Vittorio Hösle: Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.08.2013

Vittorio Hösle: Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist. Verlag C.H. Beck (München) 2013. 320 Seiten. ISBN 978-3-406-64864-9. D: 22,95 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 34,90 sFr.
Die Suche nach der Wahrheit
Philosophie sei, so einige der Interpretationen, die Suche danach, was der Mensch ist, wie er ist, wie er lebt und leben soll. Meist wird die Suche danach mit den drei Kantischen Fragen charakterisiert: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und sie wird motiviert durch die Aufforderung: Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Das sind Anforderungen, die zu den Urgründen menschlichen Daseins reichen und entweder als unmöglich, oder als erfolgversprechend deklariert werden. Alle Völker haben zu allen Zeiten darüber nachgedacht, was das Leben ist, was das wichtigste im Leben ist, warum wir Menschen leben und wer wir sind. Manche Menschen haben ihr ganzes Leben damit zugebracht, zu philosophieren. Die ersten Menschen haben ihre Fragen in die Felsen geritzt, als Bilder, die wir heute als Felszeichnungen bewundern; die griechischen Philosophen, wie z.B. Sokrates (470 – 399 v.Chr.), Platon (427 – 347 v.Chr.), Aristoteles (384 – 322 v.Chr.)…, haben nach dem Sinn des Lebens gefragt. Heraklit (ca. 540 – 480 v.Chr.) sah in der dauernden Veränderung der Natur die Wurzel des Lebens. „Alles fließt“, so versuchte er zu erklären, dass alles in Bewegung ist und nichts ewig dauert (siehe dazu: Jostein Gaarder, Sofies Welt, Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg, München-Wien-Frankfurt/M., 1993, 613 S.). In der Bibel kann man lesen (sprachlich vereinfacht, d.V.): Alles hat seine Zeit und seine Stunde. Geboren werden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit, Pflanzen hat seine Zeit, Ernten hat seine Zeit, Töten hat seine Zeit, Gesund werden hat seine Zeit, Niederreißen hat seine Zeit, Aufbauen hat seine Zeit, Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit, Klagen hat seine Zeit, Tanzen hat seine Zeit. Das philosophische Denken in Asien wird in der kurzen Geschichte deutlich: Kommt ein Schüler mit einer brennenden Kerze zum Lehrer und fragt: Meister, woher kommt das Licht? Der bläst das Kerzenlicht aus und antwortet: Wenn du mir sagst, wohin das Licht geht, sage ich dir, woher es kommt! Die indianischen Auffassungen, dass der Mensch zur Erde gehöre, er aber nicht Besitzer oder Beherrscher der Natur sei, ist frühzeitig von den materialistischen und imperialen Machtgelüsten der Weißen getilgt worden; und die eurozentristischen und kolonialen Festlegungen, dass die Afrikaner nicht philosophieren könnten, weil sie keine Geschichte und Kultur hätten, hält sich allzu zähflüssig in einigen Denkmustern bis heute.
Philosophen, wenn sie nicht Auftragsarbeiter von Ideologien und verordneten Denkmächten sind, brauchen eine der wesentlichsten Tugenden und Kompetenzen des Menschseins, nämlich eigen- und selbständig denken zu können (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php), was bedeutet, dass sie sich die Suche nach der Wahrheit nicht diktieren lassen, sondern sich selbst auf den Weg dazu machen (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php; sowie auch: Peter Brüger / Jörg Lau, Hrsg., Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12494.php; siehe auch: Jürgen Stock, Das wäre doch gedacht! Wie wir uns aus der Falle eingefahrener Denkmuster befreien, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11725.php). Dabei formulieren sie ihre Erkenntnisse entweder a priori, oder a posteriori, was bedeutet, dass philosophisches Wissen sowohl erkenntnis-, als auch erfahrungsorientiert sein kann.
Entstehungshintergrund und Autor
Deutsche Philosophen haben/hatten in der Geschichte der Philosophie einen guten Klang. Insofern ist es durchaus sinnvoll – bei aller gebotenen Distanz und Unabhängigkeit – eine deutsche Geschichte der Philosophie zu schreiben. Dabei dürfte es schier unmöglich sein, eine „spezifisch deutsche“ Richtung des philosophischen Denkens herauszufiltern, weil natürlich im europäischen und globalen Diskurs über Jahrhunderte hinweg – und heute in speziellem Maße – sich Philosophen in ihrem Denken (wie auch im Richtungsstreit; vgl. dazu z. B.: Richard Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M., 2008, 357 S., Rezension in BLK vom 14. 8. 2008).beeinflusst haben. Es ist insbesondere der „Philosophical Turn“, wie er sich im 20. Jahrhundert vor allem in den angelsächsischen Ländern durchgesetzt hat, der eine Wende im (professionellen) philosophischen Denken bewirkte und die Philosophie als „Lebenswissenschaft“ nicht nur kooperationstauglich, sondern a priori als Kooperationsfach stimulierte (Terry Eagleton, Der Sinn des Lebens, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/7111.php). Ob irritierend oder das Denken herausfordernd, soll einmal dahingestellt bleiben, wenn mit dem (Denk-)Befehl „Schweiget!“ die Philosophen sogar damit provoziert werden, die Philosophie als ultimative Quelle der konsumistischen, kritischen Einstellung abzuschaffen und dadurch die Wahrheit aus ihrer Warenförmigkeit zu befreien“ (Boris Groys, Einführung in die Anti-Philosophie, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8487.php); doch die philosophischen Signale gegen die entfesselte Geistlosigkeit, die sich in Klagen über die „Verseichung“ der intellektuellen und kulturellen Ansprüche in der (Alltags-)Gesellschaft ausdrücken (Peter Sloterdijk, Philosophische Temperamente. Von Platon bis Sartre, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8795.php), sollten nicht ignoriert werden. Denn die Frage, wie die philosophischen, psychologischen und neurobiologischen Erkenntnisse über das Bewusstsein zusammen passen, und damit die urphilosophische Frage: „Wer bin ich?, bedarf der Erklärung und Auseinandersetzung (Richard David Precht,: Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Eine philosophische Reise, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/9462.php). Der abendländische Mensch, dem es (erst) langsam dämmert, dass sein Denken und sein Geist kein Alleineinstellungsmerkmal menschlichen Daseins darstellt (Arno Bammé, Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt ; Zäsuren abendländischer Epistemologie, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/14403.php), bedarf der Nachschau, wie sich historisch ein überlegener, unabhängiger Geist gebildet hat und bis heute wirkt (Philipp Blom, Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11541.php). Und die Leserin und der Leser von philosophischen Traktaten sollten sich daran erinnern, dass Philosophie auch eine „Kultur der Nachdenklichkeit“ sein kann (Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13290.php).
Vittorio Hösle, der an der University of Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana lehrt, attestiert, dass der „deutsche Geist, wenn es ihn je gegeben hat, vergangen ist“, und zwar nicht nur angesichts der durch die Globalisierung entstandenen multi- und transnationalen Bezüge auch im Wissenschaftsbereich, insbesondere durch die Ablösung des Lateinischen des Mittelalters durch das Englische heute. Mit der Arbeitshypothese, „dass zwar die deutsche Aufklärungsphilosophie gemeinsame Züge der europäischen teilt, aber doch eine spezielle Ausgestaltung gewonnen hat, die sie, jenseits der bloßen Verwendung der deutschen Sprache, von der der Nachbarländer unterscheidet“, begründet der Autor das Unterfangen, „Eigentümlichkeiten hervorzuheben, die diese (die deutsche, JS) von derjenigen anderer europäischer Nationen unterscheidet“. Dabei filtert er ein Charakteristikum einer „deutschen Philosophie“ heraus, nämlich „dass zum deutschen Geist entscheidend das Nachdenken über den Geistbegriff gehört“.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert das Buch in 15 Kapitel.
Im ersten fragt er: „Gibt es überhaupt eine Geschichte der deutschen Philosophie? Und: Hat es je einen ‚deutschen Geist‘ gegeben? Im zweiten geht er den Anfängen deutschsprachigen Philosophierens im Mittelalter nach; im dritten diskutiert er die „Veränderung der philosophischen Situation durch die Reformation“; im vierten Kapitel setzt er sich mit Leibnitz‘ Synthese von Scholastik und neuer Wissenschaft auseinander; im fünften ist Immanuel Kant dran; im sechsten wird „Geisteswissenschaft als religiöse Aufgabe“ anhand von Lessing, Herder, Schiller, Wilhelm von Humboldt u.a. thematisiert; im siebten geht es um den deutschen Idealismus; im achten Kapitel kommt Schopenhauers Revolte gegen die christliche Dogmatik zur Sprache; im neunten wird diese Auflehnung fortgesetzt mit Ludwig Feuerbach und Karl Marx; im zehnten ist Friedrich Nietzsche an der Reihe; im elften kommen, mit Wittgenstein, die „exakten Wissenschaften als Herausforderung und der Aufstieg der analytischen Philosophie“ ins Spiel; im zwölften wird die „Suche nach einer Begründung der Geistes- und Sozialwissenschaften“ bei Dilthey und Husserl fortgesetzt; im dreizehnten stellt der Autor die Frage: „Gibt es eine Mitschuld der Philosophie an der deutschen Katastrophe“, indem er bei Heidegger, Gehlen und Schmitt nachschaut; im vierzehnten wird mit Gadamer, der Frankfurter Schule und Hans Jonas „die bundesrepublikanische Anpassung an die westeuropäische Normalität“ aufgezeigt; und schließlich im fünfzehnten und letzten Artikel die Vermutung geäußert: Warum damit zu rechnen ist, dass es weiterhin eine deutsche Philosophie geben wird“.
Dass der deutsche Philosoph Vittorio Hösle, 1960 als Sohn des damaligen Leiters des Goethe-Instituts, Johannes Hösle, in Mailand geboren, verheiratet mit einer Koreanerin und heutiger Staatsangehöriger der USA, seine Nachschau über die Entwicklung und Bedeutung deutschen philosophischen Denkens von Übersee aus auf den „deutschen Geist“ richtet, kann ohne Zweifel als ein Zeichen für Universalität im philosophischen Reflektieren verstanden werden: „Mein Blick auf Deutschland ist nicht mehr ein interner, sondern wie derjenige eines Ausländers, der zwei Dinge begreifen will: welche Faktoren den Aufstieg der deutschen Philosophie zu einer der zwei faszinierendsten in der Menschheitsgeschichte begünstigt haben, und wieso, trotz dieser philosophischen Tradition, die moralisch-politische Katastrophe von 1933 – 1945 erfolgen konnte“.
Die Überschrift des zweiten Kapitels „Die Gottesgeburt der Seele“ symbolisiert gewissermaßen die theologische und philosophische Begründung des Weltbildes als Einheit des Denkens und christlichen Handelns: „Als Abbild des trinitarischen Gottes gewinnt das Universum eine neue Würde, und es ergibt sich das Projekt einer apriorischen, theologisch begründeten Naturphilosophie“.
Die Reformation war „philosophisch gesehen… sowohl ein Fortschritt als auch ein Rückschritt“. Mit der Kritik Paracelsus‘ an der Institution der (katholischen) Kirche und insbesondere mit der Theosophie „des ersten epochemachenden deutschen Philosophen der Neuzeit, Jakob Böhme, entwickelt sich „eine Erkenntnis Gottes, die ein Verständnis auch der Natur aus Gottes trinitarischem Wesen heraus ermöglichen soll“.
Die Leibnitzsche Synthese von Scholastik und neuer Wissenschaft zeigt sich vor allem darin, dass es ihm gelingt, die erkenntnistheoretischen und ontologischen Denksysteme darauf festzulegen, dass Gott „als allmächtiges, allwissendes und allgütiges Wesen ( ) nicht umhin (kann), die beste aller möglichen Welten zu schaffen“, was ja nicht mehr und nicht weniger zum Ausdruck bringt als: „Für Gott ist nur das Beste gut genug“.
Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant hat mit der antiken, metaphysischen Philosophie aufgeräumt, dass der Mensch abhängig vom göttlichen Wirken und Gottesliebe mit Selbstliebe identisch sei. Mit seinem kategorischen Imperativ schlägt er eine Brücke zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Unter Bezugnahme auf das aristotelische „gute Leben“ wird bei Kant das Gute, Schöne und Gelingende zum „Symbol der Sittlichkeit“.
Mit Gotthold Ephraim Lessing, Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder, Friedrich von Schiller, Wilhelm von Humboldt und anderen ihrer Zeit entwickelt sich, in der Verbindung von Ästhetik und Geschichtsphilosophie, die Geisteswissenschaft als religiöse Aufgabe. Damit gewinnt Sprache (an sich) in der Erweiterung durch Dichtung und Philosophie eine dialektische Bedeutung.
In der Epoche des deutschen Idealismus erhält philosophisches Denken insbesondere durch drei Männer einen neuen Schwung: Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Die Gliederung des philosophischen Systems in Logik, Natur und Geist ermöglicht, dass philosophisches Denken und Wirken sowohl normativ, als auch formal als praktisch-politisches Handeln tätig werden kann.
Arthur Schopenhauers Entdeckung der indischen Welt, die sich als Entdeckung des „Anderen“ und als Wagnis darstellt, geistesgeschichtlich und kulturell über den Gartenzaun zu schauen, öffnet der Philosophie den Blick für den Orient und die asiatischen Weltanschauungen als Quellen der Weisheit. Ob von Schopenhauer gewollt, gemocht oder nicht – es war nur konsequent, dass sich seine Gedanken über Macht und Machtwillen in Wagners Werk ausdrückten.
Sucht man nach Entwicklungslinien im (deutschen) Denken, stellen sich im direkten Zusammenhang die Revolten gegen die hergebrachte, bürgerliche Welt dar. Mit Ludwig Feuerbach und Karl Marx treten zwei Denker auf die Bühne, die Religions- und Gesellschaftskritik greifbar werden ließen. Feuerbachs Religionsbegriff als (kindlicher) „Traum des menschlichen Geistes“ und Marx‘ (klassenkämpferische) Formel vom „Opium des Volkes“ signalisieren die proletarische und antikapitalistische Hoffnung als Utopie vom „guten Leben“.
In dieses Horn stößt auch Friedrich Nietzsche, und zwar mit seiner von seinen Gegnern belachten wie von seinen Anhängern beklatschten Überzeugung: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit“. Die proletarische Hoffnung, dass (nur) in der radikalen Zerstörung des (unschönen) Vorhandenen und Gewordenen Neues entstehen könne, treibt Nietzsche mit seinen atheistischen (und fatalistischen?) Gedanken auf die Spitze: Die Moral in uns als Notlüge, die Religion als Heuchelei, die Gesellschaft als Zuchtmeister – Optimismus hat dabei keine Chance.
Die sich in den Werken von Gottlob Frege, von Autoren des Berliner und Wiener Kreises und insbesondere von Ludwig Wittgenstein als Kontra-, wie auch als Anschlusspunkte von Nietzsches Denken entstandenen Positionen, beruhen auf der Hervorhebung der Logik als normative Kraft. Der „Logische Positivismus“ fokussiert die Wahrnehmung des Geistes darauf, dass sich das Verständnis einer Bedeutung, also von Wirklichkeit, nur im konkreten Sprachgebrauch zeige; es gebe kein inneres Bild, aber auch keine Intuition, die die Anwendung leite.
„Die (verzweifelte? JS) Suche nach einer Begründung der Geistes- und Sozialwissenschaften“ wird im Neukantianismus, bei Wilhelm Dilthey und Edmund Husserl deutlich. Die von den Vorgängern der Epoche vorbereiteten Forderungen, die individuelle und gesellschaftliche Lebenswelt der Menschen zum Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlichen Denkens zu machen, führen zu einer „neuen Sachlichkeit“, die sich z. B. in Max Schelers Phänomenologie ausdrückt: „Nur durch den Akt des Einsatzes, nicht durch Vergegenständlichung könne der Mensch an dem Weltgrund teilhaben“.
Den Versuch, eine Antwort auf die problematische, anstrengende, herausfordernde wie auch kontroverse Frage zu beantworten – „Gibt es eine Mitschuld der Philosophie an der deutschen Katastrophe?“ – macht sich Hösle (auch) nicht leicht. Er geht dabei von drei Annahmen aus, die sich als historische und soziologische Bestandsaufnahme zur Begründung zeigen: Zum einen attestiert er, dass nur „eine recht kleine Minderheit… die nationalsozialistische Vernichtungspolitik überzeugt unterstützte“ (wobei er diese Feststellung nicht als Entschuldigung oder Relativierung des unsagbaren Unrechts verstanden wissen will); zum zweiten die politische und gesellschaftliche Überzeugung, „eine Regierung an die Macht zu bringen, der jede Brutalität zuzutrauen war, sofern man nur hoffen konnte, sie würde Deutschland wieder stark machen…“; und drittens „gab es eine große Zahl von Menschen, die Hitler nicht gewählt hatten, jedoch ihm nicht nur deshalb gehorchten, weil sie nichts riskieren wollten, sondern weil sie überzeugt waren, dass man der legalen Regierung Gehorsam schulde“. Für alle drei Argumentationslinien findet Hösle Verursacher, Interpreten und Auguren bei deutschen Philosophen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs, das immerhin auch die Gründung der Vereinten Nationen, die Proklamation der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und die Formulierung eines neuen Friedensbegriffs bewirkt hat, brachte die „bundesrepublikanische Anpassung an die westeuropäische Normalität“ zustande. Die politische und gesellschaftliche Festlegung der Bundesrepublik, als „Westbindung“ bezeichnet, brachte im philosophischen Denken die erste und zweite „Frankfurter Schule“ ans Werk, mit Max Horkheimer, Theodor Adorno, Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel, die „Philosophische Hermeneutik“ mit Hans-Georg Gadamer, mit Hans Jonas‘ „Prinzip der Verantwortung“ ans Licht, die mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen eine Hinwendung zum antiken und kantischen, philosophischen Denken entwickelten.
Die eher abenteuerlich wirkende und mit hellseherischem Anspruch daherkommende Frage, ob es auch in Zukunft (wie in der Vergangenheit und Gegenwart?) eine deutsche Philosophie geben würde, verneint der Autor eher; und zwar aus drei Gründen: Zum einen, so stellt er fest, gebe es zu wenig Köpfe, die den Meistern der Vergangenheit gleich kämen; daran sei der (scheinbare und wohl auch tatsächliche) Zwang zur Spezialisierung die Philosophen schuld. Zum zweiten gäbe es viel zu viele Intellektuelle (sic!), die sich zwecks Karriereplanung in unzähligen Netzwerken wieder finden. Und drittens sei es „die moderne Unfähigkeit, moralische und intellektuelle Überlegenheit als erhebend zu erfahren oder auch nur anzuerkennen“, die seine Skepsis nährt. Dabei seien es die medialen Übermächte und öffentlichen Allzeit-Bereit-Einstellungen, die philosophische Produkte, wenn überhaupt, nicht als außergewöhnlich, sondern eben als gewöhnlich einschätzen. Seine Diagnose der Schwächen des deutschen, universitären Wissenschaftssystems lautet deshalb eher resignierend: „Die Unterfinanzierung lässt sich nicht ohne Studiengebühren lösen, die mangelnde Leistungsgerechtigkeit nicht ohne Abschaffung des Beamtenstatus, und der fehlende Wettbewerb… nicht ohne Begrenzung der Wissenschaftsbürokratie“ (vgl. dazu auch: Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15143.php; sowie: Jens Sambale / Volker Eick / Heike Walkenhorst, Hrsg., Das Elend der Universitäten. Neoliberalisierung deutscher Hochschulpolitik, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6833.php; Yehuda Elkana / Hannes Klöpper, Die Universitäten im 21. Jahrhundert. Für eine neue Ethik von Lehre, Forschung und Gesellschaft, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/11785.php).
Fazit
Die lapidare wie gleichzeitig tiefschürfende philosophische Frage – „Wie sind wir geworden, was wir sind?“ – beantwortet Vittorio Hösle mit einem Rundgang durch die Geschichte der Philosophen (bedarf es dabei der Frage, weshalb dabei keine Philosophinnen betrachtet werden?), die so etwas wie den „deutschen Geist“ in ihren Werken gedacht, interpretiert und markiert haben. Dass in der sich immer interdependenter, entgrenzender (und gleichförmiger) entwickelnden (Einen?) Welt philosophisches Denken sowohl Anker wie auch Weckwerf- Artikel sein kann, macht die Aufgabe, philosophisch zu denken nicht einfacher – aber notwendiger denn je; denn es sind immer die Zeiten und Entwicklungssituationen, in denen scheinbare und gewohnte Gewissheiten in Frage gestellt werden, die bei den Menschen Verunsicherungen produzieren und Ausschau nach neuen Ufern gehalten wird; die also einen Perspektivenwechsel im individuellen und gesellschaftlichen Leben erforderlich machen. Das nämlich dürfte als die vornehmste und wichtigste Aufgabe der Philosophie angesehen werden – lokal, regional, national und global – dass der Mensch erkennt, ein intellektuell und evolutionär auf Wandel hin zu einem „guten Leben“ angelegtes Lebewesen zu sein (vgl. dazu als Pendant: E. O. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte der Menschen, C. H. Beck Verlag, München 2013, 384 S.). Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat 1995 in ihrem Abschlussbericht dramatisch und eindeutig formuliert: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“.
Vittorio Hösle richtet seinen Blick von Außen auf den „deutschen Geist“, wie er sich über die Jahrhunderte hinweg im philosophischen Diskurs in unserem Land entwickelt und im intellektuellen Denken geprägt hat. Dass er mit seiner historischen Fleißarbeit auf einen, wie der Autor findet, entscheidenden Aspekt verweist, dass nämlich „die hegemonialen deutschen Intellektuellen fast alle einer religiösen Konfession entstammen, die es in den bevölkerungsstärksten europäischen Staaten kaum gab, dem Luthertum“, wird sicherlich in der Wissenschaftsgemeinde Wider- und Einspruch bewirken, indem darauf zu verweisen wäre, dass die Auswahl der diskutierten Philosophen Schlüsse zulässt, die eine andere Schwerpunktsetzung differenzierter erscheinen lassen.
Es bleibt die Anerkennung, ein scheinbar unmögliches Vorhaben angegangen
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 09.08.2013 zu:
Vittorio Hösle: Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist. Verlag C.H. Beck
(München) 2013.
ISBN 978-3-406-64864-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15380.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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