Stephan Grohs, Katrin Schneiders et al.: Mission Wohlfahrtsmarkt
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Helmer-Denzel, 30.12.2014

Stephan Grohs, Katrin Schneiders, Rolf G Heinze: Mission Wohlfahrtsmarkt. Institutionelle Rahmenbedingungen, Strukturen und Verbreitung von Social Entrepreneurship in Deutschland. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 220 Seiten. ISBN 978-3-8329-7874-7. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR, CH: 55,90 sFr.
Thema
Im Mittelpunkt der Veröffentlichung steht die Frage, inwiefern sich Social Entrepreneurship, das im angloamerikanischen Raum etabliert ist und in den deutschen Medien als neuer Stern am Wohlfahrtshimmel „gehandelt“ wird, in der deutschen Wohlfahrtslandschaft empirisch nachweisen lässt? Bevor diese Frage beantwortet wird, erfolgt zunächst eine gründliche Analyse der Erstellung von sozialen Dienstleistungen im deutschen Wohlfahrtsstaat und in Vergleichsländern. Exemplarisch werden dann die Arbeitsfelder der „Altenhilfe“ und der „Kinder- und Jugendhilfe“ auf Aktivitäten des Social Entrepreneurships untersucht.
Entstehungshintergrund und Autor
Das Buch ist als zehnter Band der Reihe „Wirtschafts- und Sozialpolitik“ des Herausgeberteams Rolf G. Heinze, Werner Sesselmeier und Josef Schmid erschienen. Die Veröffentlichung entstand aus Untersuchungsergebnissen des Forschungsverbundes „Innovatives Soziales Handeln – Social Entrepreneurship“, der von der Stiftung Mercator gefördert wurde.
Aufbau und Inhalt
1. Einleitung: Neue Spieler auf etablierten Feldern. Mit Social Entrepreneuren werden hier u. a. Unternehmen bezeichnet, die lokale öffentliche Güter erzeugen, ohne Rückgriff auf den Staat zu nehmen, dies verbunden mit dem Anspruch, Alternativen für die bisher vorhandenen Lösungen der Wohlfahrtsproduktion zu generieren. Inwiefern hier Alternativen entstehen, die auch auf die traditionelle Wohlfahrtsproduktion wirken, sich einpassen und empirische Bedeutung erlangen, wird als Leitfrage entwickelt.
2. Der neue Diskurs: Begrifflichkeiten und theoretische Perspektiven. Wohlfahrtsverbände sind mächtige Akteure, die kartellartige Strukturen entwickelt haben, so dass schwache Interessen weniger vertreten werden, diese sogenannte „Kartellhypothese“ wird der Untersuchung zugrunde gelegt. Umstritten ist jedoch, wie diese Strukturen „geknackt“ werden können, inwiefern soziale Innovationen katalysiert werden und welchen Anteil die Social Entrepreneurs daran haben.
3. Strukturen der Wohlfahrtsproduktion. Die Strukturen der deutschen Wohlfahrtsproduktion werden im dritten Kapitel grundlegend erklärt und die starke Position der freien Wohlfahrtspflege wird empirisch belegt. Widersprüchlichkeiten, die durch unterschiedliche Zielperspektiven auf individuelle Lebensbedingungen und gesellschaftlichem Integrationsbedarf bei der Erstellung der sozialen Dienstleistungen entstehen, werden aufgezeigt.
4. Deutschland in Perspektive. Die institutionelle Einbettung sozialer Dienstleistungsproduktion im internationalen Vergleich. Die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Traditionen für das Vereinigte Königreich, Frankreich, Schweden und Deutschland werden miteinander verglichen. Der sogenannte Dritte Sektor hat sich in den Ländern unterschiedlich entwickelt, was Finanzierungsquellen, arbeitsmarktpolitische Bedeutung und Trägerschaften anbelangt; übereinstimmend wird für alle Länder eine größere Bedeutung von gewerblichen Anbietern konstatiert. Aufgrund der Pfadabhängigkeit in der Erstellung von sozialen Dienstleistungen, finden sich in den einzelnen Wohlfahrtsregimes unterschiedliche Anknüpfungspunkte für Social Entrepreneurship, das sich insbesondere dann entfalten kann, wenn u. a. der Marktzugang offen ist, wenig rechtliche Regulierungen vorliegen und die Spendenbereitschaft groß ist. Diese Voraussetzungen sind im angelsächsischen Kontext gegeben, für Deutschland werden „Andockprobleme“ für Social Entrepreneurs ausgemacht.
5. Wandlungsprozesse im sozialen Dienstleistungssektor. Die Finanzierbarkeit sozialer Dienstleistungen ist ein „Dauerbrenner“. Aufgrund des demografischen Wandels, der von einer steigenden Zahl Hochaltrigen gekennzeichnet ist und weiteren sozialstrukturellen Veränderungen, die sinkende familiäre Hilfepotenziale zum Ergebnis haben, sind sozialpolitischen Handlungsfelder zukünftig weiter von tiefgreifenden Veränderungsprozessen gezeichnet. Beispielhaft werden in diesem Kapitel Veränderungsprozesse für die sozialen Dienste in der Altenpflege, Behindertenhilfe, der Kinder- und der Jugendhilfe sowie der frühkindlichen Betreuung nachgezeichnet und vor dem Hintergrund der Finanzierung analysiert. Die sozialrechtlichen Rahmenbedingungen, die in der Vergangenheit für alle untersuchten Arbeitsfelder dahingehend geändert wurde, dass den Klientelgruppen ein höheres Maß an Selbstbestimmung zugestanden wird, das Kostendeckungsprinzip durch andere Finanzierungsformen abgelöst wird und wettbewerbliche Beschränkungen teilweise abgeschafft wurden, haben die Wohlfahrtslandschaft erst langsam in Bewegung gebracht.
6. Zur Rolle von neuen Akteuren, die hier in Nischen springen. Im sechsten Kapitel werden exemplarisch drei Akteure vorgestellt, die mit innovativen Ideen in den sozialen Dienstleistungssektor eingestiegen sind. Alle drei Dienstleister erfüllen die Kriterien von Social Entrepreneurs im engeren Sinne. Sie sind nicht öffentlich finanziert, sie nutzen zivilgesellschaftliches Engagement und werden von charismatischen Persönlichkeiten geleitet. Es werden niedrigschwellige Beratungs- und Betreuungsangebote für Kinder bereitgestellt. In der Gesamtschau wird aber konstatiert, dass die Landschaft der Wohlfahrtsproduktion durch Social Entrepreneurship lediglich Nischen besetzen kann.
7. Social Entrepreneurship in Deutschland: Strukturen der alternativen Wohlfahrtsproduktion in zwei ausgewählten Handlungsfeldern. Die beiden Felder „Altenhilfe“ und „Kinder- und Jugendhilfe“ stehen im Fokus des Kapitels. Während für die Altenhilfe eine Öffnung für privat-gewerbliche Anbieter konstatiert werden kann, lässt sich für das Feld der Kinder- und Jugendhilfe eine eher geschlossene Trägerstruktur konstatieren. Mit einem Exkurs von Anna-Lena Schönauer,der quantitative ermittelte Untersuchungsergebnisse einer Schulbefragung zur Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund präsentiert und einem weiteren Exkurs zur kultursensiblen Altenpflege, der von Claudia Ruddat beigesteuert wird, kann belegt werden, dass über beide Arbeitsfelder hinweg, neue Akteure und Angebote derzeit nur punktuell aufgespürt werden können und zwar immer dann, wenn sich engagierte Persönlichkeiten mit Initiativen oder Vereinsausgründungen ins „Wohlfahrtgeschehen“ einmischen. Die beiden untersuchten Handlungsfelder weisen in der Erstellung von sozialen Dienstleistungen weiterhin eine Dominanz der etablierten Akteure auf.
8. Innovation durch Vernetzung – Soziale Innovationen. Welche Rolle spielen etablierte und neue Akteure als Social Intra- und Entrepreneurs bei der Erstellung sozialer Innovationen? Diese Frage wird im achten Kapitel geklärt. Die AutorInnen zeigen auf, wie voraussetzungsvoll sich die Koordination von sozialen Innovationen darstellt. Bei der Implementierung sozialer Innovationen geht es oft weniger um neue Lösungen, sondern eher um Variationen vorhandener Lösungen z. B. in der schulischen Förderung und in der Unterstützung von Familien und älteren Menschen in Problemlagen. Obschon die alternde Gesellschaft ein großes Potenzialfeld für soziale Innovationen darstellt, haben sich innovative Lösungen aufgrund der zersplitterten Finanzierung noch nicht durchgesetzt (z. B. in Bezug auf Quartierskonzepte, Gesundheitsüberwachung zu Hause, innovative Wohnprojekte). Hohe Regulierungsdichte und eine Vielzahl von beteiligten Akteure blockieren häufig soziale Innovationen. Die Vernetzung von Akteursebenen und neue Steuerungsformen (Governance) wird als Königsweg aufgezeigt, der derzeit allerdings noch zögerlich beschritten wird.
9. Die Transformation sozialer Dienstleistungsproduktion: Unklar werdende Grenzen zwischen Staat, Markt und Gemeinschaft. Im neunten Kapitel werden grundsätzliche Probleme benannt, die bei der Erstellung von sozialen Dienstleistungen im Zusammenspiel von Staat, Markt und intermediären Institutionen auftreten: Die Schnittstellenproblematik bei der Bewältigung von neuen Anforderungen auf kommunaler Ebene, die Vermarktlichung des sozialen Dienstleistungssektors ebenso wie die Bindung von bürgerschaftlichem Engagement. Fest steht, dass sich die festgefügten wohlfahrtsverbandlichen Strukturen, vor den Rahmenbedingungen knapper Finanzquellen zunehmend öffnen müssen. Aus Sicht des Autorenteams können Social Entrepreneurs hier zumindest Zeichen setzen und dazu beitragen festgefügte Verbandsstrukturen aufzubrechen.
Diskussion
Die AutorInnen des Buches wollen klären, ob die Erwartungen, die in Deutschland mit dem sogenannten „Social Entrepreneurship“ verknüpft werden, auch empirisch eingelöst werden. Unter Social Entrepreneuren werden hier Unternehmen verstanden, die keinen Profit, sondern u. a. sozialen Mehrwert schaffen wollen. In der vorliegenden Untersuchung wird ein bunter Strauß von Arbeitsfeldern der Wohlfahrtsproduktion gründlich untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass Social Entrepreneurs derzeit noch Paradiesvögel in der Erstellung sozialer Dienstleistungen darstellen und dass soziale Innovationen eher als „Intrapreneurship“ aus den bereits vorhandenen Strukturen der Wohlfahrtsproduktion heraus entwickelt werden.
Mit spitzer Feder wird ein aktueller Einblick in die Wohlfahrtsproduktion Deutschlands gegeben; gleichzeitig ein Blick über den nationalen Tellerrand gewagt und ein Vergleich mit weiteren europäischen Staaten gezogen. Anhand der fundierten einführenden Kapitel, können LeserInnen sehr gut nachvollziehen, in welchen Akteurskonstellationen soziale Dienstleistungen erstellt werden und unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Social Entrepreneurship auf fruchtbaren Boden fallen könnte. In den Untersuchungen der einzelnen Arbeitsfelder werden Strukturen grundsätzlich erklärt und nach Erscheinungsformen des Social Entrepreneurships ausgeleuchtet.
Fazit
Angetreten, um das Feld des sogenannten „Sozialunternehmertums“ auf Durchsetzungsfähigkeit zu prüfen, wird in diesem Buch ein europäischer Wohlfahrtsstaatenvergleich geliefert, der als Grundlagenliteratur für Masterstudierende unbedingt zu empfehlen ist. Die Veröffentlichung bietet einen straffen und dennoch vertieften Überblick über wichtige Felder der Wohlfahrtsproduktion in Deutschland und zeigt auf, welche Blockaden bei der Entfaltung von Social Entrepreneurship noch zu überwinden und welche Vernetzungsherausforderungen in der Erstellung sozialer Dienstleistungen zukünftig zu bewältigen sind.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Helmer-Denzel
Studiengang „Senioren/Sozial-gesundheitliche Dienste-Bürgerschaftliches Engagement“ an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg - Heidenheim
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