und BeraterInnen anderer Verfahren wichtige Hinweise und Denkanstöße aus den Darlegungen ziehen.
„Das wesentlichste Anliegen dieses Buches ist es bewusst zu machen, dass Doing Gender in der Therapie immer ein gemeinsamer Prozess aller Beteiligten … ist“ (S. 185), formuliert die Autorin. Dies sollte nach einer gründlichen Lektüre und ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Buch möglich geworden sein. LeserInnen haben jedoch darüber hinaus einen Einblick in die Möglichkeiten gewonnen, intersektional Stereotype und Konstruktionen zu erkennen und einen konstruktiven Umgang damit zu finden.
Rezension von
Dipl.-Psychologin Anne Spönemann
Absolventin der Universität Bremen und freie Mitarbeiterin im Kinder- und Jugendhilfeforschungsbereich
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Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner
Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit für den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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