Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet - Das Netz für die Sozialwirtschaft

Jobst Finke: Träume, Märchen, Imaginationen

Rezensiert von Prof. Dr. Mark Galliker, 19.09.2013

Cover Jobst Finke: Träume, Märchen, Imaginationen ISBN 978-3-497-02371-4

Jobst Finke: Träume, Märchen, Imaginationen. Personzentrierte Psychotherapie und Beratung mit Bildern und Symbolen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2013. 230 Seiten. ISBN 978-3-497-02371-4. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Reihe: Personzentrierte Beratung & Therapie - Band 11.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Der Autor des vorliegenden Buches, Jobst Finke, versucht Träume, Imaginationen und Märchen für die Personzentrierte Psychotherapie fruchtbar zu machen. Finke ist nicht der erste Psychologe und Psychotherapeut, der sich mit diesen Themen beschäftigt, man denke etwa an die psychoanalytische „Traumdeutung“ von Freud oder an die „Dynamik des Unbewussten“ von Jung, und auch innerhalb der Humanistischen Psychologie wurden diese Themen bereits behandelt (etwa von Wijngaarden im „Traumbuch“ von Gendlin, in „Dein Körper – Dein Traumdeuter“, von Lemke in „Das Traumgespräch“, von Stevens, in „Die Kunst der Wahrnehmung“ oder auch von Baer und Frick-Baer in ihren „Gefühlslandschaften“, z.B. in jener der Angst). Wer zu Finkes neuem Werk greift, wird sich vielleicht fragen, was er den genannten Werken noch hinzuzufügen vermag.

Autor

Dr. med. Jobst Finke, Essen, ist Gesprächspsychotherapeut und tiefenpsychologischer Psychotherapeut sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin, Neurologie und Psychiatrie, Er ist in der Ausbildung Personzentrierter Psychotherapie sowie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie tätig. Zudem ist er Mitherausgeber der „PERSON“, der „Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung“. Finke ist Autor zahlreicher Artikel wissenschaftlicher Fachzeitschriften und schrieb verschiedene wertvolle Bücher, die u.a. im Rahmen der Ausbildung zum Personzentrierten Psychotherapeuten relevant sind (vgl. u.a. die im Thieme-Verlag publizierten Schriften „Gesprächspsychotherapie“ und „Beziehung und Intervention“)

Entstehungshintergrund

Wesentlich für das vorliegende Werk ist, dass Finke ein Personzentrierter Gesprächspsychotherapeut mit einem tiefenpsychologischen Erfahrungshintergrund ist. Ein Motiv seines Werkes mag sein, die manchmal für Außenstehende eher beschränkte Perspektive des Personzentrierten Ansatzes auch tiefenpsychologisch zu explizieren und humanpsychologisch zu komplettieren (s.u., Diskussion). Für Finke war wegleitend „die innere Welt des Klienten mit ihren ganz privaten personalen Bedeutungen“ (Rogers, 1977, S. 20) den Leser/innen näher zu bringen. Seiner Meinung nach gehören Imaginationen, Phantasien und Tag- und Nachträume einer Person in ganz besonderer Weise zu dieser inneren Welt, weswegen gerade auch für den Personzentrierten Therapeuten ein systematisches Arbeiten mit Imaginationen und Träumen möglich sein sollte. Da der Autor auch in den Märchen Imaginationen sieht, nämlich kollektive, betrachtete er es für seine Arbeit als hilfreich, dieselben ebenfalls in seinem Buch zu berücksichtigen.

Aufbau

Nach dem Vorwort und der Einführung („Grundpositionen beim Personzentrierten Arbeiten mit Bildern und Symbolen“) folgen die drei Hauptteile des Werkes:

  1. Personzentriertes Arbeiten mit Träumen;
  2. Imaginationen in der Gesprächspsychotherapie;
  3. Personzentrierte Arbeit mit Märchen.

Jedes Kapitel ist auf zwei weiteren Ebenen in Unterkapitel unterteilt, in denen u.a. die Themen ausführlich beschrieben werden, auf die Indikation hingewiesen wird und besondere Methoden behandelt werden. Die drei Themenbereiche sind weitgehend eigenständig und können ohne Einhaltung der Reihenfolge für sich gelesen werden. Das Werk schließt mit einem Epilog, dem Zeilen von Eichendorff vorangestellt sind. Neben dem Literaturverzeichnis und dem Sachregister ist auch ein Märchenregister angefügt. Auf ein Personenregister wurde verzichtet.

Einleitung

In der Einleitung weist Finke auf das Selbstkonzept einer Person hin. Das Selbstkonzept ist ein Grundbegriff des Personzentrierten Ansatzes, den Finke in seinem Buch für seine Leser anschaulich vergegenwärtigt. Bei einem Klienten mit einem seelischen Leiden kommt es zunächst darauf an, dieses Selbstkonzept zu akzeptieren und es dann mit dem Klienten zusammen aus dessen Perspektive sowie in dessen Interesse sukzessive zu modifizieren, um eine akkurate Symbolisierung des meistens zu Beginn des therapeutischen Prozesses noch brachliegenden und/oder mit dem Selbstkonzept unvereinbaren organismischen Erlebens zu vereinigen. Zunächst gilt es, ein Selbstverständnis zu erreichen, das gegenüber dem eigenen organismischen Selbst toleranter ist. Sobald das organismische Erleben nicht mehr im Widerspruch zum Selbstkonzept steht und symbolisiert werden kann, „beginnt es, Teil des konzeptuellen Selbst zu werden“ (vgl. S. 127).

Erster Teil

Im ersten Teil seines Buches behandelt Finke das Personzentrierte Arbeiten mit Träumen. Nach dem Autor kommen im Traum jene Aspekte des organismischen Erlebens zur Darstellung, welche die Alltagsbewältigung oft stören. Das Konzeptuelle Selbst ist im Traum offener für Botschaften des organismischen Selbst und nähert sich demselben an, so dass in den Traumgestalten die im Wachbewusstsein ausgeblendeten Aspekte des organismischen Selbst zur bildhaften Entfaltung gelangen. Aufgrund der Aufhebung der logischen und der sozialen Normen in der Traumsprache werden in ihr jene Aspekte des organismischen Selbst abgebildet, die im Wachbewusstsein entweder infolge der Nichtübereinstimmung mit dem Selbstkonzept (bzw. der Inkongruenz) von der Gewahrwerdung ausgeschlossen sind oder die gegenüber den Realitätsanforderungen zu kurz kommen (z.B. Wünsche nach tiefer Geborgenheit, nach erotischer Intimität, nach rauschhafter Beglückung).

Dem Träumenden werden Wünsche präsentiert, die dem wachen Selbstkonzept fernliegen; gleichzeitig werden auch Gehalte des konzeptuellen Selbsts visualisiert, womit sich der Traum als doppelsinnig oder auch als mehrdeutig erweist. Demnach ist die Traumszenerie in ihren verschiedenen, oft widersprüchlichen Facetten zu verstehen. Unter einer solchen Perspektive kommen „im Traum dann jeweils verschiedene Persönlichkeitszüge des Träumers, verbildlicht durch die jeweiligen Traumfiguren, zur Sprache, z.B. der gütig-weise, der aggressiv-hexenhafte oder der fürsorglich-liebevolle Aspekt einer Person“ (S. 53).

Werden nach gestalttherapeutischem Vorbild die Traumfiguren als Aspekte des eigenen Selbst betrachtet, ermöglicht dies dem Klienten, sich nicht nur mit seinen wichtigsten Bezugspersonen, sondern auch in besonderer Weise mit seiner Beziehung zu sich selbst auseinanderzusetzen, beispielsweise mit dem Verhältnis von Selbstbild und Selbstideal. Das Ziel der Personzentrierten Arbeit mit Träumen, die nach Finke aus einer Imaginationsphase und einer Reflexionsphase besteht, ist die Lockerung und Erweiterung des Selbstkonzeptes und dadurch auch die „Bewusstwerdung des organismischen Erlebens“ (vgl. S. 53), scheint doch das organismische Selbst des Träumers schon weiter, kreativer und ‚klüger‘ zu sein als dessen Bewusstsein (vgl. Rogers, 1961/1973, S. 191).

Letztlich erklärt dies vielleicht auch, warum bestimmte Träume Lösungsvorschläge für anstehende psychische, psychosoziale oder sogar materielle Probleme in sich bergen, ja selbst gewisse Prognosemöglichkeiten zu beinhalten scheinen; eine Argumentationsfigur, die in ähnlicher Weise schon im zweiten Jahrhundert nach Christus Artemidor von Daldis (1518/1965) vorgeschlagen hat, indes von Freud, der vieles von diesem Pionier der Traumforschung in seine „Traumdeutung“ übernahm, wenngleich er ihn nur am Rande erwähnte, als unwissenschaftlich verworfen wurde.

Nach Finke ist „richtiges Verstehen“ des Traumes aufgrund dessen Vielschichtigkeit nie definitiv gegeben, mithin das Verstehen – in einem durchaus pragmatischen Sinne - unabschließbar. Der Therapeut könne sich von der Furcht, etwas falsch zu machen, befreien, wenn er personzentriert vorgehe, also die „Auseinandersetzung des Klienten selbst mit seinem Traum in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stellt“ und im übrigen den Klienten zur Selbstexploration anregt, mithin ihn allenfalls dergestalt beeinflusst, dass sich seine Phantasien an seinen Traumbildern „entzünden“ (vgl. S. 103).

Zweiter Teil

Im zweiten Teil seines Werkes befasst sich Finke mit den Imaginationen in der Gesprächspsychotherapie. Mit Imaginationen sind vorerst jene bildhaften Vorstellungen gemeint, die unwillkürlich das alltägliche Sprechen, Denken und Erleben begleiten; oft laufen sie so unscheinbar oder so schnell ab, dass die Person sie nicht ausdrücklich wahrzunehmen vermag. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit ermöglichen Imaginationen, emotionale Sachverhalte unmittelbarer und umfassender zum Ausdruck zu bringen als Begriffe.

Beim Personzentrierten Imaginationsgespräch werde darauf geachtet, dass das Imaginieren des Klienten sich möglichst übergangslos aus dem Gesprächsfluss ergibt. Zwar könne der Gesprächspsychotherapeut den Klienten durchaus auf dessen unwillkürliche Bilder oder auch auf seine eigenen aufmerksam machen, doch würden entsprechende Hinweise nicht in forcierter Weise vorgebracht, sondern eher in der Gestalt einer Frage oder eines Angebots. Beispiele:

  • „Bei dieser Todesangst, von der Sie häufiger berichten, welche Bilder erscheinen da vor Ihrem inneren Auge, wenn Sie sich diese Angst sehr intensiv vergegenwärtigen?“ (S. 106)
  • „Wie Sie das jetzt so sagen, sehe ich vor meinem inneren Auge einen auf einer großen, leeren Fläche stehenden, fast kahlen Baum“ (S. 118)

Demnach achtet der Therapeut darauf, dass er selbst möglichst bildhaft und plastisch verbalisiert, mithin sich erlebensnah ausdrückt und dabei vorerst noch nicht unbedingt in exakter Weise formuliert, sondern womöglich noch vieldeutig bleibt. „Dieses Formulieren in Sprachbildern kann dann der Einstieg in ein intensives Imaginieren sein, insofern die thematische Vorgabe des jeweiligen Sprachbildes ausphantasiert wird“ (S. 109).

Nach dieser ersten Phase des Imaginierens folge die Klärungs- und Verstehensphase, also die Übersetzung der Bilder in die Sprache der Begriffe, indes sollte das Klären und Verstehen im weiteren therapeutischen Prozess zwischenzeitlich wieder abgelöst werden durch Momente des Imaginierens, um die mehr kognitiven Einsichten wiederum emotional erlebnishaft zu verankern. Auf diese Weise nähere sich der Klient sukzessiv dem organismischen Erleben unterhalb der diskursiv-sprachlich organisierten „rationalen Denkschicht“ an. Im therapeutischen Prozess käme es darauf an, von der vielschichtigen und bedeutungsvollen „Sprache der Bilder“ durch „geduldiges Verstehen“ möglichst viel zu erhalten. Wie beim Verstehen eines Traums darf auch „dieses Verstehen nie eingleisig sein, sondern muss verschiedene Aspekte und Perspektiven berücksichtigen, muss sich dabei immer auch mit dem Verstehen des Klienten abstimmen, um dessen Selbstexploration und Selbstverständnis sowohl zu vertiefen wie zu erweitern“ (S. 144).

Dritter Teil

Im dritten Teil seiner Schrift behandelt Finke die Personzentrierte Arbeit mit Märchen. Im Unterschied zu den Nacht- und Tagträumen, die individuell imaginiert werden, wurden die Volksmärchen ursprünglich kollektiv produziert, indes erfolgt ihre Aneignung zunächst interindividuell und später auch individuell. Einerseits wird angenommen, dass die latenten Traumgedanken und mehr noch die manifesten Trauminhalte durch intensiv erlebte Märchenerzählungen in der Kindheit beeinflusst werden.(vgl. Freud, 1900/ 1972); andererseits wird aber auch davon ausgegangen, dass Märchen ihren Ursprung in Träumen haben (vgl. u.a. Müller, 1995). Nach Finke schließen sich die beiden Richtungen der Argumentation nicht aus: „Märchen können aus Traumerzählungen entstanden sein und ihrerseits wieder die Träume von späteren Märchenhörern oder -lesern beeinflusst haben“ (S. 146). Der letztlich eher vom Individuum ausgehende Autor (s.o., Entstehungshintergrund) behandelt an erster Stelle die Träume und an dritter Stelle – vermittelt über die Imagination – die Märchen (s.o., Aufbau).

Märchen führen kleine und große Kinder in eine Welt des Wünschens und in Folge oft auch in eine des Wunders ein, was sie ermutigt, zu ihren Bedürfnissen und Gefühlen zu stehen sowie ihren Sehnsüchten phantasierend nachzugehen. Die wunderlichen Wendungen in der Märchenhandlung setzen auch Intuition und Kreativität frei, wodurch sie zu einer Stütze des Selbstvertrauens werden Bei Klienten erweisen sich diese phantasievollen Geschichten als wichtige Voraussetzung zur Selbstexploration. Gegebenenfalls erinnern sie auch an ‚frühere Märchenstunden‘, wodurch sie einen Zugang zur eigenen Vergangenheit eröffnen.

Die prototypischen Figuren und die plastischen Szenen der Märchen provozieren die Projektion eigener Probleme. Wenn die Konflikte und Schwierigkeiten in den Bildern und Szenen des Märchens wahrgenommen werden, rücken sie in einen besonderen, bedeutungsvollen Bedeutungshorizont. Das inspiriert zu Sinnstiftungen, welche das Selbstverstehen erweitern.

Viele Märchen illustrieren Entwicklungsprozesse und sind deshalb für Klienten hilfreich. Dabei beachtet Finke vor allem die meistens verklausulierte Inkongruenz und den oft drastisch geschilderten Ausweg aus der Selbstentfremdung mit dem guten Ende der Selbstverwirklichung Das Märchen inspiriert zu Fragen nach den Wegen und Zielen des ‚wirklichen Selbst‘. Es kann die Klienten dazu anregen, sich der eigenen Sinnkonzepte zu vergewissern „und sich selbst nach dem eigenen ‚Wohin‘ und ‚Wozu‘ zu befragen“ (vgl. S. 149).

Diskussion

Einige Personzentrierte Psychotherapeuten werden sich fragen, ob Finkes Werk wirklich als „personzentriertes“ verstanden werden kann, so wie es der Titel, der Verlag sowie zahlreiche Textstellen nahelegen, oder ob die tiefenpsychologischen und – therapeutischen Einflechtungen und Interpretationen doch darüber hinausweisen. Der Autor selber bietet schon im Vorwort Diskussionsfragen an wie die Folgenden: Muss der Therapeut dem Klienten beim Aneignen von Symbolbedeutungen behilflich sein? Muss er dabei dem Klienten im Verstehen voraus sein? (vgl. S. 11). Dem Personzentrierten Gesprächspsychotherapeuten Finke scheint die Frage ‚Weicht meine Vorgehensweise vom Standardvorgehen in der Personzentrierten Psychotherapie ab‘? präsent zu sein; ja es scheint, dass sie in einer Art Subtext des Textes denselben ‚durchzieht‘ und mit entsprechenden mehr oder weniger explizierten Antworten versehen in seiner Darstellung stets ‚mitschwingt‘.

Zunächst weist der Autor darauf hin, dass auch nach dem Personzentrierten Ansatz „der Therapeut bei aller Teilhabe und allem Miterleben einen gewissen Abstand zum Bezugssystem des Klienten“ einzuhalten hat (vgl. S. 27). Er sollte also die Selbstdeutungen des Klienten nicht einfach nur bestätigend nachzeichnen, sondern er wird dem Klienten auch sachte Anstöße geben, die von ihm favorisierten Märchen, seine Imaginationen und Träume detaillierter zu verstehen, um sein organismisches Erleben exakter zu symbolisieren, es schließlich zu begreifen und in sein Selbstkonzept zu integrieren, was nur möglich zu sein scheint, wenn er seinen „etwas anderen Blick“, ja seine „andere Überspektive“ nicht ganz verleugnet und dadurch die Perspektive des Klienten behutsam erweitert.

Würde dies nicht bedeuten, „dass der Therapeut, zumindest phasenweise und partiell, den Klienten besser versteht als dieser sich selbst“ (S. 27). Genau dies wird jedoch von diversen Repräsentanten der Humanistischen Psychologie und gerade auch von vielen Personzentrierten Gesprächspsychotherapeuten bestritten. Sie orientieren sich ausschließlich an den vorhandenen und im Verlaufe des therapeutischen Prozesses immer deutlicher aufkommenden Ressourcen des Klienten resp. an der Aktualisierungstendenz, dem „Axiomatischen Kernkonzept“ des Personzentrierten Ansatzes (vgl. u.a. Kriz & Stumm, 2003).

Indes würde Finke diese Ausrichtung kaum bestreiten. Er geht in der Regel von den Themen aus, von denen der Klient gerade spricht, lässt dieselben konsequent klientzentriert imaginieren und widerspiegelt seinerseits nur die Selbstaussagen des Klienten, wenngleich er sie manchmal so aufgreift, dass diese „in ihrem Sinne jeweils um Nuancen geändert bzw. umakzentuiert werden“ (S. 28). Dies bedeute nicht, dass der Therapeut im Besitz eines gültigen, die Intersubjektivität übersteigenden Wissens sei; vielmehr könne über eine Selbsttäuschung oder das Selbstsein nur im dialogischen Prozesszwischen Therapeut und Klient entschieden werden (vgl. S. 28).

Schließlich weist Finke darauf hin, dass der Therapeut seine eigenen Imaginationen einer kritischen Sichtung unterzieht. „Er muss ihren möglichen Sinngehalt in einem Prozess des Abwägens und Vergleichens eruieren und an der Wirklichkeit des Klienten überprüfen. Abwägen muss er dabei natürlich auch, inwieweit die Bilder, die sich bei ihm als Resonanz auf den Klienten einstellen, auch etwas mit seiner eigenen Persönlichkeitsproblematik zu tun haben. Imaginationen sind eben auch anfällig für Projektionen und andere verzerrende Einflüsse“ (S. 114). Damit spricht Finke implizit die Problematik der Übertragung und Gegenübertragung an, die in der modernen Psychoanalyse eine zentrale Rolle spielt (vgl. u.a. Etchegoyen, 1999) und in der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie konzeptuell vernachlässigt wird, doch in ihrem Prozess wohl genauso gut bewältigt werden kann wie bei einer psychoanalytischen Vorgehensweise.

Fazit

Mit Finkes Schrift „Träume, Märchen, Imaginationen“ erscheint die Gesprächspsychotherapie in einem neuen, farbigen Licht. Dabei werden zwar einige Linien des Personzentrierten Ansatzes besonders akzentuiert und weiter ausdifferenziert, doch kann man dem Autor rechtgeben: Wenigstens im Wesentlichen widerspricht sein Buch weder dem Werk Rogers noch dessen wichtigsten Weiterentwicklungen (u.a. Gendlin, 1978/1981; Swildens, 1988/1991).

Finke bereichert den Personzentrierten Ansatz durch seine therapeutische Erfahrung sowie durch sein großes Wissen über Märchen, Imaginationen und Träume, das er u.a. aus der Tiefenpsychologie und aus der Traum- und Hirnforschung bezieht. An zahlreichen Fallbeispielen werden praxisnah Methoden der Personzentrierten Arbeit mit Bildern in Träumen, Märchen und Imaginationen präsentiert. Der Autor versteht es, die Leser dazu anzuregen, sich wieder vermehrt mit Märchen und Träumen auseinanderzusetzen.

Das Buch verdient eine große Leserschaft und gehört meinem Dafürhalten nach in das Bücherregal jedes Gesprächspsychotherapeuten, ja vielleicht auch jedes Therapeuten. Es ist leicht verständlich und zugleich feinsinnig geschrieben und kann ebenso gut von Laien wie von Therapeuten gelesen werden. Ein faszinierendes Buch, das theoretisch sowie praktisch einen hohen Gebrauchswert hat.

Literatur

  • Artemidor von Daldis (1518/1965). Traumbuch. Übertragung von F.S. Krauss. Bearbeitet und ergänzt von M. Kaiser. Basel: Schwabe.
  • Baer, U. & Frick-Baer, G. (2009). Gefühlslandschaft Angst. Weinheim: Beltz.
  • Etchegoyen, R.H.(1999). The fundamentals of psychoanalytic technique. London: Karnac Books.
  • Finke, J. (1994). Empathie und Interaktion. Stuttgart: Thieme.
  • Finke, J. (1999). Beziehung und Intervention. Stuttgart: Thieme.
  • Freud, S. (1900/1972). Die Traumdeutung. Studienausgabe Bd. II. Frankfurt a.M.: Fischer
  • Gendlin, E.T. (1978/1981). Focusing. Salzburg: Otto Müller.
  • Gendlin, E.T. (1986/1998). Dein Körper – Dein Traumdeuter: Salzburg: Otto Müller.
  • Kriz, J. & Stumm, G. (2003). Aktualisierungstendenz. In: G. Stumm, J. Witschko & W. Keil. Grundbegriffe der Personzentrierten und Focusing-orientierten Psychotherapie und Beratung (S. 18-21). Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.
  • Lemke, H. (2000). Das Traumgespräch. Umgang mit Träumen nach klientenzentriertem Konzept. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Müller, E. (1995). Traum- und Märchenphantasie. In: W. Laiblin (Hrsg.). Märchenforschung und Tiefenpsychologie (S. 71-87). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Rogers, C.R. (1961/1973). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Roger, C.R. (1977). Therapeut und Klient. München: Kindler.
  • Stevens, J.O. (1971/2006). Die Kunst der Wahrnehmung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
  • Swildens, H. (1988/1991). Prozessorientierte Gesprächspsychotherapie. Köln: GwG.
  • Wijngaarden, H.R. (1991). Traum, geführter Tagtraum und aktive Imagination in der Klientenzentrierten Psychotherapie. In J. Finke & L. Tausch (Hrsg.). Gesprächspsychotherapie bei Neurosen und psychosomatischen Erkrankungen (S. 187-1995). Heidelberg: Asanger.

Rezension von
Prof. Dr. Mark Galliker
Institut für Psychologie der Universität Bern
Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung, Psychotherapie, Beratung (pca.acp).
Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung (PERSON).
Mailformular

Es gibt 16 Rezensionen von Mark Galliker.

Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 16125

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Mark Galliker. Rezension vom 19.09.2013 zu: Jobst Finke: Träume, Märchen, Imaginationen. Personzentrierte Psychotherapie und Beratung mit Bildern und Symbolen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2013. ISBN 978-3-497-02371-4. Reihe: Personzentrierte Beratung & Therapie - Band 11. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15365.php, Datum des Zugriffs 25.03.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht