Edwin Karl Franz Behrens: Rolle, Einfluss- und Durchsetzungschancen von Behindertenbeiräten, [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Albrecht Rohrmann, 29.10.2013
Edwin Karl Franz Behrens: Rolle, Einfluss- und Durchsetzungschancen von Behindertenbeiräten, Behindertenbeauftragten oder Koordinatoren im Kommunen. Eine soziologische Studie der Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen. Gardez! Verlag Michael Itschert (Remscheid) 2013. 400 Seiten. ISBN 978-3-89796-245-3. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Thema
In politischen Entscheidungsprozessen haben die Interessen bestimmter Gruppen bessere Chancen sich durchzusetzen, als die anderer Gruppen, wobei es bereits eine Diskriminierung ist, letztere als ‚schwache Interessen‘ zu bezeichnen. Um die Durchsetzungschancen der Interessen von benachteiligten Gruppen zu verbessern, werden häufig Beauftragte oder Beiräte eingesetzt. Dies hat auch im Bereich der Vertretung von Menschen mit Behinderungen eine lange Tradition. Die vorliegende Veröffentlichung von Edwin Behrens beschäftigt sich empirisch mit den Formen und der Wirksamkeit der Interessenvertretung auf kommunaler Ebene. Wenngleich es keine gesetzliche Grundlage für die Ausgestaltung einer solchen Interessensvertretung gibt, hat deren Entwicklung im Zusammenhang von Gleichstellungsgesetzen auf der Ebene des Bundes und der Länder an Aufmerksamkeit gewonnen. Die UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen hat dem Thema einen neuen Impuls gegeben. Sie räumt da dem Aspekt der Partizipation von Menschen mit Behinderungen bei der Umsetzung und Überwachung der Konvention eine besondere Bedeutung ein. Zugleich verpflichtet die Konvention dazu „aktiv ein Umfeld zu fördern, in dem Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten mitwirken können“. (Artikel 29) Bislang gibt es in diesem Bereich nur wenige empirische Forschungsarbeiten, auf die die Weiterentwicklung von Vertretungsstrukturen aufbauen kann.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um eine Dissertationsschrift, die von der Bergischen Universität Wuppertal im Fachbereich Bildungs- und Erziehungswissenschaften angenommen wurde. Herr Behrens hat nach seiner beruflichen Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und als Behindertenbeauftragter das Studium der Sozialwissenschaften aufgenommen und promoviert. Seine empirischen Erhebungen beziehen sich in erster Linie auf Kommunen im Bergischen Land, die ihm durch seine berufliche Tätigkeit bekannt sind.
Aufbau und Inhalt
In den ersten Kapiteln führt der Autor in die grundlegenden Begriffe seiner Arbeit und die gesetzlichen Grundlagen, die die Arbeit von Behindertenbeiräten, Beauftragten und Koordinatoren begründen, ein. Insbesondere vor dem Hintergrund fehlender gesetzlicher Verpflichtungen zur Einberufung von Behindertenbeiräten oder zur Bestellung von Beauftragten wird gut herausgearbeitet, dass die sich verändernden gesetzlichen Grundlagen, beispielsweise die Begründung von Maßnahmen durch den Schutz vor Benachteiligungen, die Ausbildung von Vertretungsstrukturen auf kommunaler Ebene nahe legen. Für Beiräte und Beauftragte legitimiert die Einhaltung und Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen die Arbeit. Sie beziehen sich dabei zum einen auf Konzepte der ‚Barrierefreiheit‘ und in zunehmenden Maße auf den Ansatz der ‚Inklusion‘, während andere Felder wie die Organisation von Hilfen beispielsweise mit Bezug zur Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung eher nachrangig bleiben. Behrens stellt die Arbeit der Beiräte, Beauftragten und Koordinatoren auf kommunaler Ebene in den Zusammenhang eines Paradigmenwechsels von der Fürsorge zur gesellschaftlichen Teilhabe, Selbstbestimmung und Autonomie.
In einem weiteren Kapitel klärt der Autor, wie sich diese Veränderungen zu den Leistungsansprüchen und den Institutionen nach den für die Rehabilitation relevanten Abschnitten in den Sozialgesetzbüchern verhält. Dabei gibt er einen sehr interessanten Überblick über die Bedeutung der lokalen Gliederungen von Organisationen, der Sozialadministration sowie Verbänden der Wohlfahrtspflege und Interessenvertretung.
Im empirischen Teil der Arbeit setzt sich Behrens zunächst mit den Behindertenbeiräten auseinander. Er versteht darunter „Interessenvertretungen für die Belange der Menschen mit Behinderungen in Kommunen, die einerseits auf die noch immer bestehenden gesellschaftlichen Benachteiligungen, Segregationen oder Barrieren der Betroffenen hinweisen und diese transparenter machen, andererseits vor Ort versuchen, die politische und/oder administrative Kommunalebene durch Anregungen, Initiativen und Empfehlungen zu veranlassen, die Inklusion in allen Lebensbereichen … zu fördern und zu optimieren“ (S. 108). Als empirische Basis dient ihm die Arbeit von Beiräten in vier Städten im Bergischen Land (Wuppertal, Solingen, Remscheid und Wermelskirchen). Das kleine Sample bietet die Möglichkeit einer sehr detaillierten Analyse, es ist aber durch die räumliche Nähe der untersuchten Gremien eine wechselseitige Beeinflussung anzunehmen. Die Untersuchung berücksichtigt Selbstbeschreibungen, Satzungen, Protokolle und Befragungen von Beiratsmitgliedern. Auf ähnliche Weise untersucht Behrens die Tätigkeit von Behindertenbeauftragten oder Koordinatoren, die als Mitarbeiter/innen der Verwaltung einerseits der Interessenvertretung und andererseits der Befriedung von Gruppeninteressen dienen. Sicher auch durch seine eigene frühere Tätigkeit als Behindertenbeauftragter gelingt es Behrens das Spannungsfeld ihrer Aufgaben hervorragend darzustellen und zu unterschiedlichen Typen zusammenzufassen.
Mit einer standardisierten, schriftlichen Befragung der Beiratsmitglieder und der Beauftragten wurden soziodemografische Daten, Motivationen zur Vertretungsarbeit, Wissen über die vorhandene Strukturen und Einschätzungen zur Wirksamkeit der Interessenvertretung erhoben. Die Mitglieder der Behindertenbeiräte sind überwiegend selbst von Behinderung betroffen, vorwiegend älter (55 Jahre und älter), stehen in intensivem Kontakt zur Verwaltung im Bereich ‚Soziales‘ und ‚Bauen‘, während der Austausch mit anderen Gremien weniger intensiv ist. Sie bewerten ihre Durchsetzungschancen im mittleren Bereich als zufriedenstellend/hinreichend und sprechen sich mehrheitlich für eine Aufwertung der Beiräte und eine Stärkung ihrer Kompetenzen aus. Bei den Ergebnissen der Befragung der Behindertenbeauftragten zeigt sich eine große Uneinheitlichkeit der Dienstbezeichnung, der Qualifikation und der Aufgaben. Auch hier erfolgt eine Zusammenarbeit in erster Linie mit der Politik. Die Durchsetzungschancen werden etwas skeptischer als von den Beiratsmitgliedern bewertet. Die Beauftragen setzen sich mehrheitlich für eine gesetzliche Verankerung der Tätigkeit ein.
Auch Behrens setzt sich im Fazit für eine Stärkung der Beiräte und Beauftragten ein, da die jetzige Ausgestaltung ihrer Aufgaben nicht ausreicht, um „gravierende Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Menschen mit Behinderungen zu erreichen“ (S. 303). Die Einfluss- und Durchsetzungschancen sind zudem von Kommune zu Kommune sehr unterschiedlich. Behrens spricht sich zudem für eine Aufwertung und Vereinheitlichung des Berufsbildes der Behindertenbeauftragten aus.
Fazit
Es handelt sich um eine Arbeit, der sehr deutlich der Charakter einer Dissertationsschrift anzumerken ist. Vor dem Hintergrund der Veränderungen im Feld der kommunalen Behindertenpolitik und der unzureichenden empirischen Forschungslage handelt es sich jedoch um eine sehr wichtige Veröffentlichung für den Fachdiskurs der kommunalen Behindertenpolitik. Die Veröffentlichung leistet zudem einen guten Beitrag zur empirischen Forschung über kommunale Partizipation durch Beiräte auch in anderen Feldern. Der Autor setzt sich wissenschaftlich mit einem Handlungsfeld auseinander, das er im Rahmen seiner früheren Berufstätigkeit aktiv mitgestaltet hat. Dennoch hält er die Ebene der wissenschaftlichen Analyse durch und gewinnt wichtige Erkenntnisse über die Rahmenbedingungen der Beiratsarbeit und die Chancen der Durchsetzung von Interessen einer benachteiligten Gruppe.
Rezension von
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt soziale Rehabilitation und Inklusion an der Uni Siegen, Zentrum für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE)
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Es gibt 25 Rezensionen von Albrecht Rohrmann.
Zitiervorschlag
Albrecht Rohrmann. Rezension vom 29.10.2013 zu:
Edwin Karl Franz Behrens: Rolle, Einfluss- und Durchsetzungschancen von Behindertenbeiräten, Behindertenbeauftragten oder Koordinatoren im Kommunen. Eine soziologische Studie der Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen. Gardez! Verlag Michael Itschert
(Remscheid) 2013.
ISBN 978-3-89796-245-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15375.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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