Alfred Nordheim, Klaus Antoni (Hrsg.): Grenzüberschreitungen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.09.2013

Alfred Nordheim, Klaus Antoni (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Der Mensch im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik.
transcript
(Bielefeld) 2013.
245 Seiten.
ISBN 978-3-8376-2260-7.
D: 28,80 EUR,
A: 29,70 EUR,
CH: 37,90 sFr.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
Begrenzung und Entgrenzung sind Geschwister
„Erkenne deine Grenzen“, dieser Ratschlag hat seine Berechtigung wie seine Tücken. In der aristotelischen Philosophie wird den Lebewesen „eine Grenze und ein Maß der Größe und des Wachstums“ zugesprochen, „weil sie eine Seele haben, die das Wachstum reguliert“ (J. Hübner, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 438). Und bei der Frage, was den Menschen gelingen lässt, werden Be- und Entgrenzungen im Dasein als notwendige und unverzichtbare Paradigmen formuliert (Rainer Funk, Entgrenzung des Menschen, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14189.php). Grenzen zu erkennen und zu überschreiten sind demnach intellektuelle Balanceakte des Lebens, die den realistischen und den kritischen Geist herausfordern. Sie beginnen als Erfahrungssuche und bedürfen des kontinuierlichen Bemühens um Lebensweisheit (Edward O. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15272.php).
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Im wissenschaftlichen Diskurs kommt den Phänomenen von Grenzziehungen und -überschreitungen in vielerlei Hinsicht eine unverzichtbare Bedeutung zu; sowohl beim disziplinären und interdisziplinären Forschen und Lehren, als auch bei den Identitäts- und Definitionsbemühungen um Inter- und Transdisziplinarität, um Vernetzung und problemorientierte Clusterbildung.
An der Eberhand Karls Universität in Tübingen fand im Wintersemester 2011/12 im Rahmen des Studium Generale eine Ringvorlesung zum Thema “Grenzüberschreitungen – der Mensch im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik“ statt. Der Lehrstuhlinhaber für Molekularbiologie am Interfakultären Institut für Zellbiologie, Alfred Nordheim, und der Kultur- und Sozialwissenschaftler Klaus Antoni geben den Sammelband mit dem Ziel heraus, „anhand einer Reihe ganz konkreter Fragestellungen den gegenwärtigen Stand der Wissenschaften in den Zeiten von Grenzüberschreitung und Entgrenzung auszuloten“.
Aufbau und Inhalt
Die Anordnung der Vorlesungsbeiträge: Der Neurowissenschaftler Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung und Ernst Strüngmann-Instituts für Neurowissenschaften, setzt sich in seinem Beitrag „Widersprüche zwischen Intuition und neurobiologischen Erkenntnissen“ mit Behauptungen der Neurobiologie auseinander. Gehirne sind weder Uhrwerke noch Rechenmaschinen, sondern komplexe Netzwerkverknüpfungen mit nichtlinearen Dynamiken. Dies führt dazu, dass vom Gehirn gesteuerte und veranlasste Entscheidungen in bestimmten Situationen einmalig und nicht prognostizierbar sind; was zu der aufregenden Erkenntnis führt, dass zum Zeitpunkt der vom Menschen getätigten Entscheidung keine Alternative möglich war. Diese neurobiologische Ausstattung trägt (zum Glück!) jedoch nicht dazu bei, dass Menschen, wie dies gelegentlich behauptet wird, völlig abhängig von Gehirn“Entscheidungen“ seien; vielmehr kommt die Neurowissenschaft zu der Auffassung, dass es nicht festgelegt sei, wie sich das Gehirn ein weiteres Mal entscheiden würde: „Somit bleibt Raum für Veränderung, Kreativität und Neues“.
Alfred Nordheim kündigt mit seinem Beitrag „Von der Gen- zur Genomtechnologie“ an, dass die synthetische Biologie „ante portas“ stünde. Mit der molekül-bezogenen Experimentalanalytik unternimmt der Mensch eine Grenzüberschreitung in seinem bisherigen Bewusstsein und Verhältnis zur Natur. Durch gezielte Veränderung des Erbmaterials von Zellen durch die Gentechnologie und Genomsequenzierung werden molekulargenetische Prozesse in Gang gesetzt, die die wissenschaftliche Suche „nach dem Minimalsatz essenzieller Gene eines Organismus“ verspricht und teilweise bereits ermöglicht. Diese grundlegend neue Qualität der menschlichen Einflussnahme auf natürliche Prozesse mit der Technologie der „DNA-Klonierung“ birgt ohne Zweifel Risiken und Missbrauchsgefahren. Ethisch-moralische und juristische Implikationen sind deshalb erforderlich, um in der Grundlagen- und Begleitforschung kritische Reflexion und Verantwortungsbewusstsein walten zu lassen.
Der Tübinger Psychiater und Psychotherapeut Günther Klosinski nimmt Stellung zu „psychischen Grenzüberschreitungen“, indem über die Psychodynamik von Ausnahmezuständen reflektiert. Er geht ein auf die Entwicklung der Suizidalität bei Jugendlichen, verbunden mit den Verunsicherungen, ein tragfähiges Ich- und Weltbild zu finden; auf die Psychodynamik selbstverletzenden und selbstzerstörerischen Verhaltens; er stellt in Fallbeispielen Phänomene und Psychodynamiken von sogenannten Dissoziationen bei Menschen in Ausnahmezuständen vor; er diskutiert die verschiedenen Suchtformen, wie sie sich bei Jugendlichen zeigen und von ihnen praktiziert werden; und er thematisiert Ergebnisse von Analysen und Untersuchungen zur Psychodynamik von jugendlichen Brandstiftern und Mördern. Daraus bildet er sechs Thesen und entwickelt fünf Konversionsformen als Analyse-, Therapie- und Lösungswege für Theorie und Praxis.
Rainer Funk, Tübinger Psychoanalytiker mit eigener Praxis und Leiter des Erich-Fromm-Archivs, fragt mit seinem Beitrag „Die Persönlichkeit neu erfinden“ nach den Gründen, Ursachen und Auswirkungen, dass im individuellen und gesellschaftlichen Leben der Menschen Grenzüberschreitungen vorgenommen und Entgrenzungen angestrebt werden: „Es geht um eine psychologische Erklärung des Phänomens, dass immer mehr Menschen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln von dem Wunsch geleitet werden, Grenzen zu beseitigen“. Dieses erst einmal als freiheitliches, demokratisches Bewusstsein sich artikulierende Streben, Grenzen zu überschreiten, bedarf des Habacht, damit auch die eigene Persönlichkeit zu entgrenzen.
Der Hohenheimer Mediziner und Lehrstuhlinhaber für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft, Hans Konrad Biesalski, plädiert für „Gesunde Ernährung“, indem er die Illusion und Wunschvorstellung von der gesunden Ernährung durch mentale und intellektuelle „Nischen“- Bildungen wirklich werden lässt. Ohne Zweifel stellt diese Herausforderung, angesichts der Ernährungsgewohnheiten und der Gen-Umwelt-Interaktionen, eine Grenzüberschreitung dar. Der Autor tritt nicht für Rezepturen und Verordnungen ein, sondern dafür, „eine genotypisch personalisierte Ernährung zu entwickeln, die dem Einzelnen sagt, was er essen muss, um unter Berücksichtigung seiner individuellen Genetik gesund alt zu werden“.
Der Tübinger Sprachwissenschaftler Gerhard Jäger zeigt auf, „Wie die Bioinformatik hilft, Sprachgeschichte zu rekonstruieren“. Die Zusammenschau von Evolutionsbiologie und historischer Linguistik stellt für die Sprachwissenschaft ein vielversprechendes Instrumentarium zur Verfügung, mit dem es gelingt, mit bioinformatischen Methoden und Algorithmen Informationen über Sprachentwicklungen und Systematisierungen zu erhalten.
Der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche referiert mit seinem Beitrag „Grenzüberschreitung und kulturelle Norm“ über europäische Erfahrungen in der Moderne. „Normengehorsam“ und „Normendurchbrechung“ sind legitime und notwendige Prozesse im Kulturdiskurs: „Ohne Normenverstoß kein gesellschaftlicher Fortschritt, ohne Normengehorsam keine funktionsfähige Gesellschaft und kein funktionsfähiger Staat“. Anhand von verschiedenen Entwicklungen, z. B. bei den Umbrüchen im Universitätsstudium und im studentischen Leben durch die Bologna-Reform, verdeutlicht der Autor die positiven und negativen Wirkungen und zeigt das sich verändernde Bewusstsein und das grenzüberschreitende Regeldenken und -handeln auf.
Der Philosoph Niels Weidtmann unternimmt mit seinem Referat „Grenzüberschreitungen zwischen Kulturen“ den Versuch, den Begriff der Interkulturalität kritisch zu hinterfragen. Er plädiert dafür, den Kulturbegriff nicht mehr substanzialistisch, sondern relational zu verstehen: „Kulturen sind Relationen… zwischen der Vielzahl unterschiedlicher Handlungsfelder, in denen sich eine Gesellschaft bewegt“. Im Ordnungs- und Grenzüberschreitungsdiskurs bedeutet dies, dass Kulturen „Zwischensphären“ sind, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Ordnungen ergeben und sich somit als „Inter-Kulturalität“ darstellen.
Klaus Antoni macht mit seinem Beitrag „Globalisierung und Retraditionalisierung“ darauf aufmerksam, dass die dialektischen Prozesse von Entgrenzung vs. Abgrenzung sich in der Aktualität der globalisierten Welt in besonderer Weise zeigen. Am Beispiel der japanischen Gesellschaftsentwicklung und angesichts der „Fukushima“ – Katastrophe diskutiert der Autor exemplarisch den sich dort vollziehenden Wertewandel. Das „limitische Symbol“ der kaiserlichen Macht, die einerseits als Grenzziehung zur Bevölkerung und andererseits als kollektive Identität nach innen wirkt, stellt sich somit als anerkannte und akzeptierte Refeudalisierung und Retraditionalisierung dar (vgl. dazu auch: Hermann Mückler / Gerald Faschingeder, Hg., Tradition und Traditionalismus. Zur Instrumentalisierung eines Identitätskonzepts, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12770.php; Raphaela von Weichs, Die Rückkehr der Könige von Uganda. Politische Kultur und Moderne in Afrika, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15372.php).
Der Tübingen Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer entwirft eine „Hermeneutik der Grenze“ und plädiert für mundane Dimensionen einer Weltliteratur. Wenn literarische Texte „verdichtete, zugespitzte Inszenierungen von Wirklichkeiten“ sind, haben universitäre Implantationen die Aufgabe, literarische Grenzüberschreitungen als laborale „Surplus“ zu ermöglichen, einzuüben und plausibel zu entwickeln.
Fazit
Grenzüberschreitungen als Wagnis und Wahrhaftmachung des Menschseins, in all den imponderabilen Zwängen und Begrenzungen, das sind Herausforderungen im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik, also der lokal- und globalgesellschaftlichen Verantwortung. Die sich in der liquide entwickelten wissenschaftlichen Welt bedarf es neuer Fragen und Antworten auf die alten Menschheitsdinge. Die Erosion alter Grenzen und Grenzerfahrungen verlangt nach dem Öffnen neuer Räume und wissenschaftlicher, kooperativer Zugänge. Die im Sammelband veröffentlichten interdisziplinären Beiträge der Tübinger Vorlesungsreihe sind Fingerzeige und Richtungsanzeiger für wissenschaftliches Denken, Lehren und Forschen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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