Egon Fabian: Die Angst
Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Pauls, 13.11.2013

Egon Fabian: Die Angst. Geschichte, Psychodynamik, Therapie.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2013.
254 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2893-5.
D: 34,90 EUR,
A: 35,90 EUR,
CH: 46,90 sFr.
Reihe: Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur - Band 5.
Thema
Das Buch behandelt das Phänomen der Angst als normales und pathologisches Phänomen.
AutorIn oder HerausgeberIn
Dr. med. (Univ. Tel-Aviv / Israel) Egon Fabian, Jahrgang 1946, ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker, Tanztherapeut. Chefarzt der Dynamisch-Psychiatrischen Klinik Menterschwaige in München.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Band ist Band 5 einer Schriftenreihe der „Siegmund-Freud-Privatuniversität Wien“. Ausdrücklich werden diese Schriften als Beiträge zu einer „Psychotherapiewissenschaft“ annonciert, die sich von den „Nachbardisziplinen Psychiatrie und Klinische Psychologie mit ihrer nomologischen Orientierung“ abgrenzt, u.a. durch Berücksichtigung von Zugängen aus dem Bereich der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften.
Aufbau und Inhalt
Das 23 Kapitel umfassende Buch gliedert sich in zwei Teile: Teil I „Die Angst“, Teil II „Die Angst vor der Angst“.
Teil I beschäftigt sich mit der Angst als ubiquitärem Phänomen, als „Schicksal des Menschen“. Der Autor kritisiert (in einer heute häufig anzutreffenden tour d´horizont) zunächst die „aktuelle Gesellschaft“ „vielleicht als Epoche des Übergangs“ als Quelle und Ursache krankhafter Angst, beklagt – Keupp zitierend – die „radikale Enttraditionalisierung der Lebensformen“, den Zerfall familiärer Strukturen und Gruppenkohäsionen, mit dem Ergebnis wachsender Vereinsamung und Isolierung des Individuums. Angeklagt werden „die Übermacht der Maschinen“, die Übermacht des Computers, des Internet und der Elektronik, die „Staatsmänner, Politiker, die Leiter der großen Konzerne, die Militärs“, die alle „kein Interesse“ hätten, „sich über ihr Macht- und Profitstreben hinweg zu setzen“. Das Ergebnis seien „fast ausnahmslos (sic!) profillose, identitätsarme, routinierte Menschen, die nicht einmal selbst merken, dass ihre ‚klugen’ Worte keine Echtheit und Glaubwürdigkeit, ihre Gedanken keine Kreativität und Vision besitzen. Sie waren of früh angepasste, emotional deprivierte Menschen, die die Macht als Kompensation ihrer inneren Dürftigkeit brauchen“ (S. 11f.). Belege für diese pauschalisierenden Behauptungen fehlen und es geht zunächst weiter mit der Zeitkritik (Arno Gruen zitierend): Popmusik mit der sich Jugendliche „durch Ohrenstöpsel von der Leere und Langeweile schützen“ (S.13), die moderne Architektur, die zwar eindrucksvoll sei, aber nicht zu Teilnahme anrege, als Ausdruck unseres „Stimulus-Gebundenseins“, das „zum Lebensdrang“ geworden sei.
Angst wird als existentielle Bestimmung des Menschen im Hinblick auf kulturelle, religiöse, philosophische und psychoanalytische Konzeptionen bzw. Theorien thematisiert, die Möglichkeiten des individuellen und kollektiven Umganges mit der Angst entwickelt haben und bereitstellen.
Die zentrale These ist, dass Angst als Basisaffekt „jeder psychischen, psychiatrischen und psychosomatischen Störung in unterschiedlichem Ausmaß zu Grunde“ liege. Während „gesunde Angst“ eine wesentliche Komponente der Entwicklung des Menschen sei (wenn sie fehle, handle es sich um „defizitäre Angst“), könne krankhafte Angst immer auf die existentielle Urangst / Trennungsangst des Säuglings bzw. Kleinkindes zurückgeführt werden. Der innerlich leere, verlassene, isolierte Mensch in einer „borderlinehaften“ Gesellschaft, durch die Mutter / Eltern / Herkunftsfamilie / soziale Umgebung krank gemacht, leide im Kern immer unter einer massiven Angststörung. Eine Umgebung, die die Angst des Kindes nicht wahrnehme oder sogar unterdrücke, präge die individuelle Qualität der Angst eines Menschen. Angst – in all ihren Manifestations-, und Abwehrformen – habe immer ihre eigene Geschichte. Noch einmal: jede Angst sei grundsätzlich ein Abkömmling der Verlassenheits- bzw. Trennungsangst und alle Arten psychischer / psychiatrischer Störungen und Erkrankungen ließen sich letztlich darauf zurück führen: sowohl neurotische Störungen, als auch Depressionen, Borderline-Störungen und Persönlichkeitsstörungen (es sei ebenfalls nicht sinnvoll unterschiedliche Persönlichkeitsstörungen klassifikatorisch zu differenzieren), Psychosen / Schizophrenien, Süchte. Die Kategorisierung der Angstmanifestationen ist für Fabian ebenso willkürlich wie „sonstige artifizielle diagnostische Kategorien“ (S.77). Nicht nur hier folgt der Autor der Lehre der Dynamischen Psychiatrie nach Ammon, der die diagnostische Klassifizierung einst für abgeschafft erklärte.
Im umfangreichen Kapitel 8. werden die „vielen Gesichter der Angst“ im Sinne einer Symptomatologie ausführlich dargestellt. Angst und Furcht, Angst-Lust, Panik, Angstmanifestationen mit neurotischer Qualität (z.B. Phobien, Verlassenheits-/Trennungsangst, Angst zu versagen), mit „borderlinehafter“ Qualität (z.B. Verantwortungsangst, Identitätsangst, Lebensangst, Verarmungsangst – S. 68: „Angst ist der gemeinsame Nenner aller Persönlichkeitsstörungen“) und mit „psychotischer“ Qualität (Kontaktangst/Gruppenangst, Auflösungsangst, Paranioa – wobei immer wieder ein überraschendes Psychosenverständnis zutage kommt, so z.B. S. 109: Das Asperger-Syndrom sei nur eine Variation von borderlinehaften bzw. psychotischen Kontaktängsten) werden unterschieden und abschließend der „normalen Angst“ gegenübergestellt.
Ein wichtiges Anliegen des Autors ist die Hervorhebung der „defizitären Angst“, also der fehlenden Angst bzw. krankhaften Angstvermeidung, die Fabian mit Ammon („der als erster die besondere Bedeutung der defizitären Angst erkannt und ihre Funktion für verschiedene Krankheitsprozesse deutlich gemacht und konzeptualisiert“ hat (S. 118)) als eine zentrale Problematik ansieht. „Unter ‚defizitärer Angst’ verstehen wir hier nicht die Angst, ‚die nicht zugegeben’ wird, die also bewusst verheimlicht wird, um sich zu schützen, sondern die unbewusst abgewehrte, oder nur körperlich ausgedrückte und sonst nicht wahrgenommene Angst“. Dieses „Zu-Wenig“ an Angst kippt nicht selten in Aggression. So werden Menschen mit defizitärer Angst nach Ansicht das Autors häufig geradezu gefährlich: „Der Mensch, der keine Angst spürt oder seine Angst vollkommen verdrängt, wirkt nicht nur als Mitmensch unecht, oberflächlich, kontaktunfähig, identitätslos. Ihm fehlt der Kontakt zu sich und folglich zu den Anderen. Er wird zu einer potentiellen Gefahr für die Menschheit, denn er ist leicht manipulierbar und er wird sich selber und andere manipulieren.“ (S. 226)
Im Teil II geht es um: „Die Angst vor der Angst“ – um Bewältigungs- und Abwehrstrategien (Kap. 15), „Einige spezielle Abwehrformen: ‚Professionelle Angst. Die Angst des Wissenschaftlers, des Arztes und des Psychotherapeuten“ (Kap. 16), Angst und Erziehung (Kap. 16), um die Frage „Ist Angst messbar?“ (Kap. 20), um die „Therapie der Angststörungen“ (Kap. 22) und in einem abschließenden „Ausblick“ um „Angst und menschliche Entwicklung“ (Kap. 23).
Die „Bewältigungs- und Abwehrstrategien“ der Angst werden in Kap. 15 wieder in solche mit „neurotischer Qualität“ (u.a. Verdrängung, Aktionismus, Streben nach Macht, Besitzsucht, Genusssucht, Faszination durch Technik), mit „borderlinehafter Qualität“ (Hyperaktivität, Umwandlung in Aggression, Erotisieren und Sexualisieren, Identifikation mit dem Angreifer, Sucht) und solche mit „psychotischer Qualität“ (Zwang, Konkretismus, Dissoziation, Depression und Manie) unterschieden. In weiteren Kapiteln wird die Psychosomatik der Angst sowie in Exkursen „Angst und Partnerschaft“ sowie „Jüdischer Humor und Angst“ thematisiert.
Im Kapitel 22 (zur „Therapie der Angststörungen“) werden neben medikamentösen Therapien, denen ein gewisses Nischendasein zugestanden wird, die „Verhaltenstherapie“, die „Psychoanalyse und die tiefenpsychologische fundierte Psychotherapie“, die „Analytische Gruppentherapie“, und „Körperorientierte Therapie, Nonverbale (expressive) Therapien“ behandelt. Die Verhaltenstherapie wird aufgrund ihrer konfrontativen Techniken ein wenig gewürdigt („Als symptomatische Therapie wird die kognitive Verhaltenstherapie zurecht auch von Psychoanalytikern empfohlen… Sie kommt zweifelsohne in Frage um auslösende Momente von Panik, Angst, oder phobische Symptome soweit unter Kontrolle zu bringen, dass eine tiefenpsychologische Psychotherapie möglich wird; damit wird ihre Bedeutung für die Angstbehandlung analog zur Bedeutung der medikamentösen Therapie.“ (S. 208)). Sie wird aber von ihrem Grundansatz her nur als „Zusatztherapie“ (S. 208) bewertet. Ihre wissenschaftliche Fundierung wird stark relativiert: sie sei „leicht zu operationalisieren“ und könne sich nur auf eine vom Autor an vielen anderen Stellen diskreditierten „nachgewiesene Wissenschaftlichkeit“ berufen (S. 209).
Die psychoanalytische bzw. tiefenpsychologische Therapie sei „implizit immer auch Angsttherapie, indem sie Vertrauen und Beziehung aufbaut, Einsamkeit bewusst macht und verringert, Empathie und tragende Unterstützung spürbar macht. Der Patient kann erfahren, dass seine Einsamkeit die Folge frühkindlicher Fehlentwicklung ist, Folge mangelnder Empathie, Traumatisierungen oder Vernachlässigung und dass sie durch den therapeutischen Prozess veränderbar ist.“ (S. 211)
Die Therapie der Wahl ist für Fabian die „Analytische Gruppentherapie“ „meistens kombiniert mit Einzeltherapie, oder mit nonverbalen, expressiven Therapien“ (S. 215), die „gruppendynamisch und therapeutisch gesteuert“, „im tieferen Sinne eine ‚Rückkehr’ zum Ursprung menschlichen Daseins“ bedeute (S. 214). Dabei wird in den Fallbeispielen angedeutet, dass die vom Autor ins Auge gefasste Form äußerst regressive Verläufe annehmen kann: „Die Kontaktangst ist als eine Variante der Fusionsangst, der Angst zu verschmelzen, die eigenen Grenzen zu verlieren, anzusehen; es ist demnach nachvollziehbar, dass gerade die Gruppenangst bei Borderline-Patienten in aller Regel groß ist und paranoische Formen annimmt …“ (S.215).
Diskussion
Die pauschale Gesellschafts- und Zivilisationskritik (der „heutige Mensch“) hat teilweise einen diskreditierenden Charakter. Entscheidungsträger in Kultur, Politik und Wirtschaft werden pauschal als psychisch Gestörte charakterisiert. Belege dafür werden nicht geliefert. Die Kulturkritik als Klagelied über die radikale „Enttraditionalisierung“ klingt zunehmend rückwärtsgewandt. Kein Wort über die großen Fortschritte. Als ob in früheren Zeiten der strengen Traditionen die Welt von „integrierten Selbsten“ bevölkert gewesen wäre. Auch der demokratische Sozialstaat birgt für den Autor hauptsächlich Gefahren: weil „dessen Sozialeinrichtungen eine Illusion der Sicherheit bei den Menschen“ (S. 35) erzeugen und damit die produktive Kraft der „Existenzangst“ auszuschalten droht. Hat man diese Kritiken überwunden und auch die Pathologisierungen anderer Meinungen (oder je nach Standpunkt genossen) wird dann zu spezifischeren Auseinandersetzung mit der „Angst“ geführt.
Zweifellos ist der Autor sehr belesen, verfügt über eine veritable klinische Praxis und einen festen theoretischen Standort. Nicht wenige Ausführungen sind interessant, herausfordernd, erhellend – jedenfalls wenn man sich auf die psychoanalytische (Ammon’sche) Perspektive einzulassen bereit ist. Sehr viele Themen werden gestreift, so z.B. auch die Hirnforschung (Kap. 12 „Neurobiologie der Angst“), die Erziehung, jüdischer Humor, die Asperger Problematik. Die Betonung der „normalen“ Angst als eines lebenswichtigen Aspektes psychischer Gesundheit wird vielfältig veranschaulicht.
Es ist aber bestürzend, dass und wie Wissenschaftlichkeit als „nachgewiesene Wissenschaftlichkeit“ weitestgehend entwertet wird. So fehlen für die vielfältigen gesellschaftspolitischen, wirtschaftsbezogenen und auch fachbezogenen Behauptungen jedwede empirische Belege. Einzelne Fallvignetten, die zu Illustration immer wieder beigestellt werden, können dieses gravierende Manko nicht beheben. Die angebliche Schwierigkeit einer wissenschaftlichen Definition von Angst führt Fabian schon sehr früh (S. 15) darauf zurück, dass „Wissenschaftler mit biologischem Wissen ‚erzogen’ werden“, Gefühle „vermeiden, oder zumindest zu objektivieren und zu messen“ suchten. Fabian: „Dadurch ersparen sie sich auch die Begegnung mit ‚negativen’, unangenehmen Gefühlen, wie der Angst.“ (ebd.) Nachdem das geklärt ist, verwundert es nicht, wenn der Leser schließlich in Kapitel 16 („Einige spezielle Abwehrformen: ‚Professionelle Angst’. Die Angst des Wissenschaftlers, des Arztes, des Psychotherapeuten“) erfährt, dass empirische wissenschaftliche Forschung meist nichts anderes sei als „Scientifizieren“, d.h. „wissenschaftlich sanktionierte Abwehr eigener Angst“ (S. 182) Die „Sucht zum Objektiven“, d.h. zu „genauen Diagnosen, Algorithmen und Leitfäden einer korrekten Therapie“ ist für den Autor komplett eine Fehlentwicklung. Es komme auf die Empathiefähigkeit und Kreativität des Therapeuten an (Belege aus der umfangreich vorhandenen empirischen Empathieforschung fehlen). Abgelehnt werden Meta-Analysen, Manuale (z.B. für Borderline Therapie nach Kernberg), empirische Ätiologiestudien. Eine m.E. völlig manipulative Interpretation von „Ockham Rasiermesser“ (S. 143) dient als Begründung für eine komplette Zurückweisung „multifaktorieller Vererbung“ bzw. „Genese“ (z.B. im Rahmen eines biopsychosozialen Modells) nicht nur bei Angstkrankheiten, Depression etc. sondern auch bei „Schizophrenie“ (S. 142f.) – ätiologisch verantwortlich zeichnen danach Familien, Eltern – einschließlich der mehrgenerationalen Tradierungen, aber „keine zusätzliche genetischen Faktoren“ (S. 143). Damit wird eine einseitige Ursachenzuweisung vorgenommen, die dem Stand der Forschung nicht entspricht (der dem Autor aber auch nicht wichtig ist).
Was wird gegen „nachgewiesene Wissenschaft“ gestellt? „Wissenschaft kann, nach Ammon (1982, S. 531 – 671), nicht von der Person des Wissenschaftlers abgespalten werden; der Forscher ist selbst ‚Forschungsinstrument’ (ebenda, S. 546)“ (S. 180). Nur ein „fundiertes psychodynamisch-gruppendynamisches Konzept“ kann die unnötigen Komplizierungen der Forschung „überwinden“ (S. 182). Auch in der Auseinandersetzung mit der Verhaltenstherapie gibt es keinen konkreten Bezug zur Forschung, ebenso wenig wie empirischen Studien über die psychoanalytische Angstbehandlung, die favorisierte Gruppendynamik bzw. Analytische Gruppentherapie.
Das System der Dynamischen Psychiatrie lässt offenbar „künstliche“ und „tendenziöse“ Wissenschaft, einschließlich des „‚geheimen Szientizismus’ der Psychoanalyse“ (ebd.) als überflüssig erscheinen.
Fazit
Das Buch ist sicherlich interessant für alle, die sich mit dem psychoanalytischen Verständnis der Angst beschäftigen wollen. Allerdings sollte von vornherein klar sein, dass hier eine bestimmte Lehrmeinung Pate steht – manchmal subtil, häufig ausdrücklich. Was manchen an die Vermittlung eines geschlossenen Weltbildes erinnern könnte. Das Verständnis von Wissenschaftlichkeit wird extrem einseitig ausgelegt. Empirische Wissenschaft wird diskreditiert: als „Flucht in die Wissenschaft“ (S. 176) oder durch Formulierungen wie die „testpsychologische Messung“ von Gefühlen und Affekten sei „überhaupt ohne Fälschung oder ‚Verrat’ an ihrer wahren Natur“ nicht möglich (S. 190). Damit werden die Brücken zu einer (um Objektivität bemühten) empirischen Forschung und zu empirisch prüfbaren Theorien abgebrochen. Insofern wäre eine Empfehlung dieses Buches für Studierende höchst problematisch, wenn es nicht eine ausdrückliche ideologiekritische Begleitung gibt.
Rezension von
Prof. Dr. Helmut Pauls
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