Mark Galliker: Sprachpsychologie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.08.2013

Mark Galliker: Sprachpsychologie.
UTB
(Stuttgart) 2013.
310 Seiten.
ISBN 978-3-8252-4020-2.
D: 22,99 EUR,
A: 23,70 EUR,
CH: 31,90 sFr.
Reihe: UTB - 4020.
Der linguistische (psychologische) Turn ist noch nicht vollzogen
Sprache ist menschlich! Das Nachdenken über die Fähigkeit des Menschen, sprechen, sich mit Lauten und Gesten kraft seiner Vernunft ausdrücken und rhetorisch, also möglichst überzeugend verständlich machen zu können, ist ein philosophisches Thema, seit Menschen über sich, ihr Dasein, ihr Können und Wollen nachdenken. Aristoteles verbindet deshalb den Logos mit „Rede, Sprache und Vernunft“ und misst der Sprache des Menschen drei grundlegende Bedeutungen zu: Als semantischen Ausdruck, als gedankliche Entität und als Ausdruck für eine spezifisch menschliche Fähigkeit (Ch. Horn, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 329ff).
Entstehungshintergrund und Autor
Die Erforschung der menschlichen Fähigkeit, sprechen zu können, orientiert sich weitgehend an naturwissenschaftlich dotierten, kognitivistisch und/oder biologisch orientierten Denkweisen. In der Psychologie der Sprache geht es um drei Themenbereiche: Sprechen und Zuhören, Schreiben und Lesen, Kultur und Kommunikation. Die Bedeutung der Evolution der Sprache des Menschen für seine Sprachkompetenz ist bisher weitgehend nicht im Blick der Forschung und Theoriebildung, zumindest aus psychologischer Betrachtung. Der Schweizer Psychotherapeut und Psychologe an der Universität in Bern, Mark Galliker, gibt nun ein Lehrbuch heraus, in dem er die klassischen Fragestellungen der Sprachpsychologie verknüpft mit neurologischen und soziokulturellen Aspekten. Dabei geht er nicht den Weg eines „homo neurobiologicus“, dass also im Sinne von F. Hasler der Mensch nicht nur ein Gehirn habe, sondern sein Gehirn sei; vielmehr geht der Autor davon aus, dass „neuronale Aktivitäten nicht als Ursache des Sprachgebrauchs hypostasiert, sondern als durchgängiger körpereigener Vorgang eines Gesamtprozesses mitberücksichtigt (werden)“.
Aufbau und Inhalt
Das Lehrbuch wird in fünf Kapitel gegliedert, denen jeweils Fragenkomplexe zugeordnet werden:
- Wie entstand die humane Sprache aus den vorsprachlichen Ausdrucksformen im Tierreich? Was ist an der Sprachkompetenz der Menschen einzigartig?
- Wie entwickelt sich die Sprache beim Kind? Welche Rolle spielen dabei seine primären Bezugspersonen?
- Worin bestehen die wichtigsten Elemente der verbalen und nonverbalen Kommunikation? Wie versteht man deren Haupt- und Subbotschaften?
- Was sind die entscheidenden Kompetenzen, wenn es gilt, in einer bestimmten Situation zu reden, dem Kommunikationspartner zuzuhören und ihn zu verstehen?
- Worin bestehen beim Lesen und Schreiben die optimalen Lehr- und Lernvorgänge? Wie werden einprägsame und zum Denken anregende Texte sprachlich präsentiert?
Im ersten Kapitel „Evolution der Kommunikation“ werden phylo- und homogenetische Fragen diskutiert, mit Formen des Sozialverhaltens von Säugetieren verdeutlicht, lautgeschichtlich thematisiert und in die Prozesse von evolutionärer Selektion und Entwicklung als Denotate und Konnotate eingeordnet (vgl. dazu auch: Edward O. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte der Menschen, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15272.php).
Das zweite Kapitel entfaltet die vielfältigen Aspekte des Spracherwerbs. Bestätigt werden dabei die evolutionären, homogenetischen Erkenntnisse, dass der Erwerb der Sprache lange vor den ersten produktiven Wortäußerungen beginne (S. Weinert / H. U. Grimm). Es sind die sich zwischen Mutter und Säugling vollziehenden Beziehungen und Kontakte, die die Grundlagen des Sprechens setzen: „Kinder lernen die Sprache weder einfach nach dem behavioristischen Prinzip der operanten Konditionierung (im Original kursiv) noch nach den rationalistischen Vorstellungen unbewusster Regeln, die zu gegebener Zeit realisiert werden, sondern eher nach dem kulturhistorischen Ansatz der Sprache, der von der kommunikativen Funktion von Sprache in Interaktionen mit anderen Personen ausgeht…“.
Im dritten Kapitel „Zeichentheorie und Kommunikationsmodelle“ konfrontiert der Autor den herkömmlichen kognitivistischen Ansatz der Sprachpsychologie (aus Kognition geht Sprache hervor und wird zur Kommunikation) mit der pragmatischen Perspektive, bei der die Kommunikation im Vordergrund steht und als gesellschaftlich reproduziertes Zeichen zum kulturellen Produkt wird. Damit favorisiert Galliker die kulturhistorische Zeichentheorie nach A. A. Leontjew und diskutiert weitere Kommunikationsmodelle mit dem Ziel, „Verständigung… als dialogischen Dreischritt“ aufzuweisen und mit dem „kommunikativen Dreieck“ darzustellen.
Mit dem vierten Kapitel werden die Aspekte „Sprachproduktion und Sprachrezeption“ bearbeitet. Die in der klassischen Psycholinguistik benutzten Zeichen- und Kommunikationstheorien werden diskutiert und mit konnektionistischen Modellen und neuronalen Netzwerken verglichen. Dadurch werden lineare Vorstellungen der Sprechproduktion durch parallele Aspekte ergänzt. Sprachproduktion, -rezeption, Sprachmissverständnisse und -störungen „beginnen nicht voraussetzungslos, sondern mit der signifikativen und/oder signifikanten Umwelt der Sprecher respektive Hörer“.
Im fünften Kapitel geht es um „Textproduktion und Textverständnis“. Die formalen und kommunikativen Unterscheidungen von Sprech- und Schreibakten, wie auch bei Hör- und Lesevorgängen zeigen auf, dass Formen von Vorwissen, Automatisierungen und Wiederholungen bedeutsam für Lese-, Schreib- und Verstehensprozesse sind und mit entsprechenden Methoden und Therapien gefördert, verbessert und korrigiert werden können.
Ein umfangreiches Glossar und eine ausführliche Literaturliste ergänzen das Lehrbuch. Namens- und Sachregister erleichtern dessen Handhabung. Durch die zu den jeweiligen Themenstellungen eingefügten Beispiele und Übungssequenzen werden Lern- und Verstehensprozesse und die Benutzung des Buches erleichtert.
Fazit
Die im Lehrbuch „Sprachpsychologie“ überwiegend diskutierten und eingeführten kulturhistorischen, neurowissenschaftlichen und humanistischen Ansätze können dazu beitragen, dass sich in den sprachpsychologischen Bereichen eine Ergänzung – vielleicht sogar eine Wende – beim weitgehend naturwissenschaftlich geprägten Theorie- und Praxisdiskurs vollzieht. Das Buch liefert Studierenden und Wissenschaftlern der Psychologie, der Linguistik, der Neurologie, der Soziologie, der Kommunikations- und Kulturwissenschaften und nicht zuletzt der Pädagogik und Erziehungswissenschaft Informationen und Handlungsanregungen zu den theoretischen und praktischen Sprach- und Kommunikationsaspekten.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.08.2013 zu:
Mark Galliker: Sprachpsychologie. UTB
(Stuttgart) 2013.
ISBN 978-3-8252-4020-2.
Reihe: UTB - 4020.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15436.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
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