Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther: Wie Kinder heute wachsen
Rezensiert von Dr. Martin R. Textor, 18.09.2013

Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2013. 256 Seiten. ISBN 978-3-407-85953-2. D: 17,95 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 25,40 sFr.
Thema
In dem Buch geht es um die Bedeutung der Natur für die kindliche Entwicklung – oder besser: um die Wiedergewinnung von Naturerfahrungen als Grundbedingung für ein gesundes Aufwachsen: „Natur ist für Kinder so essenziell wie gute Ernährung. Sie ist ihr angestammter Entwicklungsraum. Hier stoßen die Kinder auf vier für ihre Entwicklung unverhandelbare Quellen: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit, Bezogenheit. Aus diesen Erfahrungen bauen sie das Fundament, das ihr Leben trägt“ (S. 9).
Autoren
Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Beide Autoren haben bereits mehrere Bestseller geschrieben und dürften den meisten Lesern dieser Rezension wohlbekannt sein.
Entstehungshintergrund
Der Haupttext des Buches wurde von Herbert Renz-Polster geschrieben. Nach jedem Kapitel folgt ein auf farbigem Papier gedruckter Text von Gerald Hüther, in dem „der Leser weiter in die Tiefe – auch unseres Gehirns – blicken kann“ (S. 9). Das Buch umfasst acht Hauptkapitel und damit auch acht Texte von Hüther. Es wurde mit vielen schönen Farbfotos ausgestattet.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel mit dem Titel „Entwicklung, von oben betrachtet“ geht es um die Bedeutung des Vorbilds für die kindliche Entwicklung – und um die Freiheit des Kindes, es zu imitieren oder es zu ignorieren. Kinder werden laut Renz-Polster nicht geprägt und gesteuert, sondern seien ab der Geburt aktive, die materielle und die soziale Welt erforschende, andere Kinder zum gemeinsamen Lernen anstachelnde Wesen. Fundamentale Lebenskompetenzen (z.B. Kreativität, exekutive Kontrolle, soziale Kompetenz, innere Stärke) könnten Kindern nicht gelehrt werden, sondern müssten im Zusammenleben mit anderen Menschen, insbesondere mit Kindern unterschiedlichen Alters, aus eigener Erfahrung heraus gelernt werden.
Die große Bedeutung von Beziehungen wird dann in dem Text „Verbundenheit“ von Gerald Hüther aufgegriffen: „Kinder brauchen feste Wurzeln“ (S. 27), die sie nur in sicheren Bindungen fänden. Allerdings sei das soziale Beziehungsgefüge in den letzten Jahren brüchiger geworden, erfahren Kinder nur noch wenig Verständnis für ihre elementaren Bedürfnisse. So würden sie den Mangel an emotionaler Sicherheit durch verstärkte Selbstbezogenheit kompensieren. Das Gefühl von Verbundenheit und Geborgenheit sei aber für eine positive (früh-) kindliche Entwicklung unverzichtbar.
Der Schatz dort draußen
Gleich zu Beginn des zweiten Kapitels betont Renz-Polster: „Natur stellt für Kinder einen maßgeschneiderten Entwicklungsraum dar. Eine Erfahrungswelt, die genau auf die Bedürfnisse von Weltentdeckern zugeschnitten ist. … In der Natur können sie wirksam sein. Hier können sie sich auf Augenhöhe selbst organisieren. Hier können sie an ihrem Fundament bauen“ (S. 35). Da Menschen während 99% ihrer Geschichte in der Natur lebten, sei diese evolutionshistorisch gesehen der eigentliche Entwicklungsraum. Und so sei es nicht verwunderlich, dass auch heute noch Kinder gerne draußen spielen. In der Natur könnten sie nämlich auf vier Quellen kindlicher Entwicklung zurückgreifen:
- Unmittelbarkeit: Kinder können draußen konkrete Erfahrungen machen, insbesondere mit den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Sie schulen ihre Sinne, erleben sich als gestaltend, fühlen ihre Selbstwirksamkeit.
- Freiheit: Kinder können in der Natur auf Streifzug gehen, entdeckend tätig werden, sich körperlich bewähren, kreativ sein und sich mit ihren Spielkameraden selbst organisieren.
- Widerständigkeit: Natur richtet sich nicht nach den Wünschen der Kinder. Sie ermöglicht Abenteuer, bei denen Kinder ihre Grenzen erkennen, aber auch mutig werden, Selbstkontrolle entwickeln und den Umgang mit Ängsten lernen.
- Verbundenheit: In der Natur erleben Kinder nicht nur Beziehungen zu Gleichaltrigen, sondern auch zu Bäumen, Pflanzen, Tieren, Steinen usw. Das Erfahren von „Mutter Natur“ vermittelt Urvertrauen und Heimatgefühle.
Laut Renz-Polster haben Kinder ein „Naturbedürfnis“, das heute von Pädagogik und Psychologie zu wenig beachtet würde. Er fragt: „Ob nicht seelische Störungen auch durch zerbrochene oder belastete Beziehungen zur natürlichen Umwelt entstehen? Ob nicht die äußere Natur und unsere innere Natur irgendwie zusammenhängen?“ (S. 59). Aber Renz-Polster sieht auch das „große Drinnen“: In der Wohnung können Kinder ebenfalls viele entwicklungsfördernde Erfahrungen machen – beim Lesen, Lego-Spielen, sich Verkleiden, Kochen, Musik Hören und Musizieren, sogar beim Fernsehen und bei der Nutzung des Internets. Auch sei das „große Draußen“ nicht nur die naturbelassene Fläche, sondern auch der Hinterhof, die Baugrube, der Garten, der unaufgeräumte Dachboden…
Gerald Hüther ergänzt in seinem Text mit dem Titel „Hingabe“, wie wichtig für Kinder und Erwachsene Erfahrungen des „Flow“ bzw. der Kohärenz seien – also von Situationen, in denen sie in ihren Beschäftigungen aufgehen, die Welt um sie herum vergessen, ein Gefühl von Befreiung und Glück erleben. Er fordert, dass Eltern und Erzieher ihren Kindern helfen, „zu aktiven Gestaltern ihres Lebens statt zu reaktiven Konsumenten bereitstehender Angebote zu werden“ (S. 73); nur dann könnten sie noch die erwähnten Erfahrungen machen und die damit verbundenen Glücksgefühle erleben.
Natur und Gesundheit
Im dritten Kapitel zeigt Renz-Polster auf, dass Menschen, die als Kinder viel draußen gespielt haben und oft mit Tieren zusammengekommen sind, ein besseres Immunsystem haben – dieses hat durch die vielen Naturerfahrungen gelernt, welche Stoffe (Krankheitserreger, Keime, Allergene usw.) wirklich gefährlich sind. In der Natur können Kinder auch ihren Bewegungsdrang ausleben und ihre Sehkraft schulen. Sie kommen müde nach Hause und schlafen dann tiefer. Mehr Zeit in der Natur könnte in vielen Fällen die Entstehung von ADHS verhindern oder als Teil der ADHS-Therapie heilend wirken.
Im Text „Langsamkeit“ befasst sich Gerald Hüther mit Zeitnot und Stress. Babys und Kleinkinder seien von ihrem Entwicklungstempo her im Vergleich zu Affen langsamer geworden. So brauchen gerade sie viel Zeit für die Entdeckung der Welt und die Ausbildung von Kompetenzen. Komplexe Erfahrungsräume, in denen sie in ihrem eigenen Tempo lernen können, biete vor allem die Natur.
Warum schlagen wir das Angebot aus?
Im vierten Kapitel fragt Renz-Polster, wieso sich Kinder so selten draußen aufhalten. Das läge vor allem an den Erwachsenen, die ein Programm für Kinder hätten: Diese sollen lernen und auf später – „auf den großen Wettkampf“ – vorbereitet werden. So lasse sich eine „immer schneller voranschreitende Domestizierung der Kinder“ (S. 100) beobachten, wird Kindheit verkürzt, werden schon unter Dreijährige der „frühkindlichen Bildung“ bei gleichzeitigem Verlust an „Betreuung von Mensch zu Mensch“ ausgesetzt. Dieser negativen Entwicklung könne nur begegnet werden, wenn in Familien, Kindertagesstätten und Schulen der Lernstoff neu gefasst würde.
Dann beschäftigt sich Gerald Hüther mit dem Mitgefühl. Er beklagt, wie gefühllos Erwachsene die Welt, in der sie leben, ausbeuten und zerstören – ohne Rücksicht auf kommende Generationen: „Wir haben unsere Fähigkeit verloren, nicht nur mit anderen Lebewesen, sondern auch mit unseren Artgenossen, sogar mit den Kindern, die in unsere Welt hineinwachsen, mitzufühlen. … Wenn wir wirklich Mitgefühl empfänden, wären wir auch bereit, uns selbst und unseren Lebensstil zu ändern“ (S. 109). Kinder würden hingegen noch oft mitfühlen – auch mit Tieren, Insekten und Pflanzen…
Das große Drinnen. Von Computern und Kinderspielen
Kinder bleiben aber nicht nur auf Druck der Erwachsenen, sondern auch aus freien Stücken drinnen, weil dort die (Medien-) Welt immer spannender und attraktiver geworden ist: In Büchern, im Internet, bei Computer-, Konsolen- und Online-Spielen erleben Kinder spannende Geschichten, erhalten interessante Anregungen und erlernen den Umgang mit hoch entwickelten technischen Geräten – im Gegensatz zu ihren Eltern werden sie „digitale Eingeborene“. So beschreibt Renz-Polster nicht nur negative Seiten der Medienwelt und des Internets, sondern auch positive. In diesem Kontext geht er auf die Sprachentwicklung ein, die nicht durch Lernprogramme und Apps, sondern nur in der Interaktion gefördert werden könne. Ferner skizziert er, wie wichtig das gemeinsame Spiel sei: Hier lernen Kinder, die Absichten und Emotionen der Spielpartner zu verstehen, mit eigenen Impulsen und Gefühlen umzugehen und innere Stärke aufzubauen. Ihre Innenwelt wird reicher, Ängste werden reduziert, soziale Kompetenzen aufgebaut.
Dann geht Renz-Polster kritisch auf die Nutzung elektronischer Medien in Kindertageseinrichtungen ein. Während in Kitas „elektronische Lerncenter“ eingerichtet würden, „schleppen sich die Schüler selbst an den weiterbildenden Schulen noch immer mit tonnenschweren Rucksäcken mit Dutzenden von (nicht selten veralteten) Schulbüchern ab, die alle längst auf einen einzigen Reader passen würden und dort per Touch von Auflage zu Auflage aktualisiert werden könnten. … Und der Computerbestand ist oft ein Fall fürs Museum. Mediennutzung oder Informatik als qualifiziertes Unterrichtsfach? Wenn sich ein engagierter und kundiger Lehrer findet, vielleicht als AG“ (S. 157). So kritisiert Renz-Polster, dass Computer gerade dort nicht verwendet werden, wo ihr Nutzen sehr groß wäre…
Im Text „Geduld“ betont Hüther die Bedeutung der Impulskontrolle bzw. Selbstdisziplin. Kinder, die immer nur gelenkt und diszipliniert werden, würden diese Metakompetenz nicht entwickeln. Aber draußen in der lebendigen Natur werde sie leicht ausgebildet.
Ist die Natur denn gefährlich?
Im sechsten Kapitel geht es um den immer kleiner werdenden Aktionsradius von Kindern. Aus Angst vor Gefahren dürfen sie Wege nicht mehr alleine zurücklegen, sondern werden transportiert. In den Augen vieler Eltern ist auch das unbeaufsichtigte Spielen außerhalb des eigenen Hauses zu gefährlich – sie haben Angst vor Zecken, Unfällen und Verletzungen. Dabei ignorieren Eltern, dass Kinder, die viel draußen „herumturnen“, nicht nur körperlich geschickter sind als überbehütete Altersgenossen, sondern Gefahren auch besser einschätzen können und mehr Selbstbewusstsein entwickeln. Auch neigen sie weniger zu Vitamin-D-Mangel und Übergewicht.
Es folgt ein Text mit der Überschrift „Vertrauen“, in der sich Hüther mit Ängsten und deren Bewältigung beschäftigt. Kinder würden die Erfahrung brauchen, dass ihnen dann jemand hilft, wenn sie alleine mit einer Situation nicht zurechtkommen. Sie benötigen Urvertrauen in ihr „Gehaltensein und Beschütztwerden“ (S. 192).
Wege in die Natur
In einem kurzen Rückblick befasst sich Renz-Polster mit „geheimen Lehrplänen“ der letzten 100 Jahre und der Gegenwart. So gehe es heute vor allem um Wissensvermittlung, damit Kinder für die Globalisierung und die Wissensgesellschaft fit werden. Dementsprechend werden schon Kleinkinder nach Bildungsplänen gebildet. Dem Spielen komme hingegen nur noch eine geringe Bedeutung zu. Nun ständen kognitive Kompetenzen im Vordergrund – wie gefordert von der Wirtschaft und ihren Verbänden. Aber stimmen deren Ziele mit den Interessen der Gesellschaft und den Bedürfnissen von Kindern überein?
Die mit dieser Entwicklung verbundene Verschulung von Kindertageseinrichtungen hat laut Renz-Polster aber zu keinen besseren Leistungen geführt. Und auch die Chancen von Kindern aus sozial schwachen Familien hätten sich nicht verbessert. So sollten sich Kitas wieder auf die Bedeutung des selbst organisierten Spiels unter Kindern, der frei gestalteten Erforschung der Umwelt, des Sammelns von Naturerfahrungen und eines reichen Beziehungsangebots besinnen. Aber auch Schulen müssten neu gedacht werden: mit praktischen Unterrichtsinhalten, Schülerprojekten, Schullandheimen, Kooperationen mit (landwirtschaftlichen) Betrieben und für die kindliche Selbstorganisation offenen Angeboten. Schließlich müssten Eltern ihren Kinder den Weg zurück in die Natur unter der Prämisse „Freiheit“ bahnen: „Die Natur öffnet sich dem Kind, wenn es dort Kind sein kann. Und womöglich nicht, wenn es dort Schüler sein muss, Forscher oder Anwalt der Zukunft“ (S. 222).
Unter dem Titel „Achtsamkeit“ betont Hüther, dass nur vielfältige Erfahrungen zu komplexen neuralen Vernetzungen führen. Dafür sei Achtsamkeit nötig, „dass man offen für alles ist, was um einen herum passiert, dass man nichts Bestimmtes im Sinn hat und deshalb alle Sinne gleichzeitig auf Empfang gestellt sind“ (S. 225). Dann erlebe man die Welt als reicher und spannender. Achtsamkeit lasse sich heute aber nur noch in der Natur ausleben.
Naturerfahrungen in einer bedrohten Welt
Im achten und letzten Kapitel fasst Renz-Polster die wichtigsten Aussagen des Buches zusammen – verbunden mit viel begründeter Gesellschaftskritik. Dann schreibt Hüther über die „Beharrlichkeit“, d.h. die Fähigkeit, einen einmal eingeschlagenen Weg zu verfolgen und ein einmal erkanntes Problem trotz aller Widerstände zu lösen. Vor allem in der Natur fänden Kinder noch Situationen vor, in denen sie Beharrlichkeit entwickeln können – nicht aber im Kinderzimmer, in der Medienwelt oder in der Schule.
Fazit
Das in einem lockeren Stil verfasste populärwissenschaftliche Buch ist eine spannende und gut lesbare Lektüre. Es fußt auf einer ausgeprägten Anthropologie des Kindes sowie auf entwicklungspsychologischen, medizinischen und neurobiologischen Grundlagen. Aktuelle Entwicklungen in Familie, Kita, Schule, Wirtschaft und Gesellschaft werden kritisch hinterfragt. Es wird die Rückkehr zu einer „natürlicheren“ Erziehung und Bildung von (Klein-) Kindern gefordert, wobei Naturerfahrungen eine besondere Rolle spielen würden.
Rezension von
Dr. Martin R. Textor
Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF)
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