Songül Bitiş, Nina Borst (Hrsg.): Un_mögliche Bildung
Rezensiert von Elke Michauk, 01.10.2013

Songül Bitiş, Nina Borst (Hrsg.): Un_mögliche Bildung. Kritische Stimmen und verschränkte Perspektiven auf Bildungsun_gleichheiten. Unrast Verlag (Münster) 2013. 160 Seiten. ISBN 978-3-89771-538-7. D: 19,80 EUR, A: 20,40 EUR, CH: 28,50 sFr.
Thema
Der Sammelband thematisiert Bildungsungleichheit als intersektorales Phänomen. Bildungsungleichheit wird nicht aus theoretischer Perspektive beleuchtet, sondern durch biographische Elemente mit Leben gefüllt. Zahlen in Statistiken über Bildungsungleichheit erhalten durch den Sammelband Namen und Gesichter. Die Autor_innen beschreiben in den biographischen Essays alltägliche Situationen von direkter, struktureller Diskriminierung und Benachteiligung im Bildungssystem. Thematisiert und reflektiert wird zudem die Bedeutung von sozialen Institutionen (Familie, Schule) und von Bezugspersonen (Lehrer_innen, peer group). Die Abstraktionsebene persönlicher Reflexion ist nicht einheitlich. Die Reflexion findet durch die Autor_innen in Abhängigkeit zur eigenen Auseinandersetzung in unterschiedlicher Tiefe, auf unterschiedlichen Ebenen statt.
Herausgeberinnen und Entstehungshintergrund
Songül Bitiş und Nina Borst, die beiden Herausgeberinnen der vorliegenden Publikation arbeiten bei der Rosa-Luxemburg Stiftung zum Themenfeld Bildungsungleichheiten. Sie engagieren sich als politische Bildnerinnen und Aktivistinnen für eine feministische, antirassistische und solidarische Gesellschaft.
In Studien kommen selten die „Menschen hinter den Zahlen“ persönlich zu Wort. Mit dem vorgelegten Sammelband wechseln die Herausgeberinnen die Perspektive. Sie geben den Betroffenen eine Stimme und tragen deren vielfältige Erfahrungen sowie Handlungsstrategien im Umgang mit Bildungsungleichheiten zusammen. Den Anspruch neue Erkenntnisse über Bildungsungleichheiten aufzudecken, erheben die Herausgeberinnen explizit nicht. Ihnen geht es vielmehr um das Aufzeigen von Verschränkungen. So werden vielfach separat verhandelter Dimensionen von Ungleichheit in Kategorien wie Gender, Alter, sozialer und kultureller Herkunft dargestellt. Der biographische Schreibstil ermöglicht eine realistische Darstellung von Interdependenzen.
Aufbau und Inhalt
Einleitend skizzieren die Herausgeberinnen den Hintergrund, d.h. den methodisch-didaktischen Aufbau des Sammelbandes. Den einzelnen Beiträgen gemein ist der biographische Ansatz. Mit der authentischen Darstellung gesellschaftlicher Machtverhältnisse geht es Bitişund Borst nicht darum, in Resignation zu verfallen sondern darum, Mut zu machen.
Der Sammelband besteht aus drei unabhängigen Kapiteln. Die Kapitel „Umkämpfte Worte“, „Gegenrede“ und „Kollektiver Widerstand“ haben den gleichen Aufbau. Jedes Kapitel wird mit zwei Kurzcomics eingeleitet. Diesen folgt eine subjektive Auf- und Ausarbeitung biographischer Erfahrungen unterschiedlicher Benachteiligungserfahrungen. Einen einheitlichen Schreibstil, wie in akademischen Publikationen üblich, gibt es nicht. Letzteres wurde von Songül Bitiş und Nina Borst bewusst nicht beabsichtigt. Alle Texte haben daher autobiographische Bezüge, sie stammen von Betroffen. Den Rahmen für die autobiographischen Betrachtungen bildet die übergreifende Fragestellung von der Zusammenführung individualisierter Erfahrungen mit Bildungsungleichheit und Ansatzpunkten kollektiven Widerstandes. Die Themen der drei Kapitel sind zugleich der Rote Faden des Sammelbandes: Sie führen interessierte Leser_innen jeweils vom individuellen Erleben von Bildungsungleichheit, über die reflektierende Beschreibung durch die Autor_innen zu einer selbst zu leistenden Übertragung auf eigene Erfahrungen.
In „Umkämpfte Worte“ reflektieren Rodja Uçar und Andreas Kemper den Einfluss von Sprache und Kommunikation in Schule sowie Familie als Wegweiser und Wegbereiter ihrer Bildungsbiographien. Der Blick für Sprache als (Re)Produktionsinstrument von Macht- und Herrschaftsverhältnissen wird von Gürcan Kökgiran, Toan Quoc Nguyen, Ceren Türkmen, Mano Krach und Patrick Henze um die Perspektive rassistischer und diskriminierender Alltagserfahrungen und institutionellen Rahmenbedingungen quer durch das Bildungssystem erweitert. Unterbrochen und zugleich wissenschaftlich untermauert werden die Beiträge durch die wissenschaftliche Aufarbeitung und Einordnung der biographischen Fragmente. Katrin Reimer und Stefania Maffeis führen – ebenfalls mit biographischen Bezügen – mit ihren Beiträgen in die Theorie sozialer Ungleichheit nach Pierre Bourdieu ein.
In „Gegenrede“, dem zweiten Kapitel, verhandeln die Autor_innen An- und Aufforderungen Dritter sowie institutionelle Normen als Behinderung der eigenen Interessen und Wünsche. Den Einstieg bilden erneut zwei Comics von und über Phillipp Mettke und Alissa. Daran anschließend entlarvt Janek Niggemann Zuschreibungen als Aberkennung von Potentialen und Möglichkeiten eigener aktiver Biographieschreibung. Shir, Tanja Berg, Danilo Ziemen, Caroline Fiedler und Diren dekonstruieren das Konglomerat von Interessen, Macht- und Herrschaftsverhältnissen über ihre eigenen Bildungsbiographien. Im Zentrum der Beiträge stehen dabei vor allem Gender als zentrale Kategorie sowie die Heteronormativität und die Homogenität des Bildungssystems.
Das letzte Kapitel des Sammelbandes steht unter der Überschrift „kollektiver Widerstand“. Comics von Petra Rosenberg und André Ebeling bilden den Einstieg. Gefolgt werden sie von sieben biographischen Beiträgen die nicht bei der Beschreibung individueller Benachteiligungserfahrungen stehen bleiben, sondern einen Schritt weitergehen. Es wird die Verdichtung individueller Erfahrungen zu Gruppenerfahrungen dargestellt. Gruppen aus denen heraus das Potential für Widerstand und Dekonstruktion, das in-Frage stellen von Normen und Werten resultieren kann. Den insgesamt neun Beiträgen folgt ein weiterer Beitrag, der die Herausforderungen und Potentiale der Einbindung von Comics in die vorliegende Publikation thematisiert. Der vorgelegte Sammelband endet wie sie begonnen hat, mit einem Kurzcomic. In diesem Fall über Nils.
Diskussion
„Un_mögliche Bildung“ reiht sich ein in eine lange Liste von Publikationen, die Bildungsungleichheit thematisierenden, ein. Allerdings, hebt sich der vorgelegte Sammelband durch seine Herangehensweise wiederum ab. Nicht die Wissenschaftlichkeit, die detaillierte Analyse der Beiträge steht im Vordergrund. Durch den biographischen Stil wird die Betroffenheit explizit gemacht. Es geht den Herausgeberinnen um die authentische Beschreibung und Reflexion der individuellen Bildungsverläufe durch die Betroffenen selbst.
Songül Bitiş und Nina Borst schaffen mit der vorgelegten Publikation eine erfrischend andere Perspektive auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse die sich insbesondere im Bildungssystem (re)produzieren. Durch die Verknüpfung von Comics mit biographischen Erfahrungen bekommen die zahlreichen internationalen und nationalen Statistiken buchstäblich ein Gesicht. Die autobiografischen und somit authentischen Beiträge geben einen Einblick in Lebensrealitäten, die täglichen Herausforderungen und individualisierten Kämpfe von den aus der Norm, dem Raster der deutschen Schulen und Hochschulen fallenden Bildungsteilnehmer_innen.
Bei aller Authentizität verzichten die Autor_innen nicht auf die wissenschaftliche Reflexion. Praktische Erfahrungen werden beschrieben, reflektiert und teilweise abstrahiert im wissenschaftlichen Diskurs verortet. Ergänzt werden die Reflexionen durch eingeschobene, nicht eindeutig als theoretisch gekennzeichnete, Beiträge. Diese Gradwanderung zwischen Praxis sowie Theorie und individuellem und kollektiven Gegenstrategien gelingt den Herausgeberinnen durch die Auswahl der Autor_innen. Alle Autor_innen haben selbst diskriminierende und ausgrenzende Erfahrungen im Bildungssystem gemacht. Sie sprechen nicht über, sondern explizit aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Stimme von Betroffenen.
Der intersektorale Ansatz fokussiert vor allem die Bildungsinstanzen Schule und Hochschule als Ungleichheit reproduzierende Institutionen. Einrichtungen der frühkindlichen Bildung sowie Weiterbildung sind nicht Gegenstand der Reflexion. Eine Forschungslücke die es gilt anderswo zu schließen.
Fazit
Mit seinem im wissenschaftlichen Kontext ungewöhnlichen Ansatz
,Betroffenen mehr als nur Raum für einige wenige Zitate in groß
angelegten Studien zu geben, ist „Un_mögliche Bildung“ ein
wichtiger Beitrag zur Literatur zum Thema Bildungsungleichheit. Die
Beiträge des Sammelbandes geben Einblick in „Straddling“, den
Spagat zwischen den sozialen Klassen
Rezension von
Elke Michauk
Elke Michauk
Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (Diplom), Sozialwissenschaftlerin (MA),
selbständig arbeitende zertifizierte Coachin (https://www.linkedin.com/in/elke-michauk/)
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