Asfa-Wossen Asserate: Deutsche Tugenden
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.08.2013

Asfa-Wossen Asserate: Deutsche Tugenden. Von Anmut bis Weltschmerz. Verlag C.H. Beck (München) 2012. 239 Seiten. ISBN 978-3-406-64504-4. 17,95 EUR.
Tugenden sind erstrebenswerte Charaktereigenschaften
Die Frage nach den Tugenden, die Menschen haben, zumindest anstreben sollten, wird im philosophischen Denken immer wieder gestellt. Der griechische Philosoph Platon weist vier Kardinaltugenden aus: Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit. Aristoteles unterscheidet dianoetische und ethische Tugenden, die sich jeweils entweder aus dem gemeinschaftlichen Dasein der Menschen ergeben, oder durch ein gutes Handeln bestimmt sind. Nach der Nikomachischen Ethik ist die ethische Tugend eine Haltung, „die von Entscheidung getragen ist und in einer Mitte für uns besteht, die durch die Vernunft bestimmt wird“ (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, Stuttgart 2005, S. 79). Der römische Kirchenlehrer Hieronymus sieht die Laster benachbart zu den Tugenden. In Sprichwörtern und Aphorismen werden die Tugenden gelobt und die Laster verurteilt, und es wird kritisiert und sich lustig gemacht über die oftmals vergeblichen Bemühungen, ein „tugendhafter Mensch“ zu sein, ahnend, dass sich das unvollkommene Lebewesen Mensch zwischen den gegensätzlichen Polen von Gut und Böse, Altruismus und Egoismus, Ordnung und Unordnung hin- und her bewegt.
Anzustrebende Tugenden als Haltungen und Charakteristika eines Individuums sind immer auch Rufe nach Ordnungen und Gewissheiten in der sich immer interdependenter, entgrenzender und unsicher werdenden (Einen?) Welt. Das Bedürfnis nach Klassifizierung, insbesondere in politischen, gesellschaftlichen und beruflichen Zusammenhängen wird lauter. Zu wissen, wer man selbst ist und der andere, ob in der Nähe oder in der globalen Ferne, fokussiert in deutlichem Maße die Frage nach dem Leben Hier und Heute. Es ist die Frage nach dem humanen Umgang der Menschen miteinander, empathisch und friedlich, oder abweisend und aggressiv. Ist der Mensch des Menschen Freund oder Feind? Ist er anthrôpos oder lupos? Ist es die Gewalt, oder die Liebe, die das Zusammenleben der Menschen bestimmt? Diese uralten Fragen sind aktueller denn je, in einer Zeit, in der sich Empathie und Humanität als Überlebensanker der Menschheit darstellen (Günter Gödde / Jörg Zirfas, Hrsg., Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12967.php). Ein weiterer Aspekt ist hier zu erwähnen, ohne den ein tugendhaftes Leben nicht denkbar ist: Die Komplexität des Vertrauens (Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 2011,www.socialnet.de/rezensionen/12878.php), ebenso wenn wir Herausforderungen betrachten, die sich für eine globale Ethik durch den Menschenrechtsdiskurs ergeben (Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12425.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Über deutsche Tugenden gibt es Vermutungen und Gewissheiten, Spekulationen und Illusionen, Ideen und Ideologien. Sie werden als Spiegelbilder veranschaulicht und als Zerrbilder dargestellt, sie entwickeln sich als Typen und Stereotypen. Die legitime und notwendige Frage: „Wer bin ich?“ wird nicht selten zum Irrlicht bei dem Unterfangen, Eigenschaften von Bevölkerungsgruppen und Völkern als Tugenden und Untugenden herauszufiltern. In der Geschichte der Menschheit hat es immer wieder Versuche gegeben, so genannte Charaktereigenschaften zu benennen, die ein Volk kennzeichnen: Der Deutsche ist …, der Italiener…, der Asiate…, der Afrikaner…, der Jude… In Befragungen und soziologischen Studien werden Vor- und Einstellungen von Menschen eines Landes oder einer Region zu denen in anderen Ländern und Kontinenten verglichen. Die dabei entstehenden Tabellen markieren Sympathie und Antipathie zu anderen Völkern. Sie stellen sich allzu oft als Vorurteile heraus, die in einer Mehrheitsgesellschaft und Kultur gemacht und tradiert werden (Anton Pelinka, Hrsg., Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12918.php). Eine Tugend fällt nicht vom Himmel. Sie wird zwar, soweit es sich um religiös motivierte Haltungen handelt, als Gebote gesetzt und kritisiert (Maxi Berger / Tobias Reichardt / Michael Städtler, Hrsg., „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13711.php), doch um sie im individuellen und gesellschaftlichen Leben zu entwickeln und wirksam werden zu lassen, bedarf es der Reflexion und des Gebrauchs des Verstandes.
So ist es durchaus sinnvoll, die Frage nach den „deutschen Tugenden“ zu stellen, wie sie in der eigenen Wahrnehmung und durch Menschen aus anderen Kulturen gesehen werden. Der promovierte Historiker, Unternehmensberater und Ethnologe Asfa-Wossen Asserate gilt als einer, dem es gelingt, seine Beobachtungen als Äthiopier zu verbinden mit denen eines seit mehr als vierzig Jahren in Deutschland Lebenden. Sein interkultureller Blick auf die deutschen Befindlichkeiten ist deshalb nicht nur ein oberflächlicher und vorübergehender, sondern ein gefestigter und intimer. Mit gutem Recht kann er sagen: „Ich gehöre zu euch, auch als deutscher Staatsangehöriger, und deshalb erlaubt mir, dass ich euch und uns beobachte, anschaue und frage: Was sind deutsche Tugenden?“.
Aufbau und Inhalt
In alphabetischer Reihenfolge stellt der Autor 22 Tugenden und Haltungen zur Diskussion, die von „Anmut“, über „Maßhalten“, „Ordnungsliebe“, „Sparsamkeit“ bis zu „Trinkfestigkeit“, „Weltschmerz“ und „Zivilcourage“ reichen. Darunter befinden sich Begriffe, die im landläufigen Sinn nicht von vorn herein als „deutsche Tugenden“ bezeichnet werden. Ihre Aufnahme in die Liste der „deutschen Tugenden“ überrascht, genau so wie die differenzierten Herleitungen und Korrekturen der vermeintlich typisch deutschen Tugenden, wie sie etwa in Volksliedern („Üb‘ immer Treu‘ und Redlichkeit…“), in Erzählungen, Gedichten und Theaterstücken kolportiert werden. Die „Anmut“, die Goethe bei seinen Aufenthalten und Begegnungen mit seinen Geliebten und Angebeteten erlebte und in seinem Werk beschreibt, bis hin zum Nationalen im „Lied der Deutschen“ und zur „Kinderhymne“ Bert Brechts – die Suche nach der Anmut gestaltet sich nicht als einfaches Unterfangen. Sie lässt sich weder erzwingen, noch liegt sie auf der Straße, ist selten(er) in den heutigen Fußgängerzonen, Freizeitparks und am Strand zu sehen: „Im besten Fall stellt sie sich ganz natürlich und von allein ein“. Auch die Frage nach der „Bescheidenheit“ wird zwiespältig diskutiert: Echte Bescheidenheit ist ebenfalls nicht leicht zu finden, während das Gegenteil von ihr, Geiz und Egoismus, scheinbar zu Überlebenstechniken verkommen sind (Harald Weinrich, Über das Haben, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14000.php; sowie: Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 1011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php).
„Der fleißige Deutsche“, dieses Märchen wird immer wieder erzählt, und die Faulheit als Sünde gebrandmarkt. Heinrich Böll hat in seiner „Entwicklungsgeschichte“ falschen Fleiß als unsinnige und nutzlose Getriebenheit und das Gebot, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, als Ideologie entlarvt. „Ein Prosit der Gemütlichkeit“, auch so ein Missverständnis, bei dem Übermut mit Lebensart verwechselt und die Lederhos?n als Gemütsart getragen wird. Wenn vier Deutsche zusammen kommen, gründen sie einen Verein – diese Vorstellung wird (man wird heute sagen müssen: wurde) verbunden mit der Tugend „Geselligkeit“. Einem Verein, einem Club anzugehören, sich regelmäßig am Stammtisch zu treffen, interpretiert der Autor als eine lobens- und nachahmenswerte Einstellung, denn „der Mensch muss unter die Leute“. Mit dem „Humor“ ist es so eine Sache. Die den Deutschen nachgesagte Humorlosigkeit ist zweifellos ein Ergebnis der Verwechslung von Witz und Humor und der Schwierigkeit, Ironie von Derbheit unterscheiden zu können (August Nitschke / Justin Stagl / Dieter R. Bauer, Hrsg., Überraschendes Lachen, gefordertes Weinen. Gefühle und Prozesse, Kulturen und Epochen im Vergleich, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8331.php).
Die „Naturverbundenheit“ der Deutschen macht sich überwiegend fest am Mythos „Wald“, dem Urgemüt deutschen Seelenausdrucks. „Wer hat dich du schöner Wald…“, bis hin zum Abbild der „deutschen Eiche“ als Symbol der Männlichkeit, Kraft und nationaler Ideologie. Nicht umsonst gewinnt der Naturschutz im deutschen Denken durch den Begriff der Nachhaltigkeit eine neue Qualität. Natürlich muss von der „deutschen Ordnungsliebe“ gesprochen werden; von „Ruhe und Ordnung“, von Obrigkeits- und Gehorsamsdenken, das soviel Unrecht in die Welt gebracht hat; aber eben auch Regeln entstanden sind, die ein geordnetes Leben in einer Gemeinschaft ermöglichen. Und von der „deutschen Pünktlichkeit“ schwärmt der Orientale Asfa-Wossen Asserate und bedauert, dass es heute nicht mehr sehr weit her ist mit dem Pünktlichsein, etwa bei Besuchen, Verabredungen und Terminen. Auch die „deutsche Reinlichkeit“ lässt zu wünschen übrig. Es genüg, durch eine deutsche Stadt zu gehen und danach durch eine italienische; die besagte „südländische Unsauberkeit“ kehrt sich um, weil es in Rom sauberer ist als in Berlin. Der Reinlichkeitsbegriff gar auf Herkunfts- und Rassenfragen ausgedehnt, führt bis heute zu Irritationen und Missverständnissen beim Menschenrecht der Gleichheit.
„Üb‘ immer Treu‘ und Redlichkeit“, diese Tugenden wurden in Deutschland vielfach missbraucht; etwa wenn die SS-Angehörigen auf den Koppelschlössern der Uniformen den Spruch mit sich trugen: „Meine Ehre heißt Treue“. Und im „business as usual“ zeigen sich im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben Egoismus und Ausbeuterei. Kann der Handschlag, als Geste des Vertrauens und Anerkennens, die Tugend retten? Die Deutschen sind Weltmeister im Reisen. Kommt da vielleicht der „Weltschmerz“ zum Tragen? Die Sehnsucht nach dem Anderen, dem Schönen, das man zu Hause nicht vorfindet? Oder ist es die berüchtigte „German Angst“, die die Deutschen umtreibt? Zum Schluss präsentiert Asfa-Wossen Asserate überraschend eine Tugend, die eigentlich den Deutschen am wenigsten zugeschrieben wird: „Zivilcourage“, als eine Haltung, die mit Mut und Tapferkeit zu tun hat, mit Ehrlichkeit und Uneigennützlichkeit. Die Vorbilder für Zivilcourage finden wir in der alten wie der neueren Geschichte der Deutschen; und es gilt, die Tugend weiter zu entwickeln (siehe dazu auch: Dieter Lünse / Jörg Kowalczyk / Florian Wanke / Katty Nöllenburg, Zivilcourage können alle! Ein Trainingshandbuch für Schule und Jugendarbeit, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12124.php).
Fazit
Tugenden wachsen nicht auf Bäumen; sie fallen nicht vom Himmel; und sie werden nicht in die Gene gelegt. Sie entwickeln sich in den Traditionen der jeweiligen Gesellschaft und Kultur, und sie verändern sich (vgl. dazu Hermann Mückler / Gerald Faschingeder, Hrsg., Tradition und Traditionalismus. Zur Instrumentalisierung eines Identitätskonzepts, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12770.php). Es ist deshalb problematisch, von deutschen, europäischen, asiatischen, christlichen, muslimischen… Tugenden zu sprechen, wenn nicht gleichzeitig der Anspruch aufgegeben wird, Verhaltensweisen und Einstellungen zu typisieren und sie als spezifisch für Ethnien und Gemeinschaften auszuweisen. Die Einsicht und Beobachtung, dass es bestimmte Eigenschaften bei Völkern gibt, die sich in der Intensität und Ausprägung als „typisch“ darstellen, darf nicht außer Acht lassen, dass, wie dies die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995) zum Ausdruck gebracht hat, „eine positive Einstellung zu anderen Menschen und zu ihren unterschiedlichen Lebensweisen, ihrer kreativen Vielfalt“ Tugenden schafft, die sich zwar partiell voneinander unterscheiden können, jedoch nicht ausschließlich einem Volk oder einer Ethnie zugeschrieben werden können.
Asfa-Wossen Asserate wählt mit seinen Essays einige Tugenden aus, die er in der kulturellen Entwicklung der Deutschen entfaltet und darauf verweist, wie wir (Deutsche) wurden, was wir sind. Damit schaut er den Deutschen, seinen Landsleuten, aufs Maul und analysiert bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen, die es wert sind, sich dieser bewusst zu machen – und zu verändern, hin zu der Lebenslehre, die für alle Menschen auf der Erde gilt, nämlich nach einem guten Leben zu streben und zu erreichen, dass die Menschheit sich gerechter, friedlicher und sozialer entwickeln kann.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1576 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 08.08.2013 zu:
Asfa-Wossen Asserate: Deutsche Tugenden. Von Anmut bis Weltschmerz. Verlag C.H. Beck
(München) 2012.
ISBN 978-3-406-64504-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15390.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.