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Josef Kraus: Helikopter-Eltern

Rezensiert von Dr. Martin R. Textor, 01.10.2013

Cover Josef Kraus: Helikopter-Eltern ISBN 978-3-498-03409-2

Josef Kraus: Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Überbehütung. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2013. 221 Seiten. ISBN 978-3-498-03409-2. D: 18,95 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 27,50 sFr.
Reihe: Sachbuch BV - 03409.

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Thema

Im vorliegenden Buch geht es um die „richtige“ Familienerziehung. Josef Kraus bezeichnet als sein Anliegen, „den Eltern zu helfen, über ihr Oszillieren zwischen erzieherischer Allmachtsvision und Ohnmachtspanik, zwischen sinnvoller Kindorientierung und unreflektierter Kindversessenheit, zwischen Dressur und Verwöhnung, zwischen natürlicher Schutzhaltung und Überbehütung, zwischen liebevoller Zuwendung und Gängelung einmal nachzudenken und sie zu mehr Bodenständigkeit, Spontaneität und Intuition in der Erziehung zu verführen. Oder ganz konkret: Eltern die Angst vor dem Erziehen zu nehmen und erkennen zu helfen, dass das richtige Maß entscheidend ist“ (S. 10).

Autor

Der Oberstudiendirektor Josef Kraus, geboren 1949, leitet ein bayerisches Gymnasium. Er ist seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.

Entstehungshintergrund

Im Jahr 2012 veröffentlichte Josef Kraus einen Zeitungsartikel mit dem Titel „Maximale Verwöhnung, gigantischer Erfolgsdruck“. Kurz darauf wurde er zum Thema „Wir erziehen eine unmündige Generation“ interviewt und als Gast zu einer Talkrunde „Umsorgt vom Kreißsaal bis zum Hörsaal – kommt jetzt die Generation Weichei?“ eingeladen. Die darauf folgende große Resonanz bewog Kraus, das Buch zu verfassen.

Aufbau und Inhalt

Zunächst beschreibt Josef Kraus, was „Helikopter-Eltern“ sind: „Es sind Eltern, die ständig wie Beobachtungsdrohnen über den Kindern schweben, die ihren Nachwuchs ab der ersten Stunde an der elektronischen Nabelschnur des Mobiltelefons durchs Leben geleiten und beim kleinsten seelischen oder körperlichen Wehwehchen herbeistürmen, um alles wieder ins Reine zu bringen“ (S. 11). Auf der einen Seite werden Kinder in der „Gluckenfalle“ verwöhnt und überbehütet, auf der anderen Seite von ihren Eltern zum intensiven Lernen motiviert und stark gefördert. Um ihre zukünftigen Chancen zu verbessern, wird den Kindern das letzte „Quäntchen Freiraum zur Entwicklung“ genommen (S. 12), darf „die Gegenwart nicht mehr gelebt werden“ (S. 13).

Laut Josef Kraus könnte der Rechtsstaat mitsamt der sozialen Marktwirtschaft wegen der „Helikopter-Pädagogik“ in die Dekadenz, den Untergang steuern: „Lebten in ihm eines Tages nur noch gedrillte, verwöhnte, verschonte und überbehütete Menschen, würde dieses demokratische Gemeinwesen nicht mehr funktionieren, weil dann die tragfähige Basis fehlte“ (S. 13).

Neben den „Helikopter-Eltern“ sorgt sich Kraus noch um die „Null-Bock-Eltern“. Beide Gruppen würden zwischen 10 und 15% aller Eltern umfassen, aber 70 bis 80% der Zeit und Energie von Lehrern, Erzieherinnen und Sozialpädagogen binden. Obwohl die weitaus meisten Eltern „bodenständige Vorstellungen von Erziehung und Bildung haben“ sowie „engagiert und sinnvoll“ erziehen (S. 15), würde das Phänomen der „Helikopter-Eltern“ immer bedeutsamer werden.

Förderwahn

Im weiteren Verlauf des Buches beschreibt Kraus an vielen Beispielen, wie sich „Helikopter-Eltern“ gegenüber der Schule verhalten und wie sie Elternabende und Elternvertretungen zu dominieren versuchen. Sie möchten ein möglichst „perfektes“ Kind (das sowieso hochbegabt sei) „produzieren“, fangen damit schon im Babyalter an („Babytuning“, „Baby Einstein“), suchen dann nach einer passenden Kindertageseinrichtung (mit Sprachkursen, Science-Lab, Geigenunterricht usw.), buchen zusätzlich musikalische Frühförderung (wegen des „Mozart-Effekts“), kaufen für ihr Schulkind Lernsoftware und pauken mit ihm nach der Schule (nach dem Vorbild der chinesischen „Tigermütter“). Dabei orientieren sie sich an „Erkenntnissen“ der Hirnforschung (z.B. über Zeitfenster, die Nutzung von gerade einmal 10% der Hirnkapazität oder die völlig unterschiedlichen Leistungen der beiden Hirnhälften), die schon längst als Mythen entlarvt wurden, aber auch an Erziehungsratgebern und Fernsehsendungen wie der „Super Nanny“ sowie an den Inhalten der von ihnen besuchten Elternkurse.

Kontrolle

Josef Kraus befasst sich ferner mit der zunehmenden Überwachung von Kindern durch ihre Eltern, die z.B. zu einem immer kleiner werdenden Mobilitätsradius und zu weniger Bewegung führt. Immer mehr Eltern lassen ihre Kinder noch nicht einmal den Schulweg alleine zurücklegen. Selbst frisch immatrikulierte Studenten werden anfangs noch von ihren Eltern begleitet. Selbst wenn die Kinder bereits erwachsen geworden sind, werden sie weiterhin „geklammert“ und bleiben im „Hotel Mama“.

Verwöhnung

Die materielle Verwöhnung zeigt sich laut Kraus in den hohen Ausgaben vieler Eltern für ihre Kinder (z.B. für exklusive Kleidung) und in Taschengeldbeträgen, die alleine bei den 6- bis 13-Jährigen drei Milliarden Euro im Jahr ergeben. Hinzu kommt die emotionale Verwöhnung – ein Übermaß an Zuwendung, Zärtlichkeit, Sorge usw. Selbst die Schulen „verwöhnen mit guten Noten, niedrigen Quoten an Sitzenbleibern, gar mit der Abschaffung von Sitzenbleiben und Noten“ (S. 99) – wobei die Hochschulen „eine solche Kuschelpolitik mit ihrer Inflation guter und sehr guter Noten“ fortsetzen (S. 100). Viele Kinder müssen zu Hause keine Pflichten übernehmen und wachsen in einem Schonraum auf.

Familie heute und morgen

Dann wirft Kraus einen Blick zurück in die Geschichte der Kindheit bzw. des Generationenverhältnisses, der bis in die babylonische Zeit reicht. Dabei setzt er sich auch mit der These auseinander, dass Kindheit eine Erfindung der letzten zwei Jahrhunderte sei. Dann befasst er sich mit verschiedenen Typen von Jugend, die seit den 1950er Jahren aufeinander folgten. Genauer beschreibt er aber nur die „Millennials“ und die „Generation Ich“, die aufgrund ihrer Charakteristika viele Aspiranten für neue Generationen von „Helikopter-Eltern“ stellen würden. Desweiteren geht Kraus auf die Verlängerung der Jugendzeit bei gleichzeitigem Verschwinden der Kindheit, die späte Elternschaft und den insbesondere von Müttern erlebten Stress ein.

Psychologische Grundlagen

Josef Kraus führt die „Helikopter-Pädagogik“ vor allem auf die „behavioristische Hybris des Plan- und Machbarkeitswahns“ zurück (S. 133). Hinzu kommt die „Pädochondrie“ – die Angst von Eltern, „nicht genug für das Kind zu tun, ein Kind seelisch zu verletzen oder als Rabeneltern dazustehen“ (S. 138). Hier wirken Tiefenpsychologie und „Determinismustheorie“ nach. Kinder sind aber laut der Resilienzforschung viel widerstandsfähiger als Eltern glauben. Dann geht Kraus auf den elterlichen und den kindlichen Narzissmus, die Egalisierung von Eltern und Kindern und den elterlichen Infantilismus ein (Eltern als „Geschwister“ des Kindes), bevor er die Folgen der „Helikopter-Pädagogik“ für Kinder und Jugendliche aufzeigt: Unzufriedenheit und „miese Laune“, mangelnde Eigeninitiative, fehlende Mündigkeit, kein Unternehmergeist, Egoismus, Überheblichkeit, Geltungssucht, Unselbständigkeit, Hedonismus, dissoziale Haltungen, Suchtgefährdung usw.

Richtige Erziehung

Schließlich spricht sich Kraus für eine Kindererziehung zwischen den Polen „Führen“ und „Wachsenlassen“ sowie für „Mut zu Autorität und Vorbild“ aus (S. 166). Die Eltern sollten ihren Kindern Leistungsorientierung und Anstrengungsbereitschaft abverlangen, sie auf eher „klassische Weise“ intellektuell (durch Erzählen, Vorlesen, Lesen) und körperlich (durch viel Bewegung im Freien) fördern, sich viel Zeit für sie nehmen – und ihnen viel Zeit für das Spielen zubilligen. Auch Entschleunigung und Muße seien wichtig.

Von der Schule erwartet Kraus, dass sie wieder mehr die Verschiedenheit der Kinder und das Leistungsprinzip berücksichtige. Dabei setzt er sich kritisch mit der These von der Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems bzw. von der Benachteiligung von Kindern aus sozial schwachen Familien auseinander. Dann betont er, dass es außerordentlich selten sei, dass junge Menschen aus der Mittelschicht „abstürzen“ würden; vielmehr gäbe es mehr Bildungsaufsteiger als -absteiger. Schließlich fordert Kraus, dass in der Schule wieder mehr Wert auf Lerninhalte als auf irgendwelche „Bindestrich-Kompetenzen“ gelegt werden solle sowie dass Lehrer und Eltern „Mut zur Erziehung“ haben und partnerschaftlich zusammenarbeiten sollten.

Fazit

Josef Kraus geht in seinem Werk weit über das Thema „Helikopter-Eltern“ hinaus: Er beschreibt Trends in Familie, Schule und Gesellschaft, kritisiert negative Entwicklungen und macht viele Vorschläge in Richtung einer besseren Kindererziehung und Schulpädagogik. Das spannende und gut lesbare Buch ist ein „messerscharfes Plädoyer gegen den Förderwahn, gegen Überbehütung und Verwöhnung – und gleichzeitig der Appell, an Erziehung nicht planwirtschaftlich heranzugehen, sondern mit Intuition, Leichtigkeit und Humor“. Diesem Klappentext ist nichts mehr hinzuzufügen!

Rezension von
Dr. Martin R. Textor
Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF)
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Es gibt 72 Rezensionen von Martin R. Textor.

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ISSN 2190-9245