Wolfgang C. Müller: Wie Helfen zum Beruf wurde
Rezensiert von Dr. Winfried Leisgang, 17.02.2014

Wolfgang C. Müller: Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der sozialen Arbeit.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
6. Auflage.
336 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2097-7.
D: 24,95 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 33,90 sFr.
Reihe: Edition Sozial.
Autor
Dr. Dr. C. Wolfgang Müller lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor an der Technischen Hochschule und Pädagogischen Hochschule Erziehungswissenschaften in Berlin.
Entstehungshintergrund
Die Neuauflage vereint die ursprünglich auf zwei Bände verteilte Methodengeschichte in einem Band. Dabei wurde der erste Band überarbeitet, damit er die Funktion als Lehrbuch ausfüllen kann.
Aufbau
Das Buch enthält dreizehn Kapitel zur Methodengeschichte der Sozialen Arbeit
Inhalt
Das erste Kapitel befasst sich mit der Wohlfahrt und der Armenpflege im Mittelalter.
Die Kapitel zwei bis fünf vertiefen die Einzelhilfe aus dem Mittelalter und die neueren Ansätze Anfang des 20. Jahrhundert. Dabei rezipiert der Autor das Leben und die Werke von Mary Richmond (Einzelhilfe) und Jane Adams (Gemeinwesenarbeit), die beide ihre Methoden in den USA entwickelt haben.
Die Übernahme und Anpassung dieser methodischen Konzepte in Deutschland wird am Leben von Alice Salamon im Kapitel 4 dargestellt. Der Name von Alice Salamon steht heute für die Entwicklung von Standards, die die bis dahin überwiegend ehrenamtlich geleistete soziale Arbeit in eine berufliche Ausbildung überführte
Das fünfte Kapitel befasst sich anschließend mit der Gruppenpädagogik und der Förderung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Maßgeblich beteiligt war die Arbeiterjugend, die in dieser Zeit für ihre volle politische Handlungsfähigkeit kämpfte.
Im sechsten Kapitel ist die Weimarer Republik Thema. In dieser Zeit werden das Reichswohlfahrtsgesetz und die Familienfürsorge eingeführt. Siddy Wronsky entwickelte die fürsorgerische Methodenlehre weiter.
Das siebte Kapitel ist mit „Das Dritte Reich und der Rückfall in die Barbarei“ überschrieben und schildert, wie die Fürsorge der nationalsozialistischen Rassenhygiene die Arbeit der Fürsorgerinnen im Gesundheitsamt beeinflusst. Als Erkenntnis dieser Zeit für den Berufsstand lässt sich der Autor zitieren: „… wir müssen uns der Erkenntnis stellen, dass unsere Berufsausbildung … uns nicht hinreichend widerständig gegen die Zumutungen gemacht hat, Beihilfe zur Vernichtung menschlichen Lebens zu leisten, sofern der Staat diese Vernichtung menschlichen Lebens durch Gesetze und Verordnungen, zur beruflichen Pflicht gemacht hat. Vielleicht gibt es überhaupt keine Möglichkeit, die Barbarei in uns zu zähmen, wenn wir erst einmal die um uns zugelassen haben.“ (S. 116)
Die Nachkriegsära ist geprägt vom Einfluss der Alliierten auf die Erziehungseinrichtungen in Deutschland. Die Neuorientierung der Gruppenpädagogik z.B. im Haus Schwalbach ist beeinflusst von Professorinnen aus den USA, u.a. Gisela Konopka.
Kapitel 9 setzt sich mit der Einzelfallhilfe in Deutschland auseinander. Die Entwicklung dieser Methode war ebenfalls beeinflusst von einer amerikanischen Professorin, Hertha Kraus. Sie förderte die Methodenlehre durch ihre Besuche in Deutschland. Müller kritisiert im geschichtlichen Rückblick allerdings, dass die „deutsche Rezeption von social casework als vertiefte Einzelhilfe“ darunter litt, „dass sie nicht die infrastrukturellen Rahmenbedingungen nicht mit rezipierte“. (S.184)
Thema im zehnten Kapitel ist die Gemeinwesenarbeit, die ebenfalls von Hertha Kraus mit beeinflusst wurde. Es wird die Entwicklung des Community organizing in Amerika dargestellt, deren Ergebnisse in Deutschland in die Gemeinwesenarbeit einfließen. Vor allem mit dem Namen Saul Alinsky sind in den Vereinigten Staaten wirkungsvolle und machtvolle Aktionen im Gemeinwesen verbunden.
Im nächsten Kapitel rahmt die Studentenbewegung der sechziger Jahre die gesellschaftliche Entwicklung und die der Methodengeschichte der Sozialen Arbeit. Die Auseinandersetzung mit sozialistischen Gesellschaftstheorien und die Kritik an der Einzelhilfe prägt diese Zeit. Auch in der Ausbildung ändern sich die Lernformen, indem Projektarbeit als Gruppenarbeit tradierte Vorlesungsformen ergänzt.
Die therapeutische Bewegung der siebziger Jahre prägt das 12. Kapitel. Die Gruppendynamik fand Einzug in die Hochschulen und die Ausbildung. Geißler und Hege gelingt es, die meisten therapeutischen Ansätze in einem Buch für die Soziale Arbeit aufzubereiten. Herausforderung für die Soziale Arbeit bleibt, therapeutische Elemente für das methodische Arbeiten zu übersetzen. Dargestellt wird dies am Beispiel der sozialpädagogischen Familienhilfe. Der Abschnitt wird beendet mit der Selbsthilfe und deren Verhältnis zu Professionellen und der Friedensbewegung. Die sozialen Bewegungen dieser Zeit enthalten für den Autor wichtige Lehren. Wenn wir sie, wie unser Klientel, ernst nehmen, „dann könnten wir durch das Studium der Studenten-Bewegung und der Sozialarbeiter-Bewegung lernen, die Funktionen unseres Berufes in der historischen Bewegung zunehmender sozialstaatlicher Interessen neu (und realistisch) zu bestimmen“ und von den weiteren Bewegungen lernen, unser methodisches Handlungsrepertoire zu erweitern.(S. 303)
Das letzte Kapitel, das erst in der letzten Auflage eingefügt
wurde, schließt den Band mit den postmodernen Verwerfungen ab, die
auch an der Sozialen Arbeit nicht spurlos vorüber gegangen sind. Die
Richtung des methodischen Arbeitens wird auf der Metaebene von drei
Strömungen bestimmt: der Professionalisierung der Gesprächsführung,
der systemischen Beratung und Organisationsentwicklung. Müller
geht auch kurz auf die Verwaltungsreformen und die neuen
Steuerungsmodelle und die Qualitätssicherung ein.
Der Autor
beendet das Buch mit einem Hinweis auf Alice Salomon, die die
Aufgabe der Sozialen Arbeit darin sieht, die Kunst des Lebens zu
lehren.
Diskussion
Der Autor schafft es anschaulich, geschichtliche Entwicklungen mit der Ausdifferenzierung der Methoden der Sozialen Arbeit zu verknüpfen. Damit eröffnet er dem Leser eine Vorstellung, wie Soziale Arbeit und ihr Handeln eng mit dem gesellschaftlichen Kontext verknüpft sind, in denen sie agiert. Besonders deutlich wird dies im Kapitel über die Soziale Arbeit im Nationalsozialismus.
Und eine zweite Perspektive eröffnet der geschichtliche Blick.
Beim Lesen der Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts
fragt man sich, was sich im vergangenen Jahrhundert bezüglich der
Lösung der sozialen Fragen gesellschaftlich verbessert hat. Immer
noch wird weltweit die Arbeitskraft vieler Menschen ausgebeutet.
Gleichzeitig bleibt offensichtlich, dass häufig Unternehmer ihre
üppigen Gewinne in Steueroasen vor dem Zugriff des Gemeinwohls in
Sicherheit bringen. Hier hat nicht nur die Politik versagt, sondern
auch die Soziale Arbeit als Profession zu wenig politischen Einfluss
und Wirkung gezeigt. Sie blieb jenseits der Verfeinerung ihrer
methodischen Instrumente in ihrer Rolle als Schmiermittel der
Gesellschaft gefangen. Als solches ist und war sie immer in Gefahr,
vor allem im Westen, das Leitsystem des kapitalistischen Marktes zu
stützen und dessen negativen Auswirkungen auf das Gemeinwohl zu
kompensieren.
Angesichts dieser Einsichten ist es zu bedauern,
dass in dieser Neuauflage die Geschichte des Sozialen und der
Methoden der Sozialen Arbeit immer noch Ende des letzten Jahrhunderts
endet. So bleibt nicht nur, wie es schon Hollstein-Brinkmann
in seiner Rezension der Ausgabe von 2006 angemerkt hat, „die
Methodengeschichte der letzten 20 Jahre auf dreißig Seiten
festgehalten“, sondern die Geschichte danach ausgeblendet. Dies ist
vor allem deshalb zu bedauern, weil seitdem die Methodenentwicklung
nur noch wenig Neues hervorbrachte und die Soziale Arbeit damit
beschäftigt war, wie sie sich in Zeiten neoliberalen Denkens
inhaltlich, methodisch und strukturell behaupten kann.
Zudem hätte ich mir einen genaueren Bezug von Methoden und dem Auftrag Sozialer Arbeit gewünscht. Vor allem letzterem widmet der Autor nur an wenigen Stellen sparsame Ausführungen. Aber die Methoden der Sozialen Arbeit sind nicht nur eingebettet in einen geschichtlichen Kontext, sondern immer in Beug zu setzen, welchem Zweck sie dienen. Und hier greift die einfache Replik auf die vorherrschenden Normen und Werte der einzelnen Zeitepochen zu kurz. Die Medizin hat immer einen Auftrag zu heilen, egal zu welcher Zeit. Aber wo liegt der Auftrag der Sozialen Arbeit? Macht man als letzten Konsens der Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit, die Lösung sozialer Probleme (Staub-Bernsaconi) oder die Gestaltung des Sozialen (Scheu) aus, dann kommt man nicht umhin, nachdenklich zu werden. Die Methodengeschichte der Sozialen Arbeit, wie sie Müller noch einmal neu aufgelegt hat, zeigt sich als ein Ergebnis eines vielschichtigen Engagements von Einzelpersonen (die ersten Kapitel) oder als Reaktion auf Bürgerbewegungen (Kapitel 5,8 und 11). Was nicht aufscheint ist die aktive Rolle der Sozialen Arbeit bei der Gestaltung des Sozialen und der Gesellschaft. Dies ist auf der einen Seite enttäuschend, weil der Sozialen Arbeit aus sich heraus offensichtlich politische Gestaltungskraft fehlt. Auf der anderen Seite macht es hoffnungsfroh, dass es ihr doch noch gelingen möge, mit ihren Methoden einen entscheidenden Beitrag zur nachhaltigen Lösung sozialer Probleme zu leisten.
Fazit
Wir alle sind eingewoben in den Fluss der Geschichte. Das Buch von Müller verbindet die Methodenentwicklung der Sozialen Arbeit mit diesem Fluss. Nach wie vor ist es für alle Studierenden und interessierten Praktiker ein unverzichtbares Werk, um die Methodengeschichte der Sozialen Arbeit in ihrem geschichtlichen Eingebettet-Sein zu verstehen.
Rezension von
Dr. Winfried Leisgang
Dipl. Soz.-Päd., Master of Social Work (M.S.W.)
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